02 | Das typische Freitagschaos.

┊┊Holly Henry - Seven Nation Army┊┊

"Hannah, möchten Sie die Aufgabe bitte an der Tafel lösen?" Frau Hemstedt hält mir die Kreide so nah vor die Nase, dass ich mit Sicherheit einen weißen Punkt im Gesicht hätte, würde ich mich etwas vorbeugen. Und es ist noch nicht Karneval. Auch wenn Frau Hemstedt das anscheinend anders sieht, mit ihren Glitzerschuhen und ihrem komplett pinken Outfit.

"Ja, Hannah. Beweg deinen hübschen Hintern an die Tafel, damit wir ihn sehen können." Nils feixt und grinst mich dreckig an. Sein bester Freund Felix sitzt neben ihm und grinst ebenfalls, dann fällt sein Blick auf Ida, die neben mir sitzt und plötzlich ist sein Block wieder sehr interessant. Ich rolle mit den Augen, stehe auf und schnappe mir die Kreide. Meine Hände zittern, denn ich bin wahnsinnig nervös.

"Nils, anstatt sich auf Hannahs Körper zu konzentrieren, sollten sie sich besser auf ihre Noten fokussieren, wenn ich mir ihre so ansehe. Ihnen würde etwas mehr Beteiligung also sicherlich nicht schaden."

Ich höre nur ein leises Grummeln und bin froh, dass ich mit dem Gesicht zur Tafel stehe, damit ich ungeniert grinsen kann. Doch das Grinsen verschwindet ziemlich schnell wieder, als ich die Aufgabe sehe, der ich mich nun stellen soll. Am liebsten hätte ich jetzt den Unsichbarkeitsmantel von Harry Potter in meinem Besitz, unter dem ich mich verstecken kann. Laut seufzend lege ich den Kopf in den Nacken und mustere die Decke.

Frau Hemstedt tritt neben mich und mustert mich, ehe sie ebenfalls an die Decke sieht.

"Da oben werden Sie die Lösung nicht finden, Hannah."

Ach nein. Ich dachte, die ist da oben festgetackert. Wie dein Mitleid für arme Schüler, Frau Lehrerin. Ich rolle mit den Augen und muss mich zurückhalten, ihr die blöde weiße Kreide nicht in die Nase zu stopfen. Schließlich versuche ich, einen Ansatz zu finden und hoffe darauf, dass Frau Hemstedt irgendwann Mitleid hat und mich erlöst. Bitte, bitte schick mich wieder auf meinen Platz. Und als ich Minuten später noch immer nicht den richtigen Ansatz gefunden habe und wie eine Irre diese komischen Zahlen ansehe, die vor meinen Augen schon Cha-Cha-Cha tanzen, entlässt sie mich doch wieder aus ihren grausigen Klauen. Seufzend lasse ich mich wieder auf meinen Stuhl fallen.

"Mensch, Hannah. Das war doch gar nicht so schwer", flüstert Ida mir zu, als sich Katja an die Tafel des Grauens traut und die Lösung innerhalb weniger Minuten aufschreibt.

"Ich hasse Mathe. Das weißt du", flüstere ich zurück und kann nicht verhindern, dass meine Stimme gegen Ende kein Flüstern mehr ist, sondern ein scharfes Fauchen. Und sofort durchbricht die Stimme unserer Lehrerin unsere kleine Schutzmauer, bestehend aus Büchern und Ordnern, die wir zur Abwehr vor uns aufgestellt haben. Manche unserer Lehrer spucken nämlich.

"Hannah, wenn Sie sich mehr auf den Unterricht konzentrieren würden, stünde ihre Versetzung nicht so in Gefahr."

Mir rutscht das Herz in die Hose. Verdammt. Denn nicht nur in Mathe bin ich eine Katastrophe. Chemie hat es mir genauso angetan. Ich verstehe einfach nicht, was diese Formeln von mir wollen. Während sie zu Ida sprechen, halten sie mir gegenüber ein striktes Schweigegelübde. Ich brauche in mindestens einem Fach eine 4 um versetzt zu werden. Andernfalls werde ich nicht in die 13. Klasse versetzt. Und dann wäre der Teufel los. Und wie er los wäre. Ich schlucke. Zwar weiß ich, dass mein Vater mich liebt, aber er ist sehr, sehr streng, was meine Noten angeht.

"Entschuldigen Sie, Frau Hemstedt", sage ich kleinlaut. Nils hinter mir lacht und ich werde immer kleiner in meinem Stuhl. Auch jetzt könnte ich den Unsichtbarkeitsumhang gebrauchen. Warum habe ich nie meinen Hogwarts-Brief bekommen?  Verdammt, ich wünschte, ich könnte dem hier entfliehen und lernen, wie man strengen Lehrern wie unserer Mathelehrerin das Herz weichklopft.

"Haben Sie sich eigentlich schon überlegt, wie Sie Ihre Note ausgleichen?"

Langsam hebe ich meinen Blick, der bis gerade eben noch fest auf den Tisch geheftet war. Angst schleicht sich in mein Herz und lässt es zittern. Langsam und argwöhnisch schüttel ich meinen Kopf.

"Gut, ich habe eine Idee für Sie. Sie werden ein Referat halten. Mit einem anderen Schüler, dem es ähnlich geht." Ihr Blick fällt auf die hintere Reihe, in Nils' Ecke.

Oh Gott. Ich drehe mich zu Nils um und muss mich zurückhalten, ihm nicht mein Pausenbrot vor die Füße zu erbrechen. Doch er zieht nur eine Augenbraue nach oben und schüttelt merklich den Kopf. Ja, schüttel du nur. Aber nicht zu dolle, sonst klackert die Erbse in deinem Schädel zu laut gegen die Gehirnwände. Das würde den Unterricht stören.

"Nicht ich, Prinzessin", sagt er und zwinkert mich an. Bah. Er wackelt unruhig mit seinen langen Beinen. Mich macht das nervös.

"Felix, ich denke, es wäre gut, wenn Sie und Hannah zusammen ein Referat ausarbeiten." Frau Hemstedt geht an den Tisch und notiert etwas auf ein Blatt Papier. Ihr Stift kritzelt laut über das Weiß und ich bekomme eine Gänsehaut. Felix? Ich habe noch nie wirklich ein Wort mit ihm gesprochen. Dadurch, dass er Nils' bester Freund ist, habe ich darin auch noch nie eine große Notwendigkeit gesehen. Nils hat nicht nur eine große Klappe, nein. Er ist jemand, mit dem man sich besser nicht anlegt. Nils ist dieser typische Junge aus reichem Hause, dessen Vater die Hebel der Schule in den Händen hält. Weil alle vor ihm Angst haben und Nils somit alles durchgehen lassen. Dementsprechend kann sich Nils alles erlauben. Und ich meine wirklich alles. Er ist ein Arsch. Felix mischt sich nicht wirklich ein, wenn Nils seine krummen Dinger macht, aber er hält ihn auch nicht davon ab. Ich frage mich, ob Felix auch so ein Arsch ist? Langsam drehe ich mich um und werfe einen Blick auf ihn, aber er würdigt mich keinen Blickes. Stattdessen grinst Nils mich feixend an. Ich verziehe das Gesicht zu einer Grimasse und drehe mich wieder um. Er sollte mich nicht so anschauen, ansonsten kann ich nicht dafür garantieren, dass seine weißen Schuhe weiß bleiben.

"So schlimm wird das bestimmt nicht." Ida versucht mich zu beruhigen. 

Ich muss kurz auflachen.

"Wir können gerne tauschen. Da ich Nils' offen erklärte Feindin bin, kann auch Felix mich nicht leiden. Das liegt ja auf der Hand, Idaleinchen." Entnervt sehe ich sie an.

"Sie sollten sich zusammentun und sich ein Thema überlegen, meine Herrschaften." Frau Hemstedt sieht Felix und mich mahnend an. Kurze Zeit später klingelt es zur kleinen Pause und wir verlassen das Klassenzimmer. Ich bin so in meinen Gedanken, dass ich gar nicht mitbekomme, wie ich fast in jemanden hineinlaufe. Als ich aufsehe, erkenne ich Max.

"Hey, Hannah." Er wirft einen Blick auf Ida und grinst. "Hey, Ida." Er mustert Ida von oben bis unten, die unter seinem Blick weich wird, wie Wackelpudding. Wenn Max so weitermachen würde, könnte ich Ida als grüne Nachspeise in eine Schüssel stopfen und so nach Hause tragen.

Ich räuspere mich und schnappe mir Idas Hand. Eigentlich ist Ida nicht auf den Mund gefallen. Aber sobald Max vor ihr steht, wird sie zu einer stummen Puppe. Diese Verliebtheit ist echt ekelhaft. Bah.

"Max, wir gehen heute ins 'Flat'. Komm doch auch mit? Dann könnt ihr das hier", ich mache eine ausladende Armbewegung zwischen den beiden, "weiterführen." Ich zwinkere und ziehe Ida mit mir mit.

"Hannah. Warte." Aber es ist nicht Max' Stimme, die mich aufhält. Es ist Felix, wie ich sehe, als ich mich umdrehe. Fragend sehe ich ihn an und verlagere mein Gewicht auf den anderen Fuß, während ich ungeduldig mit der linken Fußspitze auf den Boden tappe.

"Ja?", frage ich geistesgegenwärtig.

"Wir könnten uns ja morgen treffen, um das Thema auszusuchen?" Er sieht mir kurz in die Augen und mustert dann Ida, die neben mir steht und in ihr Handy tippt.

Ich überlege eine Sekunde. Dann darf ich heute nicht abstürzen, falls wir ins 'Flat' gehen. Aber andererseits kann es ja auch nicht schaden, wenn du einmal an einem Samstag keinen Kater hast.

"Einverstanden."

Ida sieht von ihrem Handy auf und wirft mir einen fragenden Blick zu, den ich mit hochgezogenen Augenbrauen quittiere. Jetzt guck nicht so. Ich kann auch mal Spaß ohne Alkohol haben. Als könnte sie meine Gedanken lesen, grinst Ida und widmet sich wieder ihrem Handy.

"Gut. Dann brauche ich bitte deine Nummer, damit ich dir meine Adresse schicken kann. Oder du mir deine. Je nachdem, wo du es machen willst."

Das klingt so zweideutig, dass ich versuche, nicht laut loszulachen.

"Wir können es bei dir machen", sage ich und kann mir das Grinsen nicht verkneifen. Ich bin so kindisch. Herausfordernd sehe ich Felix an, der lächelnd den Kopf schüttelt. Wir tauschen kurz die Nummern aus und dann zieht mich Ida auch schon weiter.

In der Toilette breche ich in lautes Lachen aus.

"Wo du es machen willst." Ich lache. "Verstehst du? Das ist so herrlich zweideutig." Ich kichere und sehe Ida erwartungsvoll an. Sie versucht, mich ernst anzusehen, aber schon bald muss auch sie grinsen.

"Hannah. Du bist so bescheuert."

"Ich weiß. Aber genau deswegen magst du mich ja so."

Ida drückt mich grinsend an sich und ich falle in ihre Umarmung wie eine Ertrinkende.


Einige Stunden später stehen wir vor dem Spiegel in Idas Badezimmer und machen uns für das Ausgehen fertig. Die Mascara ärgert mich und trägt mehr Schwarz auf meinem Lid auf als auf meinen Wimpern. Aber das war schon immer so. Wütend werfe ich die Bürste in das Waschbecken, woraufhin sich das Schwarz auch noch auf dem strahlenden Weiß des Beckens verteilt. Ich stöhne entnervt auf und schlage die Hände vor mein Gesicht.

Ida lacht. Ich höre ein kurzes Scheppern, Wasser und die Armreifen an ihren Armen, die leise klimpern.

"Komm her, Han. Ich mach das."

Ich verziehe meinen Mund zu einem Schmollmund und trotte langsam zu ihr. Kurz werfe ich einen Blick auf das Waschbecken, aber es ist wieder strahlend weiß. Sie hat einen Putzfimmel.

Ida sieht bezaubernd aus. Durch ihre Make-Up-Künste strahlen ihre Augen wie tausend blaue Diamanten. Ihr schwarzes Kleid umschmeichelt ihre Figur und passt wunderbar zu ihren blonden Haaren. Ich trage nur eine schwarze, enge Jeans und ein Band-Shirt von Nirvana, darüber eine leichte Jacke. Ich gehe ohne Jacke nie aus dem Haus. Nie. Gosh, Hannah. Du bist so Mainstream und möchtegerncool mit deinem Shirt. Ida gibt mir Anweisungen, während sie mich schminkt. Sie duftet nach ihrem Lieblingsparfum und das erinnert mich daran, dass ich mich auch noch einsprühen muss. Ich habe irgendwie immer die Sorge, dass ich stinke. Vor allem, wenn ich tanze.

"So, fertig, Prinzessin." Ida legt die Mascarabürste weg und dreht mich zum Spiegel.

"Ja, ganz passabel. Gehen wir."

Sie sieht mich verdutzt an, während ich keine Miene verziehe. Aber aufgrund ihres Gesichtausdruckes kann ich nicht lange an mich halten und breche in Lachen aus.

"Du bist so süß, wenn du so guckst. Wie ein kleines Erdmännchen." Ich gehe in Deckung und laufe aus dem Badezimmer, als sie versucht, mir ein Handtuch nachzuwerfen.

"Wenigstens laufe ich nicht wie eine Ente!", ruft sie mir hinterher.

"Enten sind aber auch toll", rufe ich zurück.

Vor allem in süß-sauer-Soße.

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