XIV. Inferno


VOM TODE UNBERÜHRT
XIV. Inferno

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Majda konnte beinahe Chajas Stimme hören, die diese Frage stellte, als sie in den Spiegel schaute. Warum tust du das?

Ihre Hände, die gerade ihr Haar mit Bändern schmückten – Zeichen einer jungen, stolzen Braut –, sanken in ihren Schoß und ihr Summen verstummte. Die Reflexion im Spiegel fühlte sich seltsam an. Falsch. Denn sie zeigte sie allein in dieser Kammer, während doch eigentlich Chaja, Mamotschka und Uljascha an ihrer Seite hätten sein sollen.

Aber eine von ihnen hatte gerade das Haus verlassen, um die Feuer zu entzünden, die andere betete mit dem Priester, ohne von dem geheimen Gelübde zu wissen, das ihre Tochter für immer an Davor Kazminov binden könnte. An diesen attraktiven, jungen Soldaten, dessen Lippen nach seiner eisernen Klinge und den Juwelen an seinen Fingern, nach Wein und Sommer schmeckten und von dem sie nicht wusste, ob sie ihn begehrte oder bloß das, was er versprach.

Schlug ihr Herz für ihn oder für die Sicherheit und Freiheit, die er ihr gewähren konnte?

Majda stellte sich auch nicht der Frage, warum ein Mann wie Davor Kazminov mit seinen feinen Pelzen, seinem Schwert und seinen Edelsteinen zustimmen würde, eine Frau wie sie zu heiraten, oder ob das brennende Verlangen in seinen Augen, als er sie „lastotschka" genannt hatte, irgendetwas mit Liebe zu tun hatte.

Stattdessen wollte sie dies als Krieg sehen, den sie gewonnen hatte. Der Preis, wenn nicht Davors Herz, war genauso wertvoll oder sogar mehr. Täglich wurden Herzen verschenkt oder gestohlen. Was bedeutete das schon, wenn die Hand dem nicht folgte?

Wenn das Leben in einem Käfig ohnehin das Schicksal der Frauen in dieser Welt war, dann würde sie doch zumindest ihren eigenen wählen und schmieden.

Majda schloss die Augen, ihre Fingerspitzen berührten ihr Licht Svets.

„Weil es der einzige Weg ist", flüsterte sie. „Weil es mir erlaubt ist, zu verlangen."

Im selben Augenblick schlüpfte eine Gestalt in den dunklen Tempel. Der Schatten des Mannes, geworfen durch das Licht einer einzigen Kerze, zitterte wie seine alten Knochen. Nicht wegen der Kälte draußen – sein Kaftan ließ sie seine Haut nicht einmal berühren – und auch nicht aus Schwäche.

Nein, es war Zorn, der sich wie ein brennendes Inferno in ihm manifestiert hatte. Denn der Priester wusste, dass sein Soldat ihm nicht gehorcht hatte. Diesmal hatte er nicht getan, was ihm befohlen worden war.

Aber es war auch Angst. Die Angst, dass ihm die Kontrolle wie Sand durch die Finger rann. Was, wenn er seine Macht über den Mann verloren hätte, den er nach seinem Willen zu seinem Soldaten, seinem Diener, seinem Sohn geformt hatte? Derjenige, der ohne ihn nichts gewesen wäre? Derjenige, der schließlich auch zu viel Macht über ihn besaß?

Wütend über den bloßen Gedanken an diesen Verrat sank der Priester in der Mitte des Tempels auf die Knie und dem alten, dunklen Gewölbe entgegen, das urteilend auf ihn hinabsah, rief er nach seinem Diener.

„Die Zeit ist gekommen", hallte die Stimme des Priesters von den hölzernen Wänden des Tempels wider, die vor Abscheu gegenüber diesem falschen Heiligen knarrten. Die Flammen zitterten. „Karatschun ist bei uns. Ich rufe euch jetzt an, zu den Waffen zu greifen. Mit ihnen in den Händen und Gebeten auf den Lippen kann er euch nicht besiegen. Legt euer Leben in Svets Hände und er wird euch führen."

In meine Hände, dachte er und hob sie über sein graues Haupt.

„Die Hexe ist gefunden und Svet fordert Gerechtigkeit!"

„Die Hexe?"
„Wer ist es?"

Majda beobachtete den Priester in ängstlicher Aufregung, während sie die kalte, kleine Hand ihrer Schwester hielt. Irgendetwas sagte ihr, dass es sie kümmern sollte. Doch alle ihre Gedanken galten Chaja. Warum war sie noch nicht zurückgekommen? Was war passiert?

Der alte Mann ergötzte sich an ihrer Angst, ihrer Ungeduld und ihrem Hass, so dass sie es alle hätten sehen können. Aber sie taten es nicht.

„Heute Nacht ist Abram Abramovitschs Tochter gegangen, um Karatschun zu besänftigen", erklärte er und ließ diese Nachricht über die Menge schwemmen, wenn auch nur so kurz, dass sie noch nicht wussten, was sie davon halten sollten. Um sie fürchten? Sie verurteilen oder bewundern?

Majda drückte Uljas Hand fester.

„Mein treuer Soldat, mein Sohn, der bereits unterwegs ist, um den Kalten zu bekämpfen, war auf der Suche nach ihr, aber", er schüttelte den Kopf, als sei er ernsthaft beunruhigt, „ihre Spuren endeten auf dem Friedhof. So sehe ich mich gezwungen, Euch zu sagen, Gospodin, dass diejenige, die Euer Volk – die Menschheit – so bösartig verraten hat, Eure Tochter war."

Abram wurde blass und die ganze Kirche verfiel in Gemurmel.

„Chaja – eine Hexe?"
„Nein. Unmöglich."
„Ein so freundliches Mädchen würde niemals so etwas Schreckliches tun!"
„Eine so ehrenwerte Familie wie die von Raskin und unserer schönen Majda soll dämonische Brut haben? Das kann ich nicht glauben."

Und dann verwandelte sich die Empörung langsam in etwas anderes. Es waren Stimmen zu hören, die flüsterten „Aber war sie nicht schon immer ein wenig seltsam?", „Und wie schlecht sie sich in den letzten Tagen benommen hat" oder „Ich erinnere mich, wie sie den Sturz in die Zlatava überlebt hat ... Ich habe mich immer gefragt, wie ein Kind so etwas schaffen kann" und „Hexen können sich als Menschen verkleiden."

Chajas Familie hörte mit entsetztem Schweigen zu, während sich die Nachricht wie ein Feuer verbreitete, ebenso wie der Hass. Inzwischen hatte Majda, ohne es zu wissen, Uljaschas Hand fast zerquetscht. Doch das kleine Mädchen wimmerte nicht ein einziges Mal.

„Das ist doch nicht wahr, oder? Chaja ist keine böse Hexe", flüsterte sie und Majda glaubte, dass das, was sie Ilja an deren Platz zu ihrem Onkel sagen sah, dasselbe sein musste.

„Sie hat ausgesehen wie eine Hexe, als Gospodin Kazminov sie zurückgebracht hat. Was hat sie dort im Wald gemacht?", fragte jemand.
„Ich habe gehört, sie hat mit den Untoten gesprochen. Sie wollte sie dazu bringen, aus den Gräbern zu kommen und ... Daniil zu töten."
„Letztendlich wurde sie doch aus Tod geboren."

Majda sprang auf. „Lügner! Chaja würde so etwas nie tun!"

Alle starrten sie an. Die Kirche war augenblicklich so still, als wäre sie verlassen. Doch das unerträgliche Lächeln des Priesters wich nicht von seinem Gesicht.

„Es ist schwer zu verstehen, ich weiß. Die Wahrheit kann furchtbar sein. Aber bedenkt, Majda Iosifovna, es ist die dunkle Magie der Hexen, die uns dazu bringt, sie zu lieben und ihnen zu vertrauen, damit sie diese Gefühle missbrauchen können."

„Nein. Das glaube ich nicht. Wenn sie verschwunden ist, sollten wir rausgehen und versuchen, ihr zu helfen. Habt Ihr nicht behauptet, gegen Karatschun kämpfen wollen – warum geht Ihr dann nicht und sucht sie!", schrie Majda.

Der Priester seufzte und schloss seine blinden Augen. „Ihr kennt die Märchen. Der Dämon des Winters und des Todes hat kein Interesse an sterblichen Mädchen an seiner Seite. Sie kommen immer als seine Geliebte oder tot zurück."

So sanft gesprochen, voller falschem Bedauern, trafen die Worte Majda wie ein Schlag. Ja, sie kannte die Erzählungen. Fast so gut wie Chaja, denn sie war damit aufgewachsen, dass sie ihr von ihrer Babuschka und neuerdings von ihrer Cousine selbst erzählt worden waren. Darin waren die Überlebenden die Gutherzigen, die Tapferen; keine bösen Hexen.

„Und was ist, wenn wir sie morgen früh finden? Tot?", spuckte Majda aus, aber ihre Stimme brach beinahe. Der Druck Uljas Hand schmerzte jetzt. In den Augen des Mädchens glühte Angst.

Der Priester hob seine Hände und sein Gesicht zum Himmel. „Dann möge Svet ihre unschuldige Seele wie ein liebender Vater zu sich nehmen."

Ihre Unschuld mit ihrem Tod beweisen? Das konnte er nicht meinen. Unmöglich.

„Und wenn sie lebendig zurückkehrt?"

„Dann möge Svets Licht die Dunkelheit in ihrem Herzen verbrennen. Das Opfer ihrer Seele wird uns befreien."

„Lügner", flüsterte Majda. „Mörder. Ungeheuer."

Die Menge rang nach Atem.

„Davor hat sie gesehen, Majda Iosifovna. Eure Cousine ist aus freien Stücken auf das Pferd des Dämons gesprungen."

Majdas Herz blieb für eine Sekunde stehen und jetzt endlich spürte sie, dass die Blicke, die sich in ihren Rücken bohrten, von Abscheu erfüllt waren. All die Tage wollten sie die Schuldige finden und nun, da der Priester ihnen eine präsentiert hatte, dauerte es nicht lange, bis sie sie akzeptierten und all ihren Hass und ihre Angst auf sie richteten; auf Chaja.

Das Mädchen wusste nicht, was sie von den Worten des Priesters halten sollte. Was, wenn er die Wahrheit sagte? Und wenn ja, machte das Chaja zu einer Hexe? Sie hatte sie immer beschützt.

„Das will ich von Davor selbst hören. Wo ist er? Ich habe ein Recht darauf, meinen Verlobten zu sehen", forderte sie. Zum ersten Mal schien ein Schatten das Gesicht des Priesters kurz zu verdunkeln.

Wortlos verließ Majda ihren Platz.

„Wohin gehst du?", fragte Dorka.

„Nach Chaja suchen."

„Ich komme mit!", rief Ulja. Aber Dorka hielt ihr Ärmchen in einem schmerzhaften Griff und als Abram sich zu ihnen umdrehte, bereit, ebenfalls aufzustehen und nach seiner Tochter zu suchen, warf ihm seine Schwester einen harten Blick zu. Sie erinnerte ihn daran, dass er jetzt machtlos war. Die Bewohner von Lasow folgten ihrem namenlosen Herrn.

Die Kirche schwieg, als sie ging. Blicke folgten ihr, schockiert, das ausgerechnet sie von allen von ihnen ihre neuen, unausgesprochenen Regeln gebrochen hatte. Du sollst dem Meister nicht widersprechen. Doch Majda tat es. Sie musste Davor finden, Chaja, und diesen Wahnsinn beenden.

Sie bemerkte nicht, dass ihr jemand gefolgt war, bis sie hörte, wie sich die Kirchentür hinter ihrem Rücken ein weiteres Mal öffnete und wieder schloss. Als Majda sich umwandte, erwartete sie Uljascha zu sehen.

Doch es war Mladen. In der Nacht leuchteten seine Augen dunkel.

„Ich lasse dich nicht allein gehen."

Ein schwaches Lächeln huschte über Majdas Gesicht – bis sie die Lichter sah, die das tiefe Schwarz des Himmels in einem infernalen Rot färbten, den Rauch in der Nase spürte. Niemals konnte das von dem Feuer stammen, das sie jedes Jahr auf dem Friedhof entzündeten.

„Was ist das?", fragte Mladen.

Majdas Blick war voller Entsetzen. „Lasow brennt."

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𝐀 𝐍 𝐌 𝐄 𝐑 𝐊 𝐔 𝐍 𝐆 𝐄 𝐍

Das erste Mal bekommen wir also ein kleines Bisschen von Majdas Perspektive zu sehen... und noch ein kleineres Bisschen von der des Priesters. Damit wird das das erste und einzige Kapitel, in dem Chaja gar nicht aktiv vorkommt.

Und zugegeben bin ich auch ein bisschen nervös, ob ich Majda so ganz gerecht wurde. Ihre Geschichte ist (auch wenn das noch nicht der absolut kritische Part ist) fürchte ich, sehr leicht falsch zu verstehen sein. Ich hoffe also wirklich, dass meine gewollte Botschaft ankommt 

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