XI. Sing, kleine Schwalbe, von den Feuern an Mittwinter
VOM TODE UNBERÜHRT
XI. Sing, kleine Schwalbe, von den Feuern an Mittwinter
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„Es war die Angst, die dein Volk in die Klauen Karatschuns trieb. Die Hoffnung wird es zurück zu Svet führen. Wir müssen ihm einen Sieg zeigen, den sie alle feiern können", hatte der Priester Chaja auf dem Friedhof erklärt, als sie ihn gefragt hate, ob er es den anderen von den Ereignissen erzählen würde. Von den Wiedergängern, zu denen ihre Lieben geworden waren.
Er hielt sein Wort.
An diesem Tag, an der Schwelle zu Mittwinter, rief er die Menschen nach dem Gottesdienst zu einem Festmahl zusammen und wie zuvor klammerten sie sich die an das versprochene Glück wie jemand, der sich in der Dunkelheit verirrt hat, an den kleinsten Lichtschein am Horizont. Nur allzu bereitwillig ließen sie die Schrecken der vergangenen Tage hinter sich, ihre wunden, hungrigen Herzen gestatteten sich selbst sich für einen Abend im süßen Wahnsinn des reinen Vergnügens zu verlieren.
Das Haus roch nach Delikatessen, die Chaja ihre Kehle hinunter zwang. Sie hatte seit Tagen nicht mehr richtig gegessen und konnte so nicht weitermachen, wenn sie nicht wollte, dass der Tod sie in diesem Winter holte. Obwohl ihr Magen weh tat, nahm sie stetig einen Bisschen nach dem anderen. Morgen musste sie bereit sein, Karatschun endlich gegenüberzutreten.
„Es ist gut, alle fröhlich zu sehen", meinte Abram an den Priester gewandt, der neben ihm saß. Einen Moment lang sah er Chaja an, die von einer lachenden Majda weggezerrt wurde, und seine Lippen zuckten. Fast alle, schien er im Stillen hinzuzufügen.
„Und doch höre ich Kummer in deiner Stimme, mein Sohn."
„Ich mache mir Sorgen um meine Tochter", gestand er, so dass nur der Blinde es hören konnte, den Blick weiterhin an Chaja geheftet, die mit Majda und den anderen Jugendlichen von Lasow tanzte.
„Willst du hier ganz allein sitzen?", neckte seine Nichte Mladen, der sich noch nicht zu ihnen gesellt hatte.
Mit rot angelaufenen Wangen und Ohren sprang der Junge auf. Sein Mund öffnete sich, aber er war sprachlos, bis er ein unbeholfenes „Natürlich nicht, ich..." zustande brachte.
„Wegen des Karatschun-Tages?", fragte der Priester.
„Nein – ja, ich weiß es nicht. Seit dem Tod meiner Mutter hat sie sich verändert. Jetzt ist da etwas in ihr, das ich vorher nicht gesehen habe." Und das macht mir Angst, dachte Abram, wagte aber nicht, es auszusprechen und spülte die Worte schließlich mit einem Schluck Honigwein hinunter.
„Ich fürchte auch um sie", antwortete der Priester und ließ ihn ruckartig von seinem Becher zu ihm aufblicken. „Sie hat sich mehr als einmal zum Fürsprecher des dunklen Gottes gemacht. Ihr versteht, sie befindet sich in diesem gefährlichen Alter, in dem die ganze Welt verlockend wird – vor allem die Dunkelheit, die sich in Licht gekleidet hat. Ich werde zu Svet beten, dass er über sie wacht."
Chaja konnte ihre Worte nicht hören, aber das Starren auf sich spüren – finster und grimmig zwischen den fröhlichen Gesichtern der anderen –, während Majda mit ihr durch den Raum wirbelte, anmutiger denn je. Selbst als sie mit Mladen tanzte, bemerkte Chaja, dass sie durch ihn hindurchsah. Stattdessen flogen die Blicke ihrer honigfarbenen Augen quer durch den Raum zu dem hochgewachsenen Soldaten, der sie ruhig von der Seite des Priesters aus beobachtete wie ein Wachhund zu Füßen seines Herrn.
Mladens ganze zerbrechliche Hoffnung wurde auf ein Spiel verschwendet, in dem er nicht einmal einen Mitspieler, sondern, wenn überhaupt, nur ein Mittel zum Zweck darstellte, und sie zerbröckelte mit jeder Sekunde und verwandelte sich in blanken Hass auf den blonden Soldaten. Chaja warf Majda einen verwirrten Blick zu und unterdrückte den Drang, sich zwischen sie und Kazminov zu stellen, denn sie spürte, dass es ihr nicht zu stand, sich einzumischen.
„Ich werde sie retten", flüsterte Majda und ihr Gesicht nahm für einen kurzen Moment den Ausdruck unerbittlicher Entschlossenheit an.
Mittwinter wurde zu Mittsommer, als Röcke und Zöpfe im schummrigen Licht des Feuers flogen und von Met benetzte Lippen das Haus mit Lachen und Gesang erfüllten. Sie alle waren trunken von dieser surrealen Glückseligkeit.
Es fühlte sich wie Wahnsinn an und ganz Lasow beobachtete sie dabei. Nein, nicht sie, sondern Majda. Sie allein. Vor ihren Augen verwandelte sie sich in eine Rusalka, die Jünglinge in ihren Tod lockte. Jede ihrer Bewegungen zog sie in ihren Bann und ihre Stimme, die mit so herzzerreißender Traurigkeit geschmückt war, als würde das alte Volkslied von ihrem eigenen Schicksal erzählen, verzauberte sie.
„Sing, kleine Schwalbe
Die Blumen blühen auf der Heide
Sing, kleine Schwalbe
Die Sonne macht golden die Felder
Flieg, kleine Schwalbe
Schon bedeckt der Schnee das Land
Nimm mit meinen Lieben in dein Reich
Flieg, kleine Schwalbe
Lass seine Seele mit dir ziehen
Und sing ihm, sing ihm, mein Lied."
Davors kalte Augen wichen von Majda nicht ein einziges Mal. Sie bohrten sich in sie wie eisiges Feuer. Wie ein Wolf, der seine Beute beobachtet. Und er beruhigte sie mit höflicher Gewandtheit und leise in der Dunkelheit geflüsterten „lastotschka"s, um seine Zähne dann im Fleisch zu versenken, wenn man es am wenigsten erwartete.
Aber diese Beute hatte ihre eigenen scharfen Krallen. Als Majda spät in der Nacht neben Chaja einschlief, tat sie es mit dem Lächeln eines Raubtiers, das frisches Blut auf den Lippen schmeckte.
Nur ein einziges Augenpaar, unter all den vielen anderen, fühlte Chaja den ganzen Abend über ausschließlich auf sich ruhen. Es leuchtete aus den dichten Schatten in der Ecke des Raumes.
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Nach den Worten des Priesters hätten die Einwohner von Lasow vielleicht erwartet, dass die Welt an diesem Karatschun-Tag untergehen würde. Wie um ihrer Angst und ihren eifrigen Vorbereitungen – Symbole von Svet, Kräuter und Gebete, um böse Geister zu vertreiben, und gesegnete Waffen und ein Scheiterhaufen, um die Kreaturen der Dunkelheit zu vernichten – zu spotten, brach die Morgendämmerung friedlich an und die Abenddämmerung ebenso. Die Nacht kam auf sanften Schwingen.
Chaja konnte sich nur fragen, ob das Holz, das sie gesammelt und aufgeschichtet hatten, für sie bestimmt war. Aber obwohl er sie eindeutig für eine Hexe hielt, schwieg Davor Kazminov darüber und das tat er auch über ihr Gespräch auf dem Friedhof.
Ihn befreien? Wovon? Ein heimlicher Verdacht machte sich in ihr breit. Doch Chaja verscheuchte ihn wie alle anderen. Es war schließlich doch unmöglich. Nur so viel erlaubte sie sich zu denken: Wenn Davor und dieser Schatten – vielleicht Karatschun selbst – Recht hatten und sie wirklich eine Hexe war, dann würde sie nicht zögern, diese Ketten in eine Waffe zu verwandeln, den Fluch in einen Segen, wenn es darum ging, dem Todesgott gegenüberzutreten.
Die Stille in der Izba, in die verzweifelte Stimmen gehauchte Gebete woben, war fast erdrückend. Dorka sprach seit Anbruch des Tages zu Svet. Ihr Schock schien sich im Rausch der letzten Nacht ein wenig verflüchtigt zu haben, aber er gab somit der Panik wieder Raum zu atmen.
„Chaja, kannst du mir noch einmal die Geschichte von Vasilisa erzählen?", fragte Ulja und zupfte sanft an ihrem Rock.
Chajas Blick fiel auf Davors grimmiges Gesicht. „Jetzt ist nicht der richtige Moment dafür, zajka."
„Wann denn, wenn nicht heute Nacht?", protestierte das Mädchen. „Wer wird dieses Jahr ihren Platz einnehmen?"
Die Rolle der Vasilisa zu spielen war eine prestigeträchtige Aufgabe. Jedes Mädchen aus Lasow wäre gern die erste gewesen, die in die Nacht hinaustrat, um das tapfere Mädchen aus dem Märchen zu ehren. Ihre Ahnin. Und auf Chaja und Majda hatten einige von ihnen mit sichtbarem Neid geblickt, weil sie als Töchter der Familie des Starosta diesen Ritus mehr als einmal vollziehen durften.
Doch heute war dem nicht so.
In dieser Nacht hätte es sich wie eine Strafe angefühlt, auserwählt zu sein, nicht wie eine Ehre.
Ihre Lippen spreizten sich, um zu antworten. Ich – sie spürte dieses Wort bereits auf ihrer Zunge.
„Niemand", antwortete der Priester schneller als sie, „wir knien nicht vor dem Winterkönig."
Chaja legte vorsichtig das weiß bestickte Tuch über ihr geflochtenes Haar. Es war immer noch blutig, aber das spielte jetzt keine Rolle.
„Ich werde gehen", widersprach sie, während sie ihre Finger in die Asche und die Kohle des Ofens tauchte.
„Du beugst dich Karatschun?", fragte der Priester.
Chaja warf ihm einen Blick zu, der wie die Glut im Ofen flackerte. „Nein, ich ehre unsere Vorfahren. Sie sollen nicht draußen in ihren Gräbern frieren, so wie wir nicht in unseren Häusern. Niemand, nicht einmal Karatschun, kann mich davon abhalten."
„Nein, Chaja. Bitte bleib hier", flehte Ulja und versuchte, sie davon abzuhalten, mit den Fingern über ihre Kehle zu fahren, um sich mit dem Symbol des Todes zu zeichnen. Aber sie hatte es bereits auf ihre blasse Haut geschmiert.
„Was in aller Welt tust du da?", fragte Dorka und hielt zum ersten Mal in ihren Gebeten inne. Als ob dieses kleine Symbol den Todesgott hier und jetzt beschwören könnte, starrte sie es voll Abscheu und Angst an.
„Ich folge der Tradition."
„Ich werde dich nicht gehen lassen", sagte Ilja.
Chaja wandte sich mit einem sanften Lächeln an die Kinder. „Versprecht mir, euch gut zu benehmen. Ihr beide."
„Das werde ich. Wenn er hierher kommt, werde ich Uljascha beschützen." Ilja reckte entschlossen das Kinn und dieses Mal glaubte Chaja ihm, dass er nicht zurückschrecken würde, seiner kleinen Schwester zu helfen.
Sie küsste beide auf die Stirn und schnappte sich die Wacholderbeeren, eine Schüssel mit Essen und die noch nicht angezündete Fackel. Ulja war jedoch nicht bereit, sie einfach so gehen zu lassen. Mit Tränen in den Augen warf sie sich in Chajas Arme und vergrub ihr Gesicht in ihrem Kleid.
„Ich wünschte, ich wäre so mutig wie Vasilisa ..."
Majda erhob sich von ihrem Platz. „Chaja, das ist Wahnsinn! Willst du dich umbringen lassen? Ich erkenne dich gar nicht mehr wieder. Was ist aus dem besonnenen Mädchen geworden, das ich kenne?"
Majdas Hände griffen nach ihren eigenen ascheverschmierten und als sie merkte, dass sie darauf keine richtige Antwort erhalten würde, sagte sie mit dünner Stimme: „Lass mich wenigstens mit dir gehen."
Chajas Mundwinkel zuckten. Wir haben uns geschworen, uns durch nichts trennen zu lassen. „In der Legende geht Vasilisa allein."
„Du hast mir versprochen, auf dich aufzupassen, Chajka. Du hast es versprochen." In ihren honiggoldenen Augen leuchtete hilflose Verzweiflung.
„Und ich gebe mein Bestes, dieses Versprechen zu halten." Eine Sekunde lang drückte Chaja Majdas Hände, bevor sie sich aus dem Griff befreite.
„Wahnsinn! Das ist Wahnsinn!", donnerte Abram und erhob sich von seinem Platz. „Du wirst enden wie der arme Daniil."
Oder wie eine Hexe auf dem Scheiterhaufen.
„Ich habe Babuschka vor langer Zeit versprochen, jedes Jahr in der längsten Nacht auf den Friedhof zu gehen. Ich habe ihr versprochen, diese Tradition nicht zu vergessen", erwiderte Chaja in erstaunlich ruhigem Ton. Ich habe nicht vergessen – und ich habe auch nicht verziehen. Karatschun hatte ihrer Großmutter gerade an der Schwelle seiner Nacht den Atem geraubt.
Ungläubigkeit verdüsterte Abrams braune Augen. „Ich verstehe nicht, was mit dir los ist, Chaja."
„Mit mir? Was ist mit euch? Habt ihr alle euren Verstand und euer Herz verloren, dass ihr diesem Priester blindlings folgt? Wie können wir wissen, dass er nicht unser Feind ist? Alle Schrecken haben begonnen, als er hierhergekommen ist."
Der alte Mann wandte sich mit sanftem Vorwurf an sie. „Vergiss deine Stellung nicht, Predigermädchen. Deine Ausbildung mag außergewöhnlich gut und deine Gebete mögen schön sein. Ich habe sie alle gelesen. Aber die Weisheit Svets zu suchen, zu verstehen und zu lehren, ist nicht die Aufgabe einer Frau. Das ist die Aufgabe der Gelehrten."
„Dann solltet Ihr am besten Euren eigenen Fehler erkennen. Welcher Gelehrte maßt sich an, ein wahres Sprachrohr von Svet zu sein? Welcher –"
Ein harter Griff um ihr Handgelenk brachte sie zum Schweigen. Überrascht schoss Chajas Kopf nach rechts und sie fand sich Auge in Auge mit Davor.
„Du bleibst hier", jedes seiner gezischten Worte war so scharf wie seine Klinge. „Du darfst nicht gehen."
Zu perplex, um ihm zu antworten oder sich zu wehren, starrte Chaja ihn an.
„Lass sie gehen. Wir müssen unseren eigenen Kampf vorbereiten", befahl der Priester, ohne dass Zorn in seine Stimme kroch. Augenblicklich lockerte sich Kazminovs Griff.
„Svet beschützt diejenigen, deren Herz klar und rein ist, und diejenigen, die von Dunkelheit erfüllt sind, verbrennt er mit seinem Licht."
Ein Lächeln huschte über Chajas Gesicht, so zärtlich, dass es durch Fleisch und Knochen schneiden hätte können. „Dann fangt besser an, für Eure Seele zu beten, Meister."
„Chaja!", kreischte Dorka.
Aber sie kümmerte sich nicht darum. Genug von dieser scheinheiligen Blasphemie im Namen der Frömmigkeit! Sie zündete die Fackel an und trat hinaus in die längste und dunkelste Nacht, die sie je gesehen hatte. Wie die Sonne des letzten Jahres war auch der Mond erloschen und hatte die Welt in eine dichte, unbarmherzige Schwärze gehüllt.
Doch das hielt sie nicht davon ab, das Essen auf die Holzstufen des Hauses zu stellen. „Nimm das, damit du nicht verhungern musst. Speis mit uns."
Dann ließ Chaja ihren Mantel von den Schultern gleiten. „Nimm ihn, damit du nicht frieren musst."
Sie schluckte. „Und ich schenke dir auch ein Leben."
Fast erwartete Chaja, dass etwas geschah – eine kalte Hand, die ihre Kehle berührte, oder der dunkle Reiter, der aus dem Wald kam und ihre Seele mit sich nahm.
Doch die Nacht blieb still, als wäre die Welt bereits untergegangen.
Ihren Pfad mit Wacholderbeeren bestreuend, die sie vor den bösen Geistern schützen sollten und den weißen Schnee rötlich färbten, machte sich Chaja auf den Weg zum Friedhof. Mit jedem Schritt schien das Feuer ihrer Fackel schwächer zu werden. Von ihren Lippen sprudelten die Lieder, die sie kannte, seit sie sich erinnern konnte; der einzige Klang, der die Stille verscheuchte.
Chaja war die Einzige, die heute den Friedhof besuchte, um ihre Toten zu ehren und die Feuer zu entzünden, die sie wärmten. Svet, selbst ein Gott des Lichts, hätte es nicht gutheißen können, ihre Vorfahren in dieser dunkelsten Nacht, die die Welt je gesehen hatte, zittern zu lassen. Obwohl Chaja keine Gelehrte war, glaubte sie, sein Wort besser zu verstehen als der Mann, der meinte, es in den letzten Tagen mit Lasow geteilt zu haben.
Unter ihren Händen leuchtete der Friedhof wieder hell unter dem sternenlosen Himmel auf. Am Grab von Jovanka Raskina kam sie schließlich zum Stehen.
„Karatschun ...", flüsterte Chaja.
Nichts geschah.
„Ich habe dir alles angeboten. Mein Essen, meinen Mantel, mein Leben. Jetzt bitte ich dich, eine andere Seele zu verlangen. Lass diesen Winter friedlich vergehen. Sei milde mit Lasow."
Kein Wind. Kein Geflüster. Als würden sie sie missbilligen, schwiegen die Kiefern.
„Ich bin hier, Karatschun. Hörst du mich? Siehst du mich?", schrie sie in den Wald, der den Friedhof säumte. „Was willst du noch? Hast du nicht schon genug genommen?"
Er hatte sie heimgesucht, Dorka gebrochen, Daniil genommen und den Schlaf der Toten gestört – den, der kleinen Vanja –, aber jetzt da sie hier stand, frierend in der Dunkelheit, allein, und ihm alles bot, was sie besaß, zog er es vor zu schweigen? So still wie damals, als Chaja vor Wut seinen Namen in den Wind gerufen hatte.
„Willst du mich verhöhnen, König des Winters und des Todes? Kannst du denen nicht antworten, die dir ihre Gastfreundschaft anbieten? Denen, deren Liebe du geraubt hast?" Langsam erhob sich Chajas Stimme vor Zorn. „Warum so feige? Ich bin hier und bereit, für die Leben zu kämpfen, die du haben willst!"
Tränen stachen ihr in den Augen. Sie hätte erwartet, dass er so niederträchtig sein würde, sie zu holen, ungeachtet dessen, dass sie den Riten folgte, so bösartig, über Lasow und seine Bewohner herzufallen. Aber das hatte sie nicht erwartet: die Grausamkeit eines gleichgültigen Schweigens. Konnte er sie nicht wenigstens bestrafen, ihr drohen, sie auslachen? Doch Karatschun machte sich nicht einmal die Mühe, sie seines Hohns zu würdigen.
Er kümmerte sich nicht um die Sterblichen.
Und es war ihm egal, was ihr Tod den Hinterbliebenen bedeutete.
Chaja fiel auf die Knie, wo Jovanka Raskinas sterbliche Überreste lagen. Zum ersten Mal nach drei Jahren konnte sie an ihrem Grab weinen, denn in den letzten Tagen war langsam ein weiteres aufgerissen worden. Irgendwo tief in ihrem Inneren, dort, wo Chaja ihren ganzen Kummer begraben hatte.
„Warum habt ihr mich alle so verraten? Warum musstet ihr das tun? Warum habt ihr Mutter mitgenommen? Vanja? ...Babuschka? Warum nie mich?", schluchzte sie und rollte sich auf dem schneebedeckten Grab zusammen.
Karatschun hatte ihr Leben in Scherben gelegt und sie dann unbewaffnet allein gelassen. Den Tod konnte man nicht bekämpfen. Deshalb war er der grausamste Feind. Lautlos und unsichtbar fiel sein Schwert herab und keine Waffe war ihm gewachsen.
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Es waren der Wind und die schwache Berührung einer kalten Hand, die sie weckten.
Sofort schoss ihr Kopf in die Höhe. Chajas Augen trafen sich mit denen aus brennendem Frost, die sie in den Schatten gesehen hatte und die aus einem Gesicht leuchteten, das ein Totenschädel hätte sein können.
Sie rang nach Atem und wich zurück, bis ihre Wirbelsäule auf den hölzernen Schrein des Grabes traf. Ein Albtraum. Das muss ein Alptraum sein.
„Du hast nach mir gerufen. Hier bin ich."
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𝐀 𝐍 𝐌 𝐄 𝐑 𝐊 𝐔 𝐍 𝐆 𝐄 𝐍
Wer mag das bloß sein?
Ich hoffe, dieses Kapitel war gerade am Anfang nicht allzu konfus. Ich wollte viel mit Doppeldeutigkeit bzw. Andeutungen ohne alles klar auszusprechen spielen, weiß aber nicht, wie gut das geklappt hat und noch weniger, ob die Übersetzung dem einen Gefallen getan hat.
Diesem fragwürdigen Versuch eines Volkslieds jedenfalls nicht, das ironischerweise sogar das "Original" ist, also zuerst als Notiz (für Slaves of War) auf Deutsch existiert hat, und dann für die englische Version der Geschichte übersetzt wurde... Irgendwie funktionierts auf Englisch besser. Darf ich mich damit rausreden, dass es in morotenischer Sprache total toll klingt? :'D
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