19 | Überraschung!
┊┊Claptone - No Eyes feat. Jaw┊┊
Ich bin so wütend auf Felix, dass ich zuerst vollkommen in die andere Richtung renne. Die Häuser werden immer schicker und größer. Fasziniert betrachte ich die Balkone. Erst als mein Bus an mir vorbeifährt, bemerke ich, dass ich seit zehn Minuten der falschen Route folge. Theatralisch werfe ich die Hände in die Luft und kann ein lautes Aufstöhnen nicht verhindern. Der ältere Mann, den ich gerade überholt habe, als ich Richtung Niemandsland gelaufen bin, sieht mich irritiert und leicht angeekelt an, als ich ihm entgegenlaufe.
"Bitte überfallen Sie mich nicht! Ich habe nur wenig Geld dabei und das möchte ich dafür nutzen, meinen Enkelkindern etwas zu kaufen. Bitte tun Sie mir nichts!", ruft er und hebt die Hände zitternd in die Luft, als hätte jemand eine Pistole in der Hand mit der auf ihn gezielt wird. Er sieht mich ängstlich an und ich habe Angst, dass er gleich anfängt zu weinen.
Ich runzle die Stirn, sehe mich vollkommen verwirrt um, entdecke aber niemanden hinter mir - oder sonst irgendwo. Moment - meint er mich? Mh, ja. Ich glaube, er meint mich.
"Meinen Sie mich?", erkundige ich mich und deute mit meinem Zeigefinger auf mich.
Der ältere Mann nickt und reißt seine Augen auf. "Ja!" Die wenigen Haare die er noch auf dem Kopf hat, wippen ganz hektisch auf und ab. Hannah, nicht lachen. Bitte reiß dich zusammen.
Ich schüttle meinen Kopf, um ihn zu beschwichtigen. "Nein, nein. Keine Angst. Ich bin nur auf der Suche nach der blöden Bushaltestelle und habe gerade jetzt bemerkt, dass ich wohl in die falsche Richtung laufe. Deswegen gucke ich vermutlich wie ein Serienkiller. Aber ich hatte eigentlich nicht vor, Ihnen etwas zu tun." Ich setze mein süßestes Lächeln auf und mustere ihn.
Seine Schuhe sind weiß und an der Fußspitze etwas dreckig. Seine ockerfarbene Leinenhose wird von einem burgunderroten Pulli getoppt. Er sieht aus wie jemand aus einem Yachtclub. Jemand mit einer großen wunderschönen weißen Jacht mit vielen tollen Extras. Der tut bestimmt nur so, als hätte er kein Geld.
"Achso", ruft er erleichtert und deutet mit seinen Armen in die Richtung hinter sich. "Zur Bushaltestelle müssen Sie da lang. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag. Adieu!"
"Vielen Dank. Ciao!", rufe ich und laufe zur Bushaltestelle.
Der Bus ist um diese Uhrzeit voller älterer Menschen, die unter der Woche keine Zeit zum Einkaufen haben und deswegen Samstagmorgen fahren müssen. Ich seufze und versuche, mich in meiner Jacke einzukuscheln. Die Sitzplätze in diesem Bus sind total rar gesät. Vor allem weil die Herrschaften alle alleine auf Zweierbänken sitzen - und zwar außen. Und ich fühle mich nicht in der Lage, zu fragen, ob ich mich hinsetzen darf. Besser gesagt, ich möchte nicht fragen. Manchmal gehe ich Menschen wirklich lieber aus dem Weg. Und manchmal ist das wirklich besser so. Also lehne ich mich an die mit eigenartigen Flecken versehene Glasscheibe und halte mich an der mit tausend Viren verseuchten Stange fest wie eine Ertrinkende. Immer wieder gehen mir Felix' Worte durch den Kopf und schon allein beim Echo seiner Stimme möchte ich den Bus mit meiner Kotze füllen. Aber ich glaube, das würde den Omis und Opis nicht gefallen. Und mir auch nicht, wenn ich ehrlich bin. Wer fährt schon gerne in einem Bus voller Kotze mit. Bah. Als ich endlich zu Hause bin, werfe ich mich sofort auf mein heißgeliebtes, weiches - und ungemachtes - Bett und lasse mich von Musik beschallen. Ich brauche etwas anderes in meinem Ohr als Felix' ekelhafte Worte. Die Musik lullt mich ein und bringt mich zumindest für einige Zeit auf andere Gedanken. Ich vermisse das Tanzen. Und den Bass, den man im ganzen Körper spüren kann. Ich vermisse es, mich unter Menschen zu mischen und einfach einen Abend lang nichts denken und fühlen zu müssen.
Den Abend verbringe ich mit - wie soll es auch anders sein - Netflix, Dean und Sam und einer Packung Schokorosinen. Endlich essen! Ich bin gerne unter Menschen, sehr gerne. Aber ich liebe auch Tage, an denen ich einfach nur für mich sein kann. Zeit, in der ich vollkommen alleine sein kann, nachdenken, Serien schauen, schlafen - oder auch nur essen kann. Essen ist wundervoll, nicht wahr, kleines Nilpferd. Lass uns unsere Kurven füllen. Heissa Propeissa!
Irgendwann habe ich genug von Netflix und klappe den Laptop zu. Müde werfe ich einen Blick auf die Uhr und stelle fest, dass es bereits kurz vor Mitternacht ist. Also mache ich mich fertig für das Bett. Während ich meine Zähne putze, stelle ich mich an mein Fenster und betrachte den Himmel. Aber außer Wolken und einem leichten silbernen Schimmer ist nichts zu erkennen. Du wirst als einsame Katzen- und Hundelady sterben, Hannah. Kurz durchfährt mich ein Stich in der Brust, weil ich an Idas Worte denken muss. Ich knipse meine Lichterkette aus und starre eine Weile in die Dunkelheit. Was ist, wenn ich mir durch meine Angst wirklich meine Zukunft verbaue? Mit den Gedanken schlafe ich schließlich ein.
Am nächsten Morgen fühle ich mich total gerädert. Müde schlurfe ich ins Bad und stelle mich erst einmal unter die Dusche. Das lauwarme Wasser weckt mich etwas aus meiner Trance. Als ich mich nach dem Duschen eincreme, bin ich zumindest etwas wacher als vorher. Heute ist Sonntag. Also ist eine Jogginghose Pflicht. Nachdem ich mein Wahloutfit angezogen habe, mache ich mich auf den schweren, weiten Weg in die Küche. Hunger! Ich fühle mich so schwach. Als hätte ich fünf Jahre nichts gegessen. Seufzend öffne ich die Küchentür und betrete das Himmelsreich.
"Guten Morgen, du Schlafmütze. Auch schon wach?" Papa lehnt am Kühlschrank und rührt mit dem Löffel in seiner Kaffeetasse. Das Geräusch versetzt mich in Aufruhr. Kaffee. Ich möchte auch Kaffee. Aus dem Schrank nehme ich mir meine Lieblingstasse und fülle sie mit dem braunen heißen Getränk.
"Heute ist Sonntag, Papa. Da darf man länger schlafen als bis Sieben!" Mein Rühren passt sich Papas Rhythmus an.
"Als ich in deinem Alter war, war ich sonntags um fünf schon auf dem Feld."
Ich verschlucke mich an dem Kaffee. "Auf welchem Feld?"
"Auf dem Fußballfeld." Papa grinst.
"Das zählt nicht. Das ist ja wie Ausschlafen."
"Nein, mein Kind. Das waren harte Zeiten damals. Da ging es noch um Ehre."
"Sicher, Papa." Ich rolle grinsend mit den Augen. "Wann frühstücken wir?"
Er lacht und macht den Weg zum Kühlschrank frei. "Deine Mama und Nelli sind Brötchen holen. Wir können in der Zeit schon mal den Tisch decken."
"Wir?", erkundige ich mich.
"Damit meine ich dich. Ich fühle mich heute so schwach", antwortet er, täuscht einen Ohnmachtsanfall vor und setzt sich auf einen Stuhl.
Seufzend öffne ich den Geschirrschrank und stelle die Teller auf den Tisch. "Weißt du, Papa. Du könntest wenigstens die Teller an die jeweiligen Plätze stellen. Das schafft man auch im Sitzen."
Er schüttelt vehement den Kopf. "Nein, ich fühle mich so schwach. Meine Arme könnten nicht einmal ein Blatt heben." Theatralisch legt er sich die Hand an die Stirn. Unmöglich dieser Mann. Und er soll über 40 sein?
"Ich hoffe, ich werde nicht so, wenn ich alt bin", bemerke ich und stelle die Dinge aus dem Kühlschrank auf den Tisch. Papas Lieblingskäse lasse ich bewusst im Kühlschrank liegen.
"Wo ist mein Cheddar?", möchte er auch sofort wissen.
"Ich weiß nicht, Papa. Vermutlich hat Mama vergessen, einen zu kaufen."
Der Stuhl kratzt über den Boden und sofort steht Papa hinter mir am Kühlschrank. Bevor er einen Blick hineinwerfen kann, schließe ich den Schrank und stelle die anderen Gegenstände grinsend auf den Tisch.
"Also Hannah. So schwer war der ja doch jetzt nicht zu finden. Du kleines blindes Huhn." Papa winkt mit dem Käse vor meinem Gesicht herum und ich bin kurz davor, ihn wegzuschlagen. Ich hasse es, wenn mir jemand mit irgendwas vor dem Gesicht rumwinkt.
Kurze Zeit später taucht auch Mama mit Nelli auf, die sich sofort auf mich stürzt.
"Hannah. Guck, Mama und ich haben Brötchen gekauft und Nachtisch. Kuchen. Wir hatten ja schon lange keinen Kuchen mehr. Du magst Kuchen ja auch so wie ich, gell?" Freudestrahlend hält sie das Kuchenpaket in die Luft.
Ich streiche ihr über die Wange. "Aber ja, mein Herz. Kuchen ist ja auch wundervoll. Fast so wundervoll wie Pizza. Kuchen und Pizza sind toll. Essen ist toll. Los, wir müssen endlich essen, ich habe Hunger!"
Wir setzen uns an den Tisch und eine Weile ist nur das Geklapper des Besteckes auf den Tellern zu hören.
"Hannah, heute beim Bäcker war ein Freund von dir. Er hat gesagt, ich soll dir liebe Grüße ausrichten, dass du daran denken sollst, was er dir letztens im Bus gesagt hat." Mama sieht mich mit hochgezogenen Augenbrauen und schiefgelegtem Kopf abwartend an.
"Oh, ach. Danke", sage ich leise, mit einem dumpfen Gefühl im Magen.
"Sein Name war Nils, Mama. Er hat mir eine Schokoerdbeere geschenkt." Nelli strahlt mich freudig an und mir wird augeblicklich schlecht. Soll das eine leise Drohung sein? Verdammt. Wie kann ich verhindern, dass er meiner Familie zu nah kommt? Ich hatte nie wirklich Angst vor ihm. Aber scheinbar sollte ich ihn ernster nehmen. Fruchteis, verdammtes. Ich würde alles tun um meine Familie zu beschützen.
"Hannah? Ist alles in Ordnung? Du bist kreidebleich", stellt Mama fest und legt mir ihre kühle Hand an die Stirn. Lüg, Han. Denk dir was aus, schnell!
"Ja, alles gut. Mir ist nur gerade eingefallen, dass ich nächste Woche mit Felix dieses Projekt vorstellen muss und ich bin einfach schon so aufgeregt." Ich setze ein hoffentlich fröhliches Grinsen auf und stopfe mir schnell ein Stück meines Brötchens in den Mund.
Nach dem Frühstück verziehe ich mich noch ein wenig in mein Zimmer. Wir haben einige Hausaufgaben, die ich noch bis nächste Woche erledigen sollte. Also versuche ich mich zu konzentrieren.
"Hannah wollen wir malen?", Nelli streckt mir nach dem Mittagessen, das aus selbstgemachten Burgern und Salat bestand, Papier und Buntstifte entgegen und ich lege mein Handy weg, auf dem ich gerade interessante Mitmenschen auf Instagram ausspioniere.
"Klar, gern. Was wollen wir denn malen?", möchte ich wissen und schnappe mir ein paar Buntstifte.
"Wie wäre es mit eurem Papa in der goldenen Ritterrüstung?" Ich werfe einen Blick über Nellis Schulter und entdecke Papa, wie er in irgendwelche Möchtergern-Posen geht. Schnaubend werfe ich mit dem Radiergummi nach ihm, dem er nicht wirklich elegant ausweicht. Er bekommt ihn direkt gegen die Stirn und ich breche ich schallendes Nilpferdlachen aus.
Sein Gesicht wird ernst. Oh oh. Er bückt sich, greift nach dem Radiergummi und wirft ihn mit voller Wucht in meine Richtung. Nur leider hat er anscheinend vergessen, dass sich auch Nelli in diesem Raum befindet. Gerade als sie sich umdreht um zu sehen, was Papa da veranstaltet, trifft sie der Radiergummi mitten auf der Stirn und fällt mit einem leisen Geräusch zu Boden. Nelli reißt die Augen auf und kann nicht sofort realisieren, was passiert ist. Aber ich sehe, dass sie tief Luft holt. Papa ist schneller zur Stelle als die Feuerwehr und nimmt sie hoch. In dem Moment fängt Nelli an zu schreien. Er verlässt mit ihr das Wohnzimmer, um die Stelle zu kühlen und um ihr danach ein Pflaster zu geben. Für Nelli sind Pflaster immer magische Heilgegenstände. Als würde die Wunde dadurch verschwinden, nur weil man ein Pflaster daraufklebt. Sie ist noch so süß. Ich hoffe, das bleibt für immer so.
Mein Handy kündigt eine neue Nachricht von Daniel an.
Daniel: Warum gehen Ameisen nicht in die Kirche?
Hannah: Ich weiß es nicht? Weil sie den Eingang nicht finden?
Es klingelt an der Tür. Herrgott, was ist denn jetzt los?
"Hannah, kannst du aufmachen?", Mama steht mit Händen voller Kartons vor mir und sieht mich hilfesuchend an. Also springe ich vom Stuhl auf um die Tür zu öffnen.
Mein Handy vibriert erneut und ich habe eine weitere Nachricht von Daniel.
Daniel: Nein. Weil sie InSekten sind.
Ich kann nicht anders und lache laut auf, weil dieser Witz so flach und dämlich ist, dass er schon wieder lustig ist. Doch als ich die Türe öffne stockt mein Lachen.
Und verwandelt sich in ein Lächeln.
"Hi", murmle ich verwundert.
"Hallo, Han Solo." Daniel grinst, was seine Augen funkeln lässt und seine Grübchen zum Vorschein bringt.
Ich habe ihn vermisst.
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