IX. Unter den knochigen Armen der Kiefern
VOM TODE UNBERÜHRT
IX. Unter den knochigen Armen der Kiefern
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Dorkas Schreie weckten nicht nur die Familie, sondern das ganze Dorf und verweigerten damit der Stille Lasow wieder zu verschlucken. Doch niemand wagte es, seine Hütte zu verlassen. Stattdessen starrten sie nur in die Nacht hinaus und flüsterten Gebete an Svet, sie zu beschützen.
„Was geht hier vor?" Abram kam aus dem Haus gerannt, die Waffe in der Hand. Direkt hinter ihm folgten zu Chajas Entsetzen Uljana und Ilja: die Augen weit aufgerissen, das Mädchen das kleine geschnitzte Kaninchen an die Brust gepresst, der Junge ein Stück Holz wie ein Schwert umklammert – und viel zu nahe an der Leiche ihrer Schwester.
Während Majda ihn nicht einmal zu hören schien, sprang Chaja auf und versperrte ihnen Weg und Sicht. „Geht wieder rein."
„Was ist los?", wiederholte ihr Vater seine Frage, die Dringlichkeit in ihrer Stimme und ihren Augen ignorierend.
„Du blutest!", quiekte Ulja.
Chaja zwang ihre gefühllosen Lippen, sich zu einem ruhigen Lächeln zu verziehen. „Ist nur ein kleiner Kratzer. Du weißt doch, wie ungeschickt ich sein kann."
„Nein. Ihr seid alle nachts draußen, du blutest, und mamotschka ist seltsam. Sie weint." Ulja trug die Bürde, genau zu merken, dass nichts in Ordnung war, ohne zu wissen oder auch nur erahnen zu können, warum.
Im Gegensatz zu den Kindern konnte ihr Vater über Chajas Kopf hinweg auf diese Szenerie des Grauens blicken, die das weiße Feld in Blut badete.
„Chaja, du sagst mir besser sofort..." Seine Stimme zitterte.
Sie hätte nicht gewusst, wie sie auf seine Fragen antworten sollte, aber jemand anderes erlöste sie von dieser furchtbaren Aufgabe, noch bevor Abram zu Ende gesprochen hatte. „Der Wolf, Gospodin."
Ihr Kopf schnellte herum, nur um dicht neben sich Davor zu entdecken, der sich ihnen wieder schweigend und unglaublich leise genähert hatte.
„Er ist tot." Der Soldat beugte sich zu den Geschwistern hinab. „Es gibt keinen Grund mehr, sich zu fürchten." Und bevor Ilja antworten konnte, dass er das ohnehin nicht tat – schließlich war er doch der zweite Herr des Hauses und zukünftiger Soldat und viel zu mutig für kindische Angst – und dafür bereits den Mund öffnete, fügte Kazminov mit einem Blick auf das Holz in seinen kleinen Fingern hinzu: „Oder zu kämpfen."
„Ihr habt also gegen den Wolf gekämpft?", fragte Ilja.
„Und Chaja hat Euch geholfen?" Ulja sah ihn mit ebenso leuchtenden Augen an wie ihr Bruder.
Oder hatte er ihr geholfen? Wäre Kazminov nicht gewesen, hätte sie dann dort an Vanjas Stelle im Schnee gelegen, wie Daniil zerrissen von kalten Klauen, durch die kein Blut mehr floss? Hatte er sie gerettet? Ein weiteres Mal?
Davor zögerte und musterte Chaja, die die Finger auf ihre Wunde presste, bevor er sich wieder den Kindern zuwandte. „Ja."
Nur für Abram hörbar, begann der Soldat ihm jedoch ins Ohr zu flüstern, was sie in dieser Nacht wirklich heimgesucht hatte, was seine Schwester so erschüttert hatte.
„Jetzt geht zurück ins Bett und schließt die Tür, damit die Notschnitzy nicht reinkommt", bestimmte Chaja schnell und schob die Kinder zurück in die Wärme des Hauses. Der Gedanke an die nächtlichen Dämonen, die die Menschen im Schlaf heimsuchen sollen, erschien ihr fast angenehm im Vergleich zu dieser schrecklichen Stimme, die es jede Nacht tat. Zumindest vor ihnen hatte ihre Großmutter sie mit Talismanen beschützt. Was schützte sie jetzt?
Sie lief zurück zu Majda, die immer noch im Schnee kniete, in derselben Position, in der Chaja sie verlassen hatte.
„Du solltest auch reingehen", meinte sie und legte ihr sanft die Hand auf die Schulter. „Du wirst dir eine Erkältung einfa–"
„Warum passiert uns so etwas?"
Chaja versteifte sich.
„Warum? Was haben wir getan, um so bestraft zu werden? Gehen wir nicht jede Woche in den Tempel? Beten wir nicht morgens, mittags und abends zu Svet? Geben wir unsere kleinen Opfergaben nicht den Alten Göttern? Behandeln wir Karatschun nicht jeden Mittwinter wie unseren Gast?"
„Das tun wir", krächzte Chaja.
„Warum dann das alles? Liegt es an mir? Habe ich beim letzten Mal etwas falsch gemacht?" Während der letzten Wintersonnenwende war Majda an der Reihe gewesen, ihr Essen, ihren Mantel und ihr Leben zu bieten und das erste Feuer auf dem Friedhof anzuzünden, um symbolisch an die tapfere Vasilisa zu erinnern. Chaja konnte sich noch gut daran erinnern, wie Majdas Gesicht unter ihrer Kopfbedeckung vor Freude und Nervosität geglüht hatte. Weder Lasow noch Karatschun hatten je ein schöneres Mädchen gesehen, das den Segen des Todesgottes erbat.
„Nein. Nein! Natürlich nicht!" Wenn überhaupt, dann war sie es gewesen.
Ich muss dir etwas gestehen. Ich höre Stimmen... sehe Schatten... sie haben mir gesagt, dass der Tod kommen wird, dass die Toten hungrig sind. Die Worte brannten ihr auf der Zunge, aber Majda vereitelte den Versuch, ihr all das zu gestehen, mit einem einzigen Blick aus tränenerfüllten Augen.
„Aber warum sollte er das dann tun? Was haben wir getan? Was hat Vanja getan, dass ihr das zustoßen musste?", fragte Majda.
Chajas Lippen öffneten sich. „Ich –" Nein, sie konnte es ihr nicht sagen. „Ich weiß es nicht."
Es war keine Lüge. Letztlich wusste sie gar nichts. Die Entscheidung, ihr Geheimnis auch jetzt für sich zu behalten, ließ ihre Seele jedoch vor Schuldgefühlen schmerzen.
„Ich werde alles tun, um es herauszufinden. Aber nicht heute Nacht. Komm ..." Chaja nahm Majdas Hand, half ihr auf die Beine und führte sie zum Haus.
Nachdem Abram die ganze Geschichte gehört und seine Nichte, seine Schwester und seine Tochter blutüberströmt zurückkommen sehen hatte, fehlte ihm die Kraft, sich zu fragen, wie Dorka so unbedacht hatte sein können, in die Nacht hinauszulaufen, um ihre tote Jovanka zu holen; keine Energie, sie für verrückt zu erklären, weil sie sich so in Gefahr gebracht hatte.
„Abram Abramovitsch, kann ich Ihren Neffen morgen mitnehmen?", fragte Davor.
„Meinen Neffen ... morgen ...", wiederholte er langsam und wirkte plötzlich unglaublich alt. „Warum?"
„Niemand findet das Grab eines Upir's so gut wie ein unschuldiges Kind."
Als ob er ihm nicht ganz zugehört hätte, nickte Abram und murmelte geistesabwesend: „Natürlich."
Chaja wollte etwas sagen, aber ihre Stimme versagte und als sie glaubte, die richtigen Worte gefunden zu haben, waren der Soldat und Abram bereits weg, um das Holz für den Scheiterhaufen zu holen. Ein letztes Mal blickte Majda zurück in den Wald, als wüsste sie, dass Karatschun dort war.
„Herr des Winters und des Todes, wenn ich Euch verärgert habe, vergebt mir bitte. Bestraft mich, wie Ihr wollt, aber lasst meine Familie in Frieden", forderte sie und mit jedem Wort spürte Chaja, wie sich ihre Hand fester um ihren blutenden Arm schloss. Fast so, als erwarte sie, dass etwas passieren würde, hielt Majda für einen Augenblick den Atem an.
Aber es gab keine Antwort – weder für sie noch für Chaja.
Mit einem zittrigen Atemzug sammelte sich Majda und betrat das Haus, während sie selbst zu ihrem Missfallen noch draußen blieb und versprach, ihr gleich zu folgen. Als die Tür geschlossen war, blieb Chaja ganz allein zurück. Sie ließ sich von der Winternacht umfangen, bis sie ihren Körper nicht mehr spüren konnte. So passte er zu ihrem leeren Herzen.
Sehnst du dich so sehr nach dem Tod, törichte kleine Hexe, dass du ihn überall suchst?, strich ein Windhauch über ihre Wange.
Chaja erstarrte, als die Nacht sie ansprach, als wolle sie sie an ihr Geheimnis erinnern, an die Schuld, die an ihren Eingeweiden nagte. Eine Hexe, die bereit ist, eure Söhne und Töchter an den Dämon des Winters zu verfüttern, den Meister des verfaulten Fleisches, hatte der Priester gesagt. War sie das?
„Wenn ich mich ihm stellen muss, um meine Familie zu schützen, werde ich das. Was willst du von uns... von mir?" Hoffentlich konnte sie niemand drinnen hören und keiner der Männer würde genau jetzt zurückkommen, um sie im Gespräch mit einem unsichtbaren Wesen vorzufinden.
Hüte dich vor dem, der keine eigene Stimme besitzt. Hüte dich vor dem, der keine eigenen Augen hat. Hüte dich vor dem, dessen Seele nur eine halbe ist. Jetzt war die Stimme so leise wie ein Atemhauch, doch sie ignorierte ihre Frage.
„Wer bist du?", flüsterte Chaja in die Dunkelheit. „Wer bist du?"
Und sie antwortete. Der, den du eingeladen hast und jetzt nicht einlassen willst.
Ein Schauer lief ihr über den Rücken, wie die Berührung untoter Finger, die tödlichen Klauen eines Upir's. Einen Moment lang glaubte sie sogar, eine unsichtbare Hand zu spüren.
„Ich hab nicht den Tod eingeladen. Ich habe dich nicht eingeladen – ich will, dass du gehst. Verlass Lasow."
Und doch hast du meinen Namen gerufen ...
„Du hast mein Blut genommen", Chaja schmierte es, während sie sprach, in den Schnee, „Mladens Schlaf, den Verstand meiner Tante, Vanjas Frieden und Daniils Leben. Ist das nicht genug? Was willst du noch von uns?"
Schweigen.
Es gab so vieles, das sie sagen wollte, und so wenig davon konnte sie aussprechen. Trotz ihrer Wut musste sie ruhig bleiben. Es war nicht klug, Geister und Götter zu verärgern.
„Gosudar', ich flehe Euch an, zu gehen." Ein letztes Mal starrte sie in den dunklen Wald und schloss dann die Tür hinter sich, um alles, was dort lauerte, endgültig auszusperren.
Noch immer blies der Wind die Stimme gegen das Holz. Triff mich unter den Ästen der Kiefern ...
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𝐀 𝐍 𝐌 𝐄 𝐑 𝐊 𝐔 𝐍 𝐆 𝐄 𝐍
Ich weiß, das Kapitel ist sehr kurz. Aber irgendwie wollte es weder so recht zum vorherigen passen, noch zum letzten, dessen Ende mir so mehr als perfekt erschienen ist. Dafür kommt das nächste auch ein wenig schneller :)
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