Kapitel 8
Am nächsten Morgen konnte ich mich nicht mehr bewegen. Jeder Muskel meines Körpers schmerzte und machte allein das Aufsetzen im Bett zu einer Tortur. Wie würde ich jemals den Silberschmied von meinem noblen Blut überzeugen können, wenn ich es nicht einmal fertig brachte gerade zu stehen?
Als erstes schleppte ich mich in die Küche, wo mich neben Ren dasselbe Frühstück erwartete wie vorgestern. Haferbrei. Mich gelüstete nach etwas Delikaterem – Früchte aus dem Süden, Rührei mit Speck, Pfannkuchen – doch ich beschwerte mich nicht, nahm mir eine Schüssel voll und setzte mich an denselben Platz wie gestern Abend.
»Hast du gut geschlafen?«, fragte Ren, der eine dampfende Tasse schwarzen Tees vor sich stehen hatte. Er hatte sich rasiert und auch sein Haar war kürzer. Er sah wirklich gut aus. Trotzdem täuschte das nicht über die Augenringe hinweg, die sich auf seiner dunklen Haut noch dunkler abzeichneten. Es würde mich nicht wundern, wenn er vollends auf Schlaf verzichtet hatte.
»Ja, aber die Reise steckt mir noch in den Knochen. Oder besser gesagt den Muskeln.« Ich sparte mir die Gegenfrage.
»Ich hätte die zwei Tage ohne Sattel nicht so stoisch ertragen«, sagte Ren.
Ich wunderte mich, dass er mir so einfach ein Kompliment aussprach. Für diese Nettigkeit erwartete er bestimmt etwas im Gegenzug.
Trotz des Misstrauens, das sich gerade in mir einnistete und zur Wachsamkeit riet, bedankte ich mich und fügte hinzu: »Ich glaube, dass mich heute weit Schlimmeres erwartet.«
Ren schüttelte den Kopf. »Du musst nichts tun, was du nicht schon mehrere Male in deinem Leben getan hast. Kleidung und Schmuck kaufen liegt sicherlich nicht über deinen Kompetenzen. Wenn doch, hätte ich mich sehr in dir getäuscht und das ist etwas, das ich für noch unwahrscheinlicher halte.«
Ich verdrehte die Augen, beschloss aber, seine Arroganz zugunsten dessen, was ich mir gestern vorgenommen hatte zu erfragen, unkommentiert zu lassen. »Wenn wir schon bei meinen Kompetenzen sind... wieso hast du gestern Abend nicht meine Fähigkeit angepriesen, mit Leichtigkeit jeden Feuerstein ersetzen zu können?«
Ren schmunzelte kurz, wurde dann jedoch ernst. »Es wäre besser damit zu warten, bis sich alle an dich gewöhnt haben. Magie – und mag sie noch so klein sein – ist hier ein heikles Thema.«
»Und das heißt genau?«
»Ich bin nicht in der Position dir das zu sagen. Ebenso wenig, wie ich den anderen erzählen werde, was dich zu uns getrieben hat.«
Ich nickte. Es würde mir ohnehin keine Schwierigkeiten bereiten, nicht zu erwähnen, dass ich die Schule der weisen Frauen genossen hatte. Schließlich hatten wir Wichtigeres zu bereden.
»Wann kommt Tilly?«, änderte ich das Gesprächsthema.
»Sie müsste jeden Moment hier sein«, antwortete Ren und nippte an seinem Tee, um ein Gähnen zurückzuhalten.
Ich ignorierte es. Es war nicht an mir, darüber zu urteilen, was er die Nacht über getrieben und ausgeheckt hatte. Lieber widmete ich mich meinem Haferbrei, solange ich noch die Zeit dafür hatte.
Ren forderte nichts mehr als Gegenleistung für sein Kompliment ein, sondern leistete mir stumm Gesellschaft.
***
Silberburg bei Tag war eine andere Welt. Die Straßen waren gefüllt von Menschenmassen, die von einem Ort zum anderen strömten, tratschten, lachten und die Stadt mit Leben erfüllten. Die bedrückende Stimmung der Nacht war verschwunden, Hektik ausgetauscht gegen regen Eifer. Zumindest schien es so.
»Die Leute sind alle so unaufmerksam«, erklärte mir Tilly, als wir Seite an Seite Richtung mittlerem Marktplatz schlenderten. »Man braucht nur eine Hand auszustrecken und das Geld fällt einem in die Finger.«
Ich schmunzelte, doch die Ernsthaftigkeit, mit der das Mädchen sprach, stimmte mich nachdenklich. Niemand in diesem Alter sollte von Verbrechen reden als handele es sich um etwas Alltägliches wie Einkaufen. Es war eine Sache, dass ihr Bruder den kriminellen Weg aus der Armut gewählt hatte, eine andere, sie dort mit hineinzuziehen. Wäre unser heutiger Auftrag nicht nur auf das Beschaffen von Informationen ausgelegt, hätte ich es mit meinem Gewissen nicht vereinbaren können, ihn von Tilly ausführen zu lassen.
Zunächst allerdings galt es, sich Banalerem zu widmen.
»Das Geschäft ist in der nächsten Gasse auf der rechten Straßenseite«, erklärte Tilly, als wir uns gerade durch eine Menschentraube quetschten, die sich hinter einem liegengebliebenen Karren gebildet hatte. Von Rens Haus aus hatten wir uns etwa zehn Minuten lang bergab bewegt und befanden uns gerade im mittleren Teil der Stadt.
»Da vorn ist der Markt.« Tilly deutete weiter die Straße entlang, wo sich etwa hundert Meter vor uns die Häuserkluft öffnete.
Viel konnte ich davon allerdings nicht mehr sehen, denn vorher bogen wir in die eben von Tilly angesprochene Gasse ab, wo der Menschenstrom ein wenig nachließ und ich erst einmal durchatmete. Wenn ich durch Königsstadt schlenderte war ich stets umgeben von einer Gruppe Wachen, die mir den Weg freihielten.
Es schien jedoch nicht nur an meiner fehlenden Gewöhnung liegen, dass ich erleichtert darum war, die Hauptstraße verlassen zu haben, denn auch Tilly atmete erleichtert auf, bevor sie auf ein hölzernes Ladenschild wies, das Nadel und Faden zeigte. Hoffentlich würde ich dort auch ein vorgefertigtes Kleid finden.
»Mariella meinte, dass du hier am ehesten ein Kleid finden wirst, das sich für den Besuch bei einem edlen Silberschmied eignet«, sagte Tilly, während sie schon zur Eingangstür eilte.
Ich selbst blieb zurück, unsicher, ob ich schon bereit war, das Geschäft zu betreten. Was, wenn man mich für eine Diebin hielt? Oder noch schlimmer, erkannte, wer ich war?
Tilly sah mich skeptisch an und stemmte die Arme in die schmalen Hüften, als ich mich nicht bewegte. »Willst du etwa einen Rückzieher machen?«
Nein, eigentlich hatte das für mich nie zur Debatte gestanden. Die letzten Tage hatte ich ohne lange zu zaudern Entscheidungen getroffen, von denen ich nie gedacht hätte, dass sie Teil meines Lebens würden. Jetzt stand mir etwas bevor, das ich schon etliche Male getan hatte – das an Alltäglichkeit nicht zu überbieten war. Wieso also entwickelte sich ausgerechnet jetzt eine Barriere in meinem Kopf, die mich daran hindern wollte, den Laden zu betreten?
»Komm schon«, meinte Tilly, nun drängender. »Wir müssen heute noch mehr erledigen.«
Dieses Mädchen war so viel erwachsener, als ich es in ihrem Alter gewesen war. Womöglich sogar erwachsener als ich jetzt war. Eigentlich sollte ich ihr Vorbild sein und nicht umgekehrt.
Ich schluckte meine Zweifel herunter, ging zur Tür und trat in den Schneiderladen ein. Die Fenster waren nicht groß, weswegen das Licht im Raum dämmrig war. Trotzdem reichte es aus, um die unzähligen Farben der Stoffbahnen zu offenbaren, die in einem deckenhohen Regal an der Rückwand gestapelt waren. Was die Materialien anging, konnte ich noch nichts beurteilen, doch zumindest die Farbvielfalt musste vor der der persönlichen Schneiderin meiner Mutter nicht zurückschrecken.
»Guten Tag, was kann ich für Euch tun?«, erklang die Stimme eines Mannes und ich wandte meinen Blick zu einer Tür, die wohl ins Hinterzimmer führte. Dort stand ein in einen schlichten Anzug gekleideter Mann um die vierzig. Ihm fehlte es vollkommen an der Exzentrik, die ich bis jetzt immer an den anderen Mitgliedern seiner Zunft wahrgenommen hatte.
»Guten Tag«, erwiderte ich seine Begrüßung, nicht nur, um den Regeln der Höflichkeit genüge zu tun, sondern vor allem, um Zeit zu schinden, mein Anliegen zu formulieren. »Ich benötige am besten sofort ein Kleid, um mich endlich dieses Reisedresses hier«, ich deutete an mir herab, »entledigen zu können. Ihr wurdet mir von einer Bekannten empfohlen und hoffe, Ihr könnte mir Abhilfe verschaffen.«
Mein Gesuch garnierte ich mit einem Lächeln.
»Natürlich«, antwortete der Schneider und kam auf mich zu. Ich bemerkte, wie sein geschulter Blick jedes Detail meines Körpers musterte, obwohl ich mich noch nicht einmal meinen Mantel abgelegt hatte.
Tilly blieb hinter mir, stumm.
»Ich nehme an, Ihr benötigt zunächst ein Alltagskleid?«, fuhr der Schneider fort.
»Ja, am besten im Stile Eurer Kleidung.« Ich wollte kein Geld an etwas zu Pompöses verschwenden, das ich in dieser Stadt nie wieder würde tragen können ohne aufzufallen.
»Ich denke, ich sollte etwas Derartiges auf Lager haben. Einen kurzen Augenblick, bitte, meine Dame.«
Schon verschwand der Schneider wieder in seinem Hinterzimmer und ich fand Zeit nach Tilly zu sehen. Diese musterte mit großen Augen die Stoffbahnen, welche mich eben schon überrascht hatten.
»Gefallen sie dir?«, fragte ich mit einem Blick auf das dunkelgraue Kleid, das gerade noch so Tillys Knie bedeckte und an der Brust zu spannen begann.
»Ja, schon...« Sie biss sich auf die Unterlippe. »Ich müsste Vic fragen. Er will keine Almosen bekommen.«
Ich seufzte. Natürlich hätte ich ahnen können, dass Tillys Bruder so dachte. Andernfalls wäre er wohl nicht so erpicht darauf, Ren weiterhin zu unterstützen, denn dieser hätte ihm sicherlich auch eine Abfindung mit dem nötigen Betrag gegeben.
»Ein Kleid und Almosen sind zwei verschiedene Dinge. Außerdem verdienst du deinen eigenen Lohn für deine Arbeit.«
»Ich weiß nicht...« Tilly blickte sehnsüchtig zu den Stoffbahnen. Auf einmal war sie doch genau wie ich in ihrem Alter.
»Lass dir Zeit zum Überlegen und wir kommen später wieder darauf zurück«, sagte ich, denn zu sehr drängen wollte ich doch nicht.
Der Schneider kam mit zwei Kleidern über dem Arm zurück. Beide waren von dunklem Blau. Eine unaufdringliche Farbe. Hoffentlich passte mir eines von ihnen.
»Ihr könnt Euch dort umziehen«, meinte der Schneider und deutete auf einen Paravent in der Ecke des Zimmers.
Ich hatte mich noch nie im vordersten Raum eines Geschäfts umgezogen und obwohl ich vor den Blicken aller geschützt wäre, die hereinkamen, konnte ich mich mit dem Gedanken nicht anfreunden. Eine Nacht unter freiem Himmel hatte wohl nicht genügt, um mich von aller angewöhnten Eitelkeit zu befreien. Dennoch biss ich – zumindest metaphorisch – die Zähne zusammen und nahm beide Kleider, um sie anzuprobieren.
Das Erste war schon ein Stück zu kurz. Als ich hinter dem Paravent hervortrat, versuchte ich dies durch herunterziehen des Rocks vergeblich zu verbergen.
»Das nächste«, kommentierte der Schneider nur.
Tilly blieb still.
Das zweite Kleid saß deutlich besser und war mir nur an der Taille etwas zu weit. Das würde der Schneider mit ein paar geschickten Nadelstichen gut verbergen können.
Als ich nun wieder in den Raum trat, tat sich sofort ein Lächeln auf seinem Gesicht auf. »Perfekt.«
Ich nickte. »Ja. Ich danke Euch sehr. Jetzt kann ich die nächsten Tage über beruhigt auf die Straße gehen.«
»Das scheint Ihr auch in Eurer vorherigen Ausstattung getan zu haben.«
Dem Mann entging wohl nichts. Immerhin hatte er noch nicht nach meinem Namen gefragt. Äußerst unüblich, aber für meine aktuelle Situation angenehm und vielleicht war es eine Eigenart dieser Stadt.
»Ich trage trotzdem lieber etwas, das Anlass und Umgebung angemessen ist.«
»Das verstehe ich vollkommen«, erwiderte der Schneider. »Besteht noch Bedarf an weiteren Stücken?«
Ich bejahte, teilte ihm allerdings mit, dass ich ein anderes Mal wiederkommen würde, um diese in Auftrag zu geben. Glücklicherweise schien er dadurch nicht gekränkt, sondern passte schnell mein neues Kleid in Nachtblau an.
Es hatte einen simplen Schnitt. Nichts, was man mit einem ausfallenden Unterrock trug. Dafür war der Stoff von bester Qualität, weich und strapazierfähig. Dieses Kleid war nicht nur eines, das ich heute Nachmittag benötigte, nein, es würde mir hoffentlich auch in der kommenden Zeit hier in Silberburg gute Dienste leisten.
Nachdem ich den geringsten Preis, den ich jemals für ein Kleidungsstück hatte geben müssen, gezahlt hatte, verließen Tilly und ich den Schneiderladen und machten uns wieder auf den Weg zu Rens Haus.
»Du bist wirklich schön in dem Kleid«, sagte Tilly auf einmal, kurz bevor wir die Haustür erreicht hatten.
Den bisherigen Weg über hatten wir geschwiegen. Ich wollte sie nicht zu einem Gespräch zwingen, das ihr möglicherweise unangenehm war.
»Danke«, sagte ich und konnte mich eines breiten Grinsens nicht erwehren.
Im Palast hatte nie jemand mein Aussehen gelobt, wenn ich nicht gerade frisiert, geschminkt, mit Schmuck behangen und pompös eingekleidet war. Und selbst dann war es mir immer obligatorisch vorgekommen – als wäre das Kompliment nur eine Floskel. Tilly meinte es von Herzen und ich war ihr unendlich dankbar dafür.
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