Kapitel 23
Pegasus und Savana mümmelten friedlich ihr Heu, obwohl sie eigentlich auf Hummeln sitzen müssten, so lange wie sie nun schon hier im Innenhof standen. Vielleicht konnte ich Ren überreden, in den nächsten Tagen einen Ausritt zu unternehmen, wenn es nichts Dringlicheres zu erledigen gab. Das hatten nicht nur die Pferde, sondern vor allem ich dringend nötig.
Gedankenverloren streichelte ich meiner Stute über den Hals. Die gleichmäßige Bewegung beruhigte mich. Obwohl ich es nicht schaffte, meine Gedanken von meinem Unvermögen abzubringen, kam es mir auf einmal nicht mehr so schlimm vor. Ich hatte bei etwas versagt, das ich ohnehin nicht in der Lage war zu bewältigen. Ich konnte keine komplexere Magie üben, wie Männer keine Kinder zur Welt bringen konnten. Es lag in der Natur der Dinge.
Eine Weile stand ich einfach so da und vertrieb den Frust aus Körper und Geist, bis mir eine Sache einfiel, die Ren eben erwähnt hatte. Ich wollte nicht skeptisch sein, glaubte nicht daran, dass er ein Lügner war, so unglaubwürdig seine Geschichte auch schien, aber dennoch... Ich wollte nachsehen, ob er den Hirtenstab wirklich im Schuppen aufbewahrte.
Die Tür des Schuppens war durch das immer regnerischer werdende Wetter verzogen, sodass ich viel zu lange herumruckeln musste, bis der Riegel sich endlich aufschieben ließ. Als ich die Tür öffnete, kam mir zunächst vom Heu staubige Luft entgegen, die mich zwei Mal husten und die Augen reiben ließ. Der ganze Schuppen war voll mit Heu, um die Tiere so lange wie möglich davon zu ernähren. Der Hirtenstab musste entweder an der Seite oder hinten untergebracht sein.
An der rechten Wand erblickte ich tatsächlich etwas Hölzernes, das nicht die Wand selbst war. Ich kletterte auf das lose Heu, das unter meinem Gewicht nachgab, um aus der Nähe betrachten zu können, ob es sich wirklich um einen Hirtenstab handelte. Aus der Nähe betrachtet musste ich allerdings schnell feststellen, dass es sich um eine Harke handelte.
»Suchst du etwas?«, ertönte auf einmal eine Stimme hinter mir und ich fuhr so schnell herum, dass ich mir fast den Kopf an einem unglücklich positionierten Stützbalken stieß.
Ich spürte, wie mir das Blut in den Kopf schoss. Was erwartete Ren, dass ich hier suchte, nachdem er eben erst erzählt hatte, was es hier zu suchen gab?
Unbeholfen richtete ich mich auf und verschränkte die Arne vor der Brust. »Tu nicht so, als wüsstest du nicht ganz genau, was ich suche.«
Ren senkte den Blick. »Schuldig im Sinne der Anklage, aber ich dachte, das wäre ein guter Weg, das Gespräch zu eröffnen.«
»Du hast das Gespräch eröffnet, ja«, sagte ich gedehnt.
»Das freut mich.« Ren begann, die Ärmel seines Hemdes nach unten zu krempeln. »Dann biete ich dir jetzt meine Hilfe bei der Suche danach an.«
»Dafür krempelst du deine Ärmel nach unten?«
»Ich will nicht, dass mir das Heu in die ganzen Arme piekst«, erklärte Ren so würdevoll wie möglich.
Ich lachte dennoch laut los und benötigte einige Augenblicke, um mich wieder zu fangen. »Tut mir leid.«
»Tut es dir nicht.«
Ich zuckte schuldbewusst mit den Schultern. »Ich glaube, ich habe noch nie etwas Eitleres gehört.«
»Oh gut, ich mag es, wenn man von mir in Superlativen spricht«, sagte Ren und schien nicht im Geringsten gekränkt.
»Dann erwarte ich, dass du der schnellste Sucher bist«, sagte ich und trat einen Schritt zur Seite, damit Ren den Schuppen betreten konnte.
Ich lehnte mich an den Türrahmen und betrachtete Ren dabei, wie er über den Heuhaufen kletterte.
»Ich bin mir sicher, der Stab müsste in der hinteren Ecke sein«, teilte er mir halb hustend mit.
»Das ist natürlich sinnvoll«, sagte ich und war sehr froh, nicht mehr selbst durch die getrockneten Gräser kriechen zu müssen.
Ren ging nicht auf meine kleine Stichelei ein, sondern suchte weiter den Boden ab. Es dauerte nicht lang, da schien er etwas gefunden zu haben.
»Eine Nadel«, sagte er und hielt den kleinen metallenen Gegenstand hoch, den ich im gedimmten Licht, das im Schuppen herrschte, kaum erkennen konnte. »Ich habe nicht die geringste Ahnung, wie die hierhin kommt.«
»Hm... Vielleicht handelt es sich bei der Suche nach der Nadel im Heuhaufen gar nicht um ein Sprichwort, sondern eine uralte Prophezeiung und du bist der Auserwählte von... einer Nadel.«
»Sehr verlockend«, erwiderte Ren, kletterte wieder nach vorne und überreichte mir die Nadel. »Vielleicht überreiche ich dir hiermit unendliches Finderglück.«
»Solltest du das nicht lieber selbst behalten?«, hakte ich nach, woraufhin Ren sagte: »Ich bin nicht abergläubisch.«
Ich zog die Augenbrauen hoch. »Klang es danach, als hätte ich das mit der Prophezeiung ernstgemeint?«
»Nein, aber mir ist keine bessere Antwort eingefallen, da ich meine Energie ganz der Suche widmen will.« Damit begab Ren sich wieder in den Heuhaufen.
Während er weitersuchte, fiel mir auf einmal etwas ein. »Die weisen Frauen haben gerne über die Macht der Worte gesprochen. Ich weiß nicht, wie es sich mit Prophezeiungen verhält, aber Flüche funktionieren oft mit simplen Wortlauten, die manchmal Interpretationsspielraum lassen. Vielleicht könnte man ein Sprichwort wirklich in einen Fluch verwandeln. Oder einen Segen.«
»Interessant«, meinte Ren. Ich konnte nicht sicher sagen, ob er mir überhaupt zugehört hatte, sollte es aber auch nicht herausfinden, denn im nächsten Moment rief er: »Gefunden!«
Ren kam wieder nach vorn, reichte mir den Hirtenstab und ließ sich ins Heu fallen. »Ich hoffe, jetzt ist alles zu deiner Zufriedenheit.«
»Natürlich«, griff ich Rens Vorlage auf. »Deine Qualitäten als Gastgeber wurden hiermit ausreichend getestet.«
Leider ließ Ren mich nicht mit dieser Antwort davonkommen.
»Was denkst du wirklich, Janna? Glaubst du mir, weil du diese Requisite mit eigenen Augen siehst?«
Dass er das Wort Requisite gewählt hatte, machte mich neugierig, doch ich wollte nicht weiter darauf eingehen. Es war egal, ob die Geschichte, die er eben erzählt hatte, komplett, teilweise oder gar nicht der Wahrheit entsprach. Was zählte, war der Ausgangspunkt der Geschichte. Alle Taten, die er zuvor begangen hatte. Ich wünschte, es wäre mir gleich, wie Ren an sein Geld gekommen war, doch das wäre eine unerträgliche Lüge. Je länger ich darüber nachdachte, umso mehr wurde mir bewusst, dass es Dinge gab, die mich dazu bringen würden, auf der Stelle von hier zu verschwinden. Sollte Ren mich wieder mit Ausflüchten vertrösten, wusste ich nicht, wie ich das interpretieren und was ich weiterhin tun sollte.
Ren sah mich aufmerksam, aber nicht ungeduldig an.
»Was für Diebstähle hast du davor begangen?«, fragte ich schließlich.
Ren fragte nicht, worauf ich mich genau bezog. Er zögerte seine Antwort nicht weiter hinaus. »Als sich sechzehn war, war ich für eine Woche bei einem Freund zu Gast, der – um es bescheiden auszudrücken – besser situiert war als alle anderen Menschen, die ich bis dahin kennengelernt hatte. An einem Abend veranstalteten seine Eltern eine schrecklich öde Feier zu Ehren des Geburtstages seiner Großmutter. Wir saßen herum, langweilten uns und suchten nach einer Beschäftigung. Ich weiß gar nicht mehr genau, wer von uns mit der Idee aufwartete, die uns den Abend retten sollte, aber wir waren gleichsam idiotisch, sie für gut zu halten. Die alte Dame sollte einen kostbaren Diamanten geschenkt bekommen. Wir wollten ihn an uns bringen, um bestenfalls für einen kurzen Moment des Schocks zu sorgen und ihn dann auf mysteriöse Weise wieder auftauchen zu lassen.«
»Hätten wir uns damals getroffen, hätte ich dir den unschlagbaren Rat gegeben, dass Alkohol für unterhaltsame Eklats auf feinen Veranstaltungen sorgt«, warf ich ein.
»Tatsächlich spielte Alkohol eine wichtige Rolle«, sagte Ren. »Aber manchmal genügt es, wenn die anderen denken, man wäre betrunken.«
»Nimmst du dir gerade die Pointe vorweg?« Ich ließ mich neben ihn ins Heu sinken.
»Ja, sonst würde ich wahrscheinlich viel zu lang erzählen und du bekämst heute nichts anderes mehr zu hören als meine Lebensgeschichte.«
Ich zuckte mit den Schultern. »Ich schätze, es gibt Schlimmeres. Außerdem höre ich dir gerne zu.« Und das lag nicht nur am angenehmen Klang seiner Stimme.
Das Kompliment war mir über die Lippen gegangen, als wäre es nichts. Ich hatte nicht darüber nachgedacht, sondern es einfach gesagt, als es mir in den Sinn gekommen war. Erst jetzt, nachdem ich es ausgesprochen hatte, war ich auf einmal nicht mehr sicher, ob ich es mir nicht hätte verkneifen sollen. Was, wenn es ihm unangenehm war?
»Das wiederum höre ich gerne«, machte Ren meinen Zweifeln schnell einen Strich durch die Rechnung. Das Lächeln, das er mir schenkte, machte eindeutig, dass er es ernst meinte.
»Also, wie geht es weiter?«, fragte ich, obwohl ich mir bewusst war, dass die Geschichte diesen Moment wieder zunichtemachen könnte. Und das war das Letzte, was ich wollte, denn ich wollte nichts lieber, als dass es zwischen Ren und mir immer so war wie gerade. Ohne Zweifel.
»Der Diamant, den wir uns beschaffen wollten«, fuhr Ren fort, »wurde in einem ansonsten leerstehenden Gästezimmer im ersten Obergeschoss aufbewahrt. Zwei Männer bewachten ihn. Eigentlich hätte eine Person ausgereicht, doch man wollte sichergehen, dass die beiden Männer sich gegenseitig auf die Finger schauten, um Diebstahl ihrerseits zu verhindern. Als wären sie in der Lage, ein solch wertvolles Stück vom Anwesen zu schmuggeln und es dann an einen Hehler weiterzuverkaufen. Wie dem auch sei, wir mussten es an diesen beiden vorbeischaffen und gleichzeitig dafür sorgen, dass sie nicht merkten, dass das kostbare Stück abhandengekommen war. Ersteres ist nicht sonderlich schwierig, wenn man der Sohn des Hausherrn oder in dessen Begleitung ist. Letzteres ist allerdings kompliziert, wenn man keine originalgetreue Replik zur Hand hat. Der Diamant lag auf einem schneeweißen Samtkissen, um möglichst eindrucksvoll zur Schau gestellt zu werden, das wussten wir. Es musste also einen Grund geben, diesen nicht weiter offen aufzubewahren, bis er den Gästen präsentiert werden sollte. Deswegen beschlossen wir, den Diamanten in Gefahr zu bringen. Wir nahmen uns eine Flasche Whiskey, tranken jeder einen Schluck, damit unser Atem danach roch und taten so, als wären wir betrunken.«
»Von wem stammte dieser Plan?«
»Von mir«, antwortete Ren. Er sagte es erstaunlich bescheiden, als wollte er wirklich nur die Tatsache klarstellen und nicht wie sonst sich selbst in den Mittelpunkt rücken. »Ich überlegte, was wir taten, mein Freund sorgte dafür, dass es umgesetzt werden konnte. Es funktionierte ausgezeichnet. Wir taumelten in das Zimmer, in dessen Mitte der Diamant auf seinem Kissen thronte. Die beiden Wachen beäugten uns mit kritischen Blicken, doch sie wagten es zunächst nicht gegen den Sohn ihres Arbeitgebers vorzugehen. Dieser entschied sich aber dazu – scheinbar spontan – zum Diamanten zu gehen und diesen in die Hände zu nehmen. In diesem Moment schritten die Wachen ein. Einer hielt ihm am Ärmel fest. Er wehrte sich, sodass der andere helfen musste. ›Geht lieber nach draußen, junger Herr‹, sagten sie, während mein Freund wie zuvor besprochen lautstark protestierte. Er würde wieder hereinkommen, bis sie ihm erlaubten, den Diamanten eigenhändig zu seiner Großmutter zu tragen. Er spielte seine Rolle wirklich gut. Jetzt war es Zeit für meinen Vorschlag. ›Wenn ihr den Diamanten in eine Schatulle packt und ihm ihr eine leere gebt, wird er das sicherlich akzeptieren‹, raunte ich einem der beiden zu. Sie dachten nicht lang darüber nach, denn sie wollten sich jeglichen Ärger ersparen, der ihnen drohte. Ich nahm das kleine Kästchen, in dem der Diamant zuvor aufbewahrt worden war und ein weiteres, das glücklicherweise im Raum vorhanden war. Ich war so großzügig, mir einen Handschuh überzustreifen und den Diamanten in sein Kästchen zu legen, während das andere leerblieb. Den Wachen allerdings, die immer noch mit einem pöbelnden, vermeintlich Betrunkenen zugange waren, erzählte ich, ich habe ihn ins andere Kästchen gelegt, damit mein Freund mir glaubte, den Diamanten wirklich zu tragen. Sie waren naiv genug, brachten uns noch zur Tür, die sie hinter uns abschlossen und wir konnten mit dem Diamanten verschwinden.«
Ich runzelte die Stirn. »Diese Männer bewachten etwas das kostbarer war als alles, was sie innerhalb mehrerer Jahrhunderte verdienen würden zusammen und trotzdem haben sie nicht nachgeprüft, ob der Diamant wieder an Ort und Stelle war? Das ist nicht naiv, sondern dumm.«
»Sie hatten Angst vor den Konsequenzen, die ihnen blühten, wenn sie ihren jungen Herrn verärgerten. Gleichzeitig vertrauten sie mir genug, um nicht zu kontrollieren, ob der Diamant noch da war. Sie kamen gar nicht auf die Idee, dass wir ihn mit nach draußen nehmen könnten. Wozu auch? Er gehörte schließlich der Familie. Zugegeben, es war hochgepokert, aber wir beide waren nicht diejenigen, die Konsequenzen fürchten mussten. Eine verbale Rüge vielleicht oder ein Hausverbot für mich, aber nichts, was uns in ernsthafte Schwierigkeiten gebracht hätte und den Spaß nicht wert wäre.«
»Das klingt schrecklich verzogen«, meinte ich und versuchte mich zu entsinnen, jemals so etwas getan zu haben. Ich hatte mich als Kind über Diener beschwert, die mir verboten hatten noch etwas Süßes zu naschen oder dergleichen, aber ich hatte nie etwas mitgehen lassen. Bis vor zwei Wochen, als ich den Palast verlassen hatte, hieß das. Aber das war nicht von Langeweile motiviert gewesen.
»Wir waren schrecklich verzogen«, antwortete Ren. »Einen Diamanten aus einem Zimmer zu stehlen, ohne ihn endgültig entwenden zu wollen, ist keine ruhmreiche Tat und auch keine solche, die auf krimineller Ebene Beachtung verdient. Aber sie war der Anfang. Allerdings geht es noch weiter. Irgendwann ist nämlich doch aufgefallen, dass der Diamant verschwunden ist und der Vater meines Freundes ist wie eine Furie durchs Haus gestürmt, um uns zu suchen, denn wir waren die einzigen, die bis auf die Wachen im Raum gewesen waren. Während mein Freund seinen Vater ablenkte und weiterhin die Rolle des Betrunkenen spielte, stahl ich mich in das mittlerweile unbewachte Zimmer zurück und platzierte den Diamanten dort unauffällig unter dem Tisch, auf dem er gelegen hatte. Danach kehrte ich zu unserer Verteidigung zurück und schlug vor, noch einmal den Raum unter die Lupe zu nehmen, bevor wir zu Unrecht beschuldigt wurden. Es stellte niemand eine weitere Frage, als der Diamant dort gefunden wurde und ich verlauten ließ, dass die beiden Männer vielleicht doch noch einen Blick auf das schöne Stück hatten werfen wollen. Schließlich sei es faszinierend etwas so Wertvolles zu Gesicht zu bekommen. Die beiden durften sich nicht weiter verteidigen und wurden ihrer Posten enthoben. Mich hingegen lobte man für meinen guten Instinkt. Es wurde später sogar der Großmutter gegenüber betont, als ihr der Diamant feierlich überreicht wurde.«
Ren verzog den Mund, als er das sagte. »Ich hatte mir dieses Lob wirklich nicht verdient. Trotzdem zeigte mir der Abend, wie leicht man sich das Vertrauen von Leuten ergaunern kann, sodass sie einem letztlich selbst überreichen, was man ihnen entwenden will. Ein halbes Jahr später heuerte ich Männer an, um einem Baron ein Erbstück zu entwenden. Ich brachte es ihm zurück und verdiente mir ein Abendessen, einen Finderlohn, den ich mit den Dieben teilte und vor allem das Vertrauen des Barons, der mich weiteren Männern vorstellte, die ich auf ähnliche Weise übers Ohr hauen konnte. Manche von ihnen verfügten beispielsweise über Einkünfte, die man nicht in offizielle Bücher schreiben durfte. Diese entwendete ich dann auf klassischem Wege. Im Grunde genommen habe ich nur illegal erwirtschaftetes Geld an mich genommen und solches, das man mir aus freien Stücken übergeben hat, wenn auch durch von mir in die Wege geleitete Ränke.«
Ren schwieg. Ich ebenfalls. Ich wusste nicht, was ich dazu sagen sollte. Ren hatte dafür gesorgt, dass zwei Männer ihre Arbeit verloren hatten. Welche Folgen hatten seine wirklichen Diebstähle gehabt, von denen er mir nicht erzählt hatte? Er mochte kein gemeiner Dieb sein, der sich einfach so am Geld anderer bediente, aber das machte ihn nicht unschuldig. Er nutzte die Fehler und Fehlbarkeit anderer zu seinem Vorteil aus – anscheinend ohne moralische Bedenken. Zumindest hinderten ihn diese nicht daran.
Was mich jedoch am meisten beschäftigte, war, dass ich mich nicht daran störte. Ich hatte nicht das Verlangen danach, ihm Vorträge darüber zu halten, dass das, was er tat falsch war. Ich wollte nicht fortgehen. Ich wollte ihn aber auch nicht dafür bewundern.
Vorhin hatte ich gedacht, meine Sicht auf Ren würde sich verändern, wenn ich unangenehme Dinge über ihn erfuhr. Dieser Fall war nicht eingetreten und jetzt war ich mir sicher, dass er auch nicht eintreten würde. Ren war für mich Ren. Egal, was ich noch über ihn erfuhr. Ich mochte ihn. Er war in den letzten beiden Wochen ein Teil meines Lebens geworden, den ich nicht missen wollte.
Das war es, was mir wirkliche Sorgen bereitete. Ich wollte ihm helfen, Dag zur Strecke zu bringen. Doch was dann? Dann hatte ich mein Abenteuer erlebt und selbst wenn ich mich dazu entschloss, weiterhin dem Palast fernzubleiben, würden die Männer meines Vaters mich irgendwann finden. Solange ich keinen Staatsverrat beging, würde man mich mit offenen Armen wieder zu Hause empfangen – nun ja, zumindest würde man den Anschein erwecken, dass es so war. Man würde mich nicht mehr aus den Augen lassen, mich wahrscheinlich dazu nötigen, mich vor den Augen der Öffentlichkeit in aller scheinheiligen Perfektion zu präsentieren. Und ganz bestimmt würde ich Ren nie wiedersehen. Dabei wollte ich ihn noch besser kennenlernen; hoffen, dass er Teil meines Lebens blieb.
Ich atmete einmal tief durch. Ren und ich saßen so nah beieinander, dass sich unsere Beine berührten. Es war lächerlich, etwas in so eine winzige, zufällige Berührung hinzuinterpretieren, aber auf einmal tat ich es. Ren und ich waren Freunde. Was, wenn sich mehr daraus entwickelte? Durfte eine Prinzessin sich in einen Dieb verlieben?
Ich schob den Gedanken beiseite und rückte ebenfalls mit einem Bein ein Stückchen von ihm ab. Ren sah mich kurz überrascht an, ließ es jedoch unkommentiert.
»Danke, dass du mir das alles erzählt hast«, sagte ich. Obwohl ich es so meinte, kam es mir so vor, als klänge ich unehrlich.
»Du solltest wissen, mit wem du zusammenarbeitest«, erwiderte Ren.
»Heißt das, du verlangst im Gegenzug, dass ich dir alles über mich erzähle?«, fragte ich unsicher.
»Nein.« Ren schüttelte den Kopf. »Ich wollte, dass du alles weißt. Oder zumindest den wichtigsten Teil.«
Hieß das, er hätte es mir auch erzählt, wenn ich nicht danach gefragt hätte?
Ich brachte ein Lächeln zustande. »Das weiß ich zu schätzen.«
Ren erwiderte mein Lächeln. »Gut. Wollen wir wieder reingehen, damit Myrdin dich weiter quälen kann?«
»Ich weiß nicht, ob das etwas bringt«, sagte ich, »aber ja, meinetwegen.«
»Vertrau ihm. Er hat meistens Recht.«
»Sagt der Kerl, der in einem Heuhaufen nach einem Hirtenstab gesucht hat, weil ich ihn darum gebeten habe.«
Wir standen auf.
»Nein, ich habe es dir von mir aus angeboten«, erwiderte Ren nonchalant, während er sich vom Heu befreite, das an seiner Kleidung haftete.
Ich schmunzelte. »Ich weiß nicht, ob das in diesem Fall die passende Verteidigung ist.«
»Nein, aber dass ich dich korrigiert habe, hat deine Glaubwürdigkeit infrage gestellt.«
»Pff«, machte ich und fügte dann hinzu: »Ich glaube, dass wir über sowas diskutieren, lässt uns beide nicht sonderlich gut dastehen.«
»Oh ja, die Pferde werden uns nie wieder ernstnehmen können«, scherzte Ren, woraufhin wir beide lachen musste.
»Na gut, dann lass uns wieder reingehen«, sagte ich, denn auf einmal kam mir gar nicht mehr so schrecklich vor, mich Myrdins Unterricht erneut zu stellen.
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