›Von Äpfeln und Kaffeebohnen‹

Angestrengt streckte ich meinen Arm nach vorne, wobei ich aufpassen musste, dass meine Zehenspitzen nicht von dem dünnen Steinvorsprung abrutschten. Berühren konnte ich das Ziel meiner Begierde bereits, jedoch musste ich noch ein kleines Stück weiter kommen, um den roten Apfel pflücken zu können. Mit all meiner Kraft stemmte ich mich mit meinem linken Arm am kleinen Metallzaun ab und griff nach der roten Frucht, welche einige Sekunden später schließlich in meiner Hand lag.
Zufrieden putzte ich sie rasch mit meinem Shirt sauber, um anschließend genüsslich hineinzubeißen und meinen Weg nach Hause fortzuführen.

Ich pflückte öfters Äpfel von diesem Baum, da ich diese Früchte zwar liebte, die in den Läden jedoch nicht annähernd so gut schmeckten wie die aus dem Garten einer meiner Nachbarhäuser. Den Bewohner kannte ich nicht persönlich, weshalb ich ihn schlecht um Erlaubnis bitten konnte, also nahm ich sie einfach, da sein Baum sowieso jedes Jahr reich an Äpfeln war.

Auch am nächsten Tag wollte ich erneut an seinem Gartenzaun vorbeischauen, als mir jedoch auffiel, dass er selbst gerade mit einer Leiter an seinem Baum stand. Wie immer, wenn er sich in seinem Garten befand, ging ich also nach kurzem Stehenbleiben einfach weiter und beschloss, auf meine geliebten Äpfel zu verzichten, als ich plötzlich ein Rufen vernahm.
"Fang!", verlangte die laute Stimme hinter mir, weshalb ich mich verwirrt umdrehte, nur um fast einen Apfel ins Gesicht zu bekommen, den ich jedoch rechtzeitig fing und den brünetten Jungen perplex ansah.
Sofort lachte er los und stieg von seiner Leiter herunter, um sich mit verschränkten Armen über sein Gartentor zu lehnen und mich schelmisch anzugrinsen.
"Glaubst du denn ich schnall nich', dass du meine Äpfel klaust?"
Ein Lachen konnte er sich auch nach dieser Aussage nicht verkneifen, was mir ein wenig die Röte in die Wangen trieb.
Ohne, dass ich die Chance hatte, ihm zu antworten, fing er auch schon wieder an zu reden.
"Ich heiße Jonah, und du?"
"Kilian", nuschelte ich, unsicher ob er mich verstanden hatte und putze nervös den Apfel an meinem Shirt ab.
"Freut mich. Nächstes Mal, wenn du dir 'nen Apfel holst, kannst du gerne auch auf 'nen Kaffee reinkommen. Ich beiße nicht." Mit diesen Worten nahm er seine kleine Leiter unter den Arm und verschwand wieder hinter seinem Haus.
"Ich mag keinen Kaffee."
Mir war bewusst, dass er mich nicht mehr hören konnte.

Als ich am nächsten Tag vor seinem Garten stand, beschloss ich anzuläuten, anstatt mir einfach einen Apfel zu nehmen. Vielleicht würde es ja ganz lustig werden, mich mit ihm zu unterhalten, auch wenn er wesentlich quirliger wirkte, als ich es war.
Schon kurz nachdem ich die Klingel gedrückt hatte, öffnete sich schwungvoll die Haustüre und Jonah kam grinsend zum Gartentor gerannt.
"Gut, dass du genau jetzt kommt. Ich habe gerade neue Kaffeebohnen gekauft", erklärte er mir aufgeregt, was ich mit einem Nicken abtat, da sich meine Meinung zu Kaffee seit dem gestrigen Tag nicht sonderlich geändert hatte.

Nachdem ich zwei Äpfel gepflückt hatte, folgte ich ihm in sein kleines Haus, bis in seine Küche, wo ich mich an die Theke setzte und ihm dabei zusah, wie er erst Kaffee machte und anschließend die Äpfel schnitt.
Jonah schien Kaffee zu mögen, das hatte ich schon beim Betreten seines Hauses bemerkt, da alles eine leichte Duftnote von Kaffeebohnen trug.

Als er fertig war, setzte er sich mit den Apfelstücken und seinen zwei Tassen Kaffee zu mir, ehe er mir eines der beiden Porzellangefäße vor die Nase stellte, was wohl bedeutete, dass dies mein Getränk war. Ein wenig angewidert zwang ich mich dazu, hin und wieder einen Schluck des bitteren Gesöffs herunterzuwürgen, da er es sehr zu genießen schien, und ich so ein Gefühl hatte, dass er sonst enttäuscht wäre.
Viel öfter griff ich jedoch trotzdem nach den Äpfeln, um die süße Frucht zu verzehren.
Süße Dinge schmeckten mir einfach besser als bittere.
Wir unterhielten uns über belanglose Dinge, die aus seinem Mund jedoch trotzdem interessant klangen, was mich ein wenig faszinierte. Es war, als könnte er sogar die Erzählung einer Mathematikstunde spannend gestalten, so kreativ und fesselnd war seine Erzählweise.
Ich redete eher wenig, da ich nunmal lieber zuhörte.

Es machte wirklich Spaß mit Jonah Kaffee zu trinken, auch wenn der Kaffee selbst wirklich widerwärtig war. Deshalb ging ich in nächster Zeit öfter zu ihm, um ihm zuzuhören und den Geschmack des bitteren Getränkes mit Äpfeln zu neutralisieren. Ich glaube, man konnte uns Freunde nennen, vielleicht waren wir aber auch nur Bekannte, da war ich mir nicht so sicher.
Ich wusste nur, dass ich gerne bei ihm war und ihm zuhörte. Und ich sah ihn gerne an, wenn er redete, da er wirklich Spaß daran zu haben schien. Es war, als würden ihm die Geschichten nie ausgehen, wobei ihm jede neue Geschichte noch mehr Spaß machte, als die des letzten Tages. Da er so glücklich dabei aussah, fing ich auch an zu denken, dass er es mochte, das ich ihm zuhörte. Aber das konnte ich nicht mit Sicherheit sagen.

Wie schon so oft klingelte ich an seinem Tor und ließ mich von ihm reinbitten, woraufhin mir bereits im Vorzimmer der Geruch von Kaffeebohnen entgegenschlug. Es war aber nicht so, als könnte ich den Geruch auch nicht leiden, im Gegenteil, ich gewann ihn von Tag zu Tag lieber, da er mich an den brünetten Jungen erinnerte, der Kaffee ja so liebte.

In seiner Küche setzte ich mich wie immer hin, doch Jonah schnitt heute nur Äpfel, Kaffee kochte er nicht. Verwirrt sah ich ihn an und legte meinen Kopf schief, was er sofort einordnen konnte und mir auf meine unausgesprochene Frage antwortete: "Mir sind die Kaffeebohnen ausgegangen. Bist du enttäuscht?"
Sofort schüttelte ich meinen Kopf und griff lächelnd nach einem der Apfelstücke, um es in meinen Mund zu schieben.
"Ich mag Kaffe gar nicht", nuschelte ich mit vollem Mund und klopfte auf den Stuhl neben mir, auf welchen er sich anschließend saß und mich ungläubig ansah.
"Warum hast du ihn dann getrunken?", wollte er wissen, wobei mir die Neugier in seinen grünen Augen mit Leichtigkeit auffiel.

"Weil ich dich mag."

Als Reaktion auf meine Aussage hin begann er bloß leicht zu lachen.
"Du hättest ihn trotzdem nicht trinken müssen! Ich wäre schon nicht beleidigt gewesen", erklärte er mir, was ich mit einem resignierten Nicken abtat. Warum war ich eigentlich der festen Überzeugung gewesen, dass es ihn traurig stimmen würde?

Die nächsten zwei Wochen vergingen nicht viel anders, als die Zeit davor, nur war er plötzlich der einzige, der bei unseren Treffen Kaffee trank, und ich war der einzige, der Äpfel aß, was mich jedoch nicht sonderlich wunderte. Ich hatte schon Anfangs mehr gegessen als er.

"Warum isst du eigentlich keine Äpfel mehr?", fragte ich ihn trotzdem an einem Sonntag, den ich wieder bei ihm verbrachte, um ihm zuzuhören.
"Ich mag Äpfel nicht sonderlich. Die vorherigen Besitzer haben diesen Baum gepflanzt, und ich wollte ihn nicht fällen", erklärte er mir, ehe er einen kleinen Schluck von seinem Kaffee nahm.
"Warum hast du sie dann davor gegessen?", wollte ich neugierig wissen, was ihn zum grinsen brachte.
"Du hast doch auch den Kaffee getrunken."

"Das ist keine Antwort auf meine Frage", brummte ich schmollend und sah ihn beleidigt an.

"Ich denke, ich wollte mich an den Geschmack von Äpfeln gewöhnen."
"Wieso denn?"
Auf meine Frage hin, sah er mich einfach für einige Sekunden eindringlich an, ehe er seine Hand sanft in meinen Nacken legte, um mich zu sich zu ziehen und seine weichen Lippen auf meine zu legen.

Eigentlich schmeckt Kaffee doch gar nicht so schlecht.

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