Klassenfahrt
Einmal fuhren wir auf Klassenfahrt. Nach Berlin. Ich hatte überlegt, einfach einen auf krank zu machen, denn der Gedanke, mit den Mädchen aus meiner Klasse in einem Zimmer schlafen zu müssen, machte mich schon im Vornerein unglaublich fertig. Ich würde ihnen schutzlos ausgeliefert sein.
Nach unserem Besuch im Dom durften wir unsere Zeit frei einteilen. Luisa und ihre Freundinnen zogen gackernd zum Kurfürsten Damm los, wo es viele Shoppingmöglichkeiten geben sollte. Wir waren froh, dass wir sie erstmal los waren. Viktor und ich waren beide ziemlich erschöpft von dem stundenlangen durch die Stadt laufen und langweilige Sehenswürdigkeiten angucken. So blieben wir auf der großen Wiese vor dem Dom sitzen.
»Irgendwie sind Großstädte echt nicht mein Ding«, meinte ich, während ich meinen Kopf auf meinem rotschwarz karierten Rucksack bettete. Ich ließ meinen Blick über die vielen Menschen schweifen, die hier chillten. Die Wiese war ausgetreten, es stank nach Hundepisse und überall lagen leere Kippen und Bierdosen herum.
»Ich vermiss die Fabrik jetzt halt schon«, stimmte Viktor mir zu, ohne seinen Blick zu heben. Wie so oft lag in seinem Schoß ein zerfleddertes Buch, über das er seine Augen fliegen ließ. Ab und an sah er auf, um mir eine Stelle vorzulesen, die ihm besonders gefiel. Dann sprachen wir darüber.
Ich aß einen Apfel, während die Sonne vom Himmel knallte. Wir beide hatten meine Kopfhörer in den Ohren und hörten mit meinem pinken MP3-Player ein Album von Metallica. Master of Puppets, meine liebste Scheibe von ihnen.
Ein paar Meter von uns entfernt hatte sich eine Gruppe Jungs niedergelassen. Sie hatten einen Ghettoblaster dabei, aus dem laute Hip-Hop-Musik zu uns rüberklang. Irgendein Song, der sich nur darum drehte, wie lang der Schwanz des Rappers war, wie viele Bitches er fickte und wie viel Kohle er machte. So ein Schwachsinn.
Ausgelassen stieß die Gruppe mit ihren Bierflaschen an, Gelächter klang zu uns herüber. Irgendwie sorgte ihre Anwesenheit dafür, dass ich mich ein wenig unwohl fühlte. Zu groß war meine Sorge, dass sie sich über mich lustig machen würden.
»Die hast du safe nicht gefickt. Im Leben nicht«, lachte ein Kerl mit breiten Muskeln, die er in einem Tanktop zur Schau stellte, und einer Baseball-Cap auf dem Kopf.
»Ich schwör das, ey, okay?« Beleidigt sah der andere Typ ihn an und zog an seiner Kippe. Er hatte ein südländisches Aussehen, wirkte ein wenig jünger und schien in meinem Alter zu sein.
Ich wandte meinen Blick wieder ab. Auch wenn Viktor hier war, machte mich die Gruppe irgendwie nervös. Erneut biss ich in meinen Apfel. Spürte, dass Viktor seinen Blick hob und mich ansah. Auf seinen Lippen lag ein aufmunterndes Lächeln, als hätte er genau gemerkt, was in mir vorging.
Ich reagierte mit einem leichten Grinsen, ehe das Buch voll seine Aufmerksamkeit auf sich zog.
»Wir reden hier von Jays Schwester, Alter. Nicht von irgendwem. Von Jay«, führten die beiden ihre Diskussion fort, so lautstark, dass ich dem gar nicht entkommen konnte. »Und du bist einfach nur'n Kerl mit zu großer Fresse.«
»Was erzählt Leonardo wieder?«, mischte sich ein Dritter ein. »Hat er wieder Kylie Jenner gefickt?«
»Ne, aber fast.« Der Baseballtyp lachte höhnisch auf.
»Boah, Leute, ihr seid solche Idioten«, fuhr der Typ, der wohl Leonardo hieß, die beiden an. Aggressivität lag in seiner Stimme. Er drückte seine Bierdose zusammen und schmiss sie schwungvoll über die Wiese.
»Ich verstehe Menschen nicht«, meinte Viktor, der meine Aufmerksamkeit wieder auf sich zog. »Wie sie alle immer krasser als die anderen sein wollen. Sich immer übertrumpfen wollen. Also klar, da steckt wahrscheinlich viel anderes zusammen, aber irgendwie basiert doch unsere Gesellschaft schon von klein auf darauf, dass das ein Konkurrenzkampf ist. Das müsste doch nicht so sein.«
Ich zuckte mit den Schultern, während ich den Apfelstumpf abknabberte. Ich konnte es schon nachvollziehen. Wie oft hatte ich darum gekämpft, dass Luisa und ihre Freundinnen mich cool finden würden.
»Woran denkst du?«, fragte mich Viktor. Sein Blick blieb auf mir ruhen.
Ich wollte gerade zu einer Antwort ansetzen, da erklang eine Stimme. »Hey, Leute, was geht?«
Es war der dunkelhaarige Typ, der gerade die ganze Zeit herumgelabert hatte. Leonardo oder so. Was wollte der hier?
Viktor warf ihm einen misstrauischen Blick zu. Doch ehe einer von uns beiden reagieren konnte, quatschte der Typ drauf los. »Wisst ihr, ich habe gerade beschlossen, dass meine Freunde scheiße sind. Kein Bock mit denen rumzuhängen, okay?« Er lachte und trank einen tiefen Schluck aus seiner Bierdose. Ich musste an Luisa denken, die sich bestimmt das Maul darüber zerreißen würde, dass die schon mittags am Saufen waren. Oder fände sie das bei solchen Typen schon wieder cool? Keine Ahnung.
»Verständlich, ich hätte auch keinen Bock darauf«, meinte Viktor und sah zu den Freunden des Kerls, von denen zwei miteinander angefangen hatten zu raufen.
»Ist halt so hier ... ich mein, was will man machen, wenns scheiße ist, nach Hause zu gehen?« Leonardo lachte und zuckte mit den Schultern. An seinem Handgelenk trug er einen schmutzigen Verband, der sich schon ein wenig gelöst hatte.
Viktor warf mir einen kurzen Blick zu. Mir war klar, dass er sich vergewisserte, dass es mir gut ging, ob er etwas an der Situation ändern sollte. Ich lächelte. Seine bekümmerte Art berührte mich jedes Mal aufs Neue.
»Und was macht ihr hier?«, fragte der Typ weiter. Aus der Hosentasche seiner kurzen, ziemlich abgenutzten Jeans holte er einen Tabakbeutel hervor.
»Klassenfahrt«, erklärte Viktor, Sein Buch hielt er noch immer in der Hand.
»Ja, cool. Wir fahren dieses Jahr auch, irgendwohin nach Bayern oder so. Köln glaube ich, und eigentlich fänd ich das voll geil, da mitzugehen. War nämlich sonst immer nur zuhause in Italien halt und sonst noch nie wirklich verreist. Naja, auf jeden Fall macht meine Mutter voll den Stress, dass ich nicht mitgeh, wenn ich die Neunte nicht schaff. Voll der Bullshit. Dabei würde das Amt das sogar zahlen«, quatschte der Kerl ohne Punkt und Komma drauf los. Währenddessen drehte er sich eine Zigarette. Dachte ich zumindest, bis er auch ein kleines Tütchen hervorholte. War das Gras?
Ich sah auf den Apfelstumpf, den ich ins Gras gelegt habe, nahm ihn in die Hand und ließ ihn zurück in die Wiese fallen. Neue Leute sorgten automatisch dafür, dass ich mich unwohl fühlte.
»Ich heiß übrigens Leonardo«, stellte sich der Typ vor. »Aber ey, spart euch diesen Spruch diCaprio. Boah, ne, kann ich nicht mehr hören.« Er verschloss den Joint mit seinen Lippen, in denen er ein Piercing trug, und zündete ihn dann an. »Und ihr?«
Viktor nannte erst seinen, dann meinen Namen und deutete dabei auf mich.
Ich zerfetzte den Apfelstumpf in seine Einzelteile.
Leonardo hielt uns den Joint hin, nachdem er daran gezogen hatte. »Wollt ihr?«
Ich schüttelte den Kopf, während mein Blick an Viktor hängen blieben. Ob er schon einmal gekifft hatte? Alkohol getrunken hatte er ja auch schon früh. Vielleicht dann, wenn er sich wieder tagelang nicht blicken ließ, sich wo auch immer rumtrieb? Vielleicht steckte er auch mit anderen Leuten zusammen, wie mit diesem Kerl, mit dem ich Viktor neulich vor der Apotheke gesehen hatte. Dass er die Zeit, wenn er mal wieder nichts von sich hören ließ, daheim verbrachte, konnte ich mir nicht vorstellen. Auch jetzt war seine Miene verschlossen und ich konnte nicht zu ihm durchdringen, mir nicht vorstellen, was gerade in seinem Kopf abging. Wenn andere Leute dabei waren, war er meistens so. Oft fühlte es sich als, als stünde mit einem Mal eine riesige Mauer zwischen uns.
Eine Mauer, die immer öfter auch auftauchte, wenn wir allein waren ...
Viktor warf mir einen kurzen Blick zu, dann lehnte auch er ab. »Nee, lass mal«, meinte er mit einer wegwerfenden Handbewegung.
Hätte er zugegriffen, wäre er allein gewesen? Und wenn schon, das war doch sein gutes Recht, warum machte ich mir darüber überhaupt Gedanken?
Vielleicht weil mein bester Freund mir schon wieder so unglaublich fremd vorkam ...
»Ernsthaft jetzt?« Leonardo schaute uns überrascht an. »Kommt schon, seid keine so Langweiler. Ey, als ob so'n bisschen Gras mal jemandem geschadet hat!« Er hielt uns den Joint hin.
»Ich wär mal nicht so vorschnell damit, andere Leute zu verurteilen. Ihre Entscheidungen zu respektieren, fänd ich 'ne gute Idee«, meinte Viktor und sah Leonardo an. Die beiden hätten unterschiedlicher nicht sein können. Leonardo mit seiner aufgedrehten, hibbeligen Art und dem Drang, cool zu sein – und Viktor, der immer so ruhig war und vollkommen über solchen Dingen zu stehen schien.
»Ihr solltet euch echt mal entspannen, ganz ehrlich, ey«, seufzte Leonardo und zog an dem Joint. »Macht doch kein' Spaß, so zu leben, ist viel zu anstrengend.«
»Du machst Spaß im Leben daran fest, ob man Drogen nimmt?« Viktor hob seine Augenbrauen.
»Nein, Alter. Hab ich mal voll nich gesagt, okay? Nur dass ihr chillen sollt ... den Rest hast du integriert.«
»Integriert?«
»Ja, dings halt. Was man in Deutsch immer macht. Mit Gedichten und so, weißte, was ich mein?«
»Mhm.« Viktor nickte und zündete sich seine Zigarette an. »Interpretiert.«
»Is egal, is doch eh alles das gleiche, Alter«, lachte Leonardo und wolle gerade fortfahren, etwas zu sagen, hielt aber inne, als sein Name gerufen wurde. Ein Moment später ließ sich der Typ mit Baseball-Cap bei uns nieder. Er trug weite Hip-Hop-Klamotten und hatte eine Wodkflasche bei sich, seine Ausstrahlung ließ mich verdammt unwohl fühlen. Er wirkte wie ein Schlägertyp. Wie jemand, der sich nur zum Spaß prügelte. Im Gegensatz zu Leonardo war er breit gebaut und hatte viele Muskeln. Aber solange Viktor hier war, brauchte ich keine Angst haben.
»Ey, Leonardo, was hängst'n jetzt mit den Freaks hier rum?«, lachte der Typ und nahm Leonardo seinen Joint ab.
»Weil du mein Herz gebrochen hast«, sagte Leonardo theatralisch und fasste sich auf seine Brust. »Weil ihr alle eine verfickte Enttäuschung seid.«
»Ey, du da«, sprach mich der Kerl an. Ich registrierte, wie Viktors Haltung angespannter wurde. Bereit mich zu verteidigen.
»Was?«, fragte ich und ich hasste es, dass meine Stimme nicht fest klang.
»Was'n los mit deinen Augen? Bisse ne Hexe oder sowas?«, lachte er.
»Lass sie in Ruhe!«, sagte Viktor scharf, in seinem Blick lag Bestimmtheit. Entschlossenheit dazu, dass er mich immer verteidigen würde.
Ich warf ihm ein dankbares Lächeln zu.
»Hey, Mann, alles cool. Ich tu deiner Perle nichts, digga«, lachte der Typ. Leonardo holte sich seinen Joint zurück. »Obwohl, ficken würde ich die schon. Ich mein, das wär halt ne besondere Errungenschaft. Mal was anderes.« Er lachte dreckig.
Viktor sah ihn mit einem offen drohenden Blick an. »Sei ruhig jetzt, sonst wirst du es bereuen.« Sein russischer Akzent klang ein wenig stärker als sonst und seine harte Miene ließ keinen Zweifel darauf, dass er jedes Wort ernst meinte. Aber das würde doch einen Typen wie ihn nicht zur Besinnung bringen. Der war doch nur auf eine Prügelei aus! Mein Herzschlag ging schneller, während ich es mit der Angst zu tun bekam. Wie würde es wohl weitergehen?
Doch falsch gedacht.
Irgendwas hatte Viktor an sich, dass der Typ ihn respektierte.
Er lachte nur. »Ist doch alles cool, Kumpel«, sagte er und öffnete seine Wodkaflasche, aus der er einen großen Schluck trank. »Ey, Leonardo«, wandte er sich an seinen Kumpel und packte dessen Handgelenk, um das er den Verband trug. Abrupt riss Leonardo es ihm weg. »Was warst'n jetzt eigentlich im Krankenhaus?«
»Alter. Das hab ich doch schon mal erzählt. Wir haben gesoffen und dann bin ich dort am Xenon an so 'ner scheiß Eisenstange hängen geblieben. Hab mir ne Blutvergiftung geholt, dann haben die mich da behalten.«
»Sergej sagt, du wolltest dich umbringen. Hat er gehört. Dass du dir die Pulsadern aufgeschnitten hast. Und dass dein Bruder dich gefunden hat.«
»Sergej labert Scheiße.« Leonardo kaute auf seiner Unterlippe herum. »Willst du mir glauben oder so nem Wichser, der die ganze Zeit drauf ist?« Seine Unterlippe begann zu bluten und er wischte sich mit dem Handrücken darüber.
Der andere Kerl lachte und klopfte ihm auf den Rücken. »Ich weiß doch, dass du n verkackter Idiot bist, aber so'n gestörter Psycho bisse dann doch nicht. So ein wehleidiges Emo-Kind, das sich riztt. Alter, nee.«
Leonardo leckte das Blut von der Unterlippe, er verdammt gehetzt auf einmal, und wandte sich wieder an uns. »Alter, der labert so ein Müll«, lachte er. »Cazzo bugiardo, dannazione.« Er spuckte auf den Boden. »Aber, ey, scheiß drauf. Lass lieber über Saufen reden. Das immer geil.«
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