III. Gebete und Flüche
VOM TODE UNBERÜHRT
III. Gebete und Flüche
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Der Priester erzählte ihnen eine Geschichte, die so abscheulich war, dass Chaja sie sich niemals hätte ausdenken können. Eine Geschichte von Chaos, Tod und Schrecken, die die Länder durchstreiften, die Karatschun aus dem Reich der Mythen auferstehen ließen und die tiefsten Ängste aus ihrem leichten Schlummer weckten. Diesen Mittwinter würde Karatschun mit Hilfe einer Hexe unter ihnen zurückkehren und Lasow, nein, ganz Morotenija heimsuchen.
Als er geendet hatte, vergrub Uljana ihr tränenüberströmtes Gesicht in Chajas Kleid, und Ilja, dessen Gesicht bis zu den Lippen erbleicht war, griff nach der Hand seiner Schwester, ebenso wie Majda nach ihrer. Unter dem Esstisch verschränkten sich ihre steifen Finger, als fürchteten, sich schon im nächsten Moment zu verlieren.
Dorka fiel auf die Knie und betete. Ihr ganzer Körper zitterte unter lautlosem Schluchzen. Abram beobachtete die Szene lediglich, aber mit grimmigem Blick, der zeigte, er wäre bereit, seine Familie zu schützen. Um jeden Preis.
Und als sie kurz davor waren, in den dunklen Abgrund der Angst zu stürzen, führte der Priester sie zurück ans Licht. Er streckte die Hand nach Dorka aus, legte seine knorrigen Finger auf ihren Kopf und lächelte sanft.
„Du musst keine Angst zu haben, Kind. Svet hat uns zu dir geschickt, um dich zu beschützen. Er wacht über uns alle", sprach er mit einer so warmen und hellen Stimme, als käme sie von Svet selbst. Und als wäre der Priester tatsächlich seine Verkörperung, umklammerte Dorka seinen Kaftan und tränkte dessen Stoff mit kindlichen Tränen.
Die Szene verweilte noch in Chajas Gedanken, als sich längst Schlaf übers Haus legte. Selbst Ulja konnte sich in ihrem warmen Bett auf dem Ofen einkuscheln und sich in ihren Träumen vor all dem Schrecken über Karatschun, böse Hexen und Verlust verstecken. Aber zu Chaja wollten er nicht kommen.
Vielleicht, weil sie nicht aufhören konnte, über diese Hexe nachzudenken, die Lasow beherbergen sollte.
Vielleicht, weil die Anwesenheit des namenlosen Priesters und seines Soldaten Davor Kazminov zu schwer auf diesem Haus lastete und durch jeden ihrer Atemzüge spürbar zu werden schien.
Vielleicht, weil sie, obwohl sie es nicht zugeben wollte, ebenfalls Angst hatte.
Karatschun zurück, um Leid und Tod zu bringen – konnte das denn sein? Chaja wusste sehr wohl, dass ein Teil von ihm real war. Er war der Mangel, der verhungern ließ, die Kälte, die erfror, das Fieber, das dahinraffte. Der Tod hatte viele Gesichter. Doch er war an diese Formen gebunden, um ein menschliches Leben zu nehmen, und kam immer, egal wie grausam, natürlich.
Aber konnte er denn wirklich der Fremde aus den Märchen sein, der um Mitternacht an die Tür klopfte, gerufen von einer vyed'ma? Hörten die Alten Götter die Stimme einer einfachen Hexe überhaupt?
Als Chaja selbst im Zorn seinen Namen geschrien hatte, war Karatschun jedenfalls nicht gekommen, sei es, um zurückzugeben, was er ihr genommen hatte, oder um sie für ihr Fehlverhalten zu bestrafen. Er reagierte ebenso wenig auf sie wie Svet.
Chaja kuschelte sich tiefer in ihre Decken, die ihr keine Wärme zu geben vermochten, denn die merkwürdige Kälte, die sie erzittern ließ, saß zu tief, als dass sie durch bloße Felle vertrieben werden konnte. Draußen weinte der Wind wie ein mutterloses Kind.
Chaja. Chaja, flüsterte er.
Sofort versteifte sie sich. Nein. Unmöglich!
Mit geweiteten Augen starrte sie ins schemenhaft beleuchtete Zimmer, unfähig sich zu rühren. Ihr letzter Atemzug blieb ihr im Hals stecken. So lauschte sie angestrengt auf ein weiteres Geräusch, suchte nach einer verräterischen Bewegung.
Was war das? Ein seltsamer Schatten an der Wand? Zu dunkel, geformt wie eine ominöse Hand, die nach ihr griff?
Doch im nächsten Augenblick war das, was sie zu sehen geglaubt hatte, verschwunden, und alles, was blieb, war Licht, das die Dunkelheit in den Ecken des Raumes verbannte, das Heulen eines Wintersturms und Majdas leise, regelmäßige Atemzüge neben ihr.
Chaja atmete aus und zwang sich, sich zu entspannen. Hörst du schon wieder Stimmen im Wind? Närrin. Was war sie jetzt anderes als ein dummes Kind, das sich jetzt vor seinen eigenen Geschichten fürchtete?
Und wenn es stimme, wenn diese Männer die Wahrheit sagten, wenn Karatschun auf dem Weg nach Lasow war – dann sollte er doch kommen. Diesmal würde sie nicht zulassen, dass er jemanden mit sich nahm. Niemals.
Mit diesem Gedanken, einem ernsten Gesichtsausdruck und geballten Fäusten fiel Chaja in einen unruhigen Schlaf, in dem sie von unheimlichen Schatten, den Warnungen des Priesters und eisblauen Augen heimgesucht wurde. Als würde jemand Einlass in ihren Geist verlangen, verfolgte ein heiseres Flüstern sie durch die Nacht. Bitte, lass einen einsamen Wanderer zur Wärme deines Herdes. Es gehört sich nicht, einen Gast draußen frieren zu lassen.
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Unruhe breitete sich nicht nur in ihrem Haus, sondern im ganzen Dorf aus, sobald die Fremden es betraten. Chaja konnte sich nicht erklären, wie, aber die Nachricht von ihrer Ankunft verbreitete sich in Lasow wie ein Lauffeuer und als der Schneesturm schließlich zu einer sanften, aber eisigen Brise abgeflaut war, konnte niemand die Dorfbewohner länger davon abhalten, die Sicherheit ihres Izby zu verlassen, um mehr zu erfahren.
Das Herz Lasows bildete ein Gebäude, das jedes andere überragte, obwohl es nicht das schönste des Dorfes war, sondern ein bloßer Kadaver eines Hauses, der mit seinen scharfen Knochen den Himmel zerschnitt. Alt und mit schiefen Dächern, trug es das Gewicht von Jahrhunderten auf seinen Säulen; ihr dunkles Holz zeigte noch immer die Schnitzereien aus der Zeit, als die alten Götter in diesen Hallen verehrt wurden, die nun, da sie ihre frühere Macht verloren hatten, einem neuen Bewohner weichen mussten. Nicht einmal Svet hatten sie ein besseres Zuhause zu bieten als einen Tempel, den er mit den Erinnerungen an die Tage teilen konnten, als er hier noch fremd war.
Chaja spürte, wie ihre Schritte schwerer wurden, als sie in den grauen Morgen hinaustrat und sah, wie alle zum Gottesdienst strömten. Nicht nur, um Svet für das Ende des Schneesturms zu danken, sondern auch, um einen Blick auf ihren über Nacht eingetroffenen neuen Prediger zu erhaschen.
Ein sanfter Lufthauch ließ ihr Geschwätz zu Chaja wehen, und obwohl ihr Blick unbeirrt auf dem Tempel vor ihr ruhte, spürte sie die fremden Augenpaare auf sich gerichtet, wie sie ihre Familie und die Gäste streiften, auf denen sie schließlich verharrten.
„Ist das der Priester? Dieser blinde alte Mann?", flüsterte einer missbilligend.
„Sagt man nicht, dass die Blinden die Gabe haben, als einzige Svet zu sehen? Nichts Weltliches kann ihnen die Sicht trüben", antwortete ein anderer.
„Was macht das schon? Sie müssen Adelige sein. Habt ihr nicht ihre Kleidung gesehen? Mit Sicherheit kommen sie mindestens aus Drehask – was sage ich, Bielograd!"
Nicht einmal Majda, deren Gesicht eine seltsame Entschlossenheit ausstrahlte und die so fein gekleidet war, als würde sie im Tempel ihre eigene Hochzeit erwarten, erntete außer der Bemerkung einer Bäuerin die übliche Anerkennung der kleinen Menge. „Wie schön Majda Iosifovna heute aussieht! Würde sie nicht gut zu dem hübschen jungen Herrn neben ihr passen?"
Chaja biss die Zähne zusammen und versuchte, ihrem Gerede keine Beachtung zu schenken.
„Dieser hochnäsige Kerl? Das ist doch lächerlich", antwortete eine Stimme so verärgert, dass ihr Kopf nun doch unwillkürlich in die Richtung ihres Besitzers zuckte. Als sie die Frauen einholten, erschien an ihrer Seite ein Junge, kaum älter als sie selbst, den Chaja sofort als Mladen erkannte, einen der Bauernjungen, die ihr Herz an ihre Cousine verloren hatten.
Von all ihren Verehrern war er der Einzige, den Majda zu bemerken schien. Immerhin warf sie ihm manchmal ein paar amüsierte Blicke zu, ab und zu ein Lächeln und freundliche Worte, die sein Gesicht aufleuchten ließen wie die Berggipfel in der Morgensonne. Er hätte nicht glücklicher aussehen können, wenn eine Prinzessin selbst ihm ihre Liebe versprochen hätte.
Und von all ihren Verehrern war Mladen auch der attraktivste. Vielleicht war er für das harte Leben eines Bauern zu schmächtig gebaut und manche hätten seine jugendlichen Züge für femininer als erwünscht gehalten, doch trotz dieser sogenannten Makel war er stark und gesund. In ihm steckten eine Ausdruckskraft und Sensibilität, die die Herzen von Mädchen auf eine Weise erwärmten, wie es seinen derben Altersgenossen nicht möglich war. Wahrscheinlich hielt er es für eine Schwäche und schämte sich für seine törichte Weichheit, ohne zu wissen, dass es ihn für so manche noch begehrenswerter machte. Das Auffallendste aber war, dass seine Schönheit noch nicht verwelkt war.
„Lächerlich? Er sieht aus wie ein Prinz", antwortete eine der Frauen und erntete damit die Zustimmung der anderen. In ihrem Säuseln schwang die geheime Sehnsucht mit, an Majdas Stelle zu sein: „Noch einmal jung zu sein; von Stand; schön genug, um die Zuneigung eines so charmanten Fürsten zu verdienen ... Vielleicht könnte das Leben dann wie in den Märchen sein."
„Nein... Sie... Sie würde niemals ..." Während Mladen sich noch an einem spöttischen Grinsen versuchte, schlichen sich schon Scham und Eifersucht in sein Gesicht und malten rote Flecken auf seine sonnengebräunten Wangen. Als ob er Majdas Zustimmung erwartete, blinzelte er in ihre Richtung.
Heute beachtete das Mädchen ihn jedoch nicht. In Mladens schwarzen Augen schimmerte die Verzweiflung eines Kriegers angesichts einer unausweichlichen Niederlage – ein grausamer Spiegel für Chajas Herz.
Sie wandte sich sofort ab und überschritt die Schwelle ihres noch leeren Tempels, der sie dunkel und kalt empfing. Bis zum heutigen Tag hatte Chaja Zärtlichkeit für diesen verfallenen Ort empfunden, aber jetzt fühlte es sich an, als hätte er sich gegen sie gewendet.
Denn er ließ den Priester und seinen Soldaten eintreten. Unter dem ewigen Licht stehen. Von der Plattform aus dieselben Worte des Schreckens sprechen wie gestern, mit einer sanft donnernden Stimme, die die Säulen mit den Symbolen des alten Gottes Veles erschütterte.
Verängstigte die Menschen in Lasow, bis sie sich aneinanderklammerten, zitternd und um Svets Gnade flehend, um dann wieder auseinanderzutreiben wie sturmumtostes Wasser, wobei in ihrem Inneren die misstrauische Angst vor ihren Nachbarn wuchs, denn jeder könnte der Verbündete des Todesgotts sein.
Und dann erlaubte der Tempel ihnen, den Dorfbewohnern Rettung vor Karatschuns hungrigen Reißzähnen zu versprechen und sie mit Gebeten aufzurichten. Die Halle mit einem Gesang zu füllen, der so schmerzhaft schön war, dass er wie ein Messer in die zitternden Herzen glitt. Um all ihre Liebe und Dankbarkeit zu verdienen.
Chaja hatte ihren Platz bei den anderen Frauen eingenommen, der einst ihrer Großmutter gehört hatte, und ihre Lippen verliehen den Gebeten eine neue Bedeutung, als sie sie für die anderen aus der heiligen Sprache übersetzte. Wie immer. Aber sie kam nicht umhin, den scharfen Schmerz des Verrats zu fühlen, als sie sah, wie sich ihr kleines Haus Svets dem Willen des Priesters beugte.
Sie wollen uns doch retten. Warum werde ich dann das Gefühl nicht los, dass das falsch ist?
Weil Angst etwas Schreckliches ist, antwortete sie sich selbst mit den Worten ihrer Babuschka, die ihr immer gesagt hatte, dass vor Svet keine Angst, sondern Liebe herrschen müsse.
Und so erhob Chaja ihre Stimme, um sich gegen die des Priesters aufzulehnen, die von unten widerhallte. Ihre Gebete vermischten sich in einem seltsamen Krieg, der dem Tempel, der nur schläfrige Gottesdienste kannte, fremd war. Einen Moment lang erwartete sie, dass die Mauern einstürzen würden, aber das Gebäude blieb völlig unbeeindruckt.
Die Menschen hingegen nicht. Als Chaja nach unten sah, fing sie für einen Moment Davor Kazminovs strengen Blick auf. Sofort wandte sie sich wieder ab, doch irgendetwas sagte ihr, dass er immer noch auf ihr lag, als das Gebet bereits zu Ende war und der Priester und sie schwiegen. Das Mädchen wagte es jedoch nicht, hinzusehen, sondern blickte stur auf die Frauen vor sich.
In ihren Gesichtern spiegelten sich Gefühle, die Chaja nicht genau benennen konnte. War es Überraschung? Besorgnis? Missbilligung? Sie wusste es nicht, nur dass sie sie ansahen, wie sie es noch nie getan hatten, und ihre gelähmten Zungen stolperten über vereinzelte Worte. Schließlich gaben sie den Versuch auf, ihre Gedanken auszusprechen und verließen begleitet von drückendem Schweigen ihre Plätze.
Nach einem zittrigen Atemzug folgte Chaja ihnen.
„Eine kräftige Stimme hast du, Kind", bemerkte der Priester, ohne den Hauch einer Andeutung, ob es ein Kompliment oder ein Tadel sein sollte.
„Lasow braucht jetzt starke Stimmen." Die Worte entkamen ihr schärfer als beabsichtigt.
Mit einem knappen, verlegenen Lächeln trat Dorka zwischen die beiden. „Sie hat ihre Position von meiner Mutter geerbt, möge sie in Svets liebenden Armen ruhen, und versucht manchmal zu eifrig, in ihre Fußstapfen zu treten. Verzeiht ihr, Vater."
„Einer Seele, die Svet mit solchem Eifer preist, muss man nichts verzeihen." Das faltige Gesicht des Priesters erweichte sich zu einem Lächeln, das Chaja so ätzend wie Säure erschien, bevor er sich zum Ausgang wandte. Aber Dorka ließ es erstrahlen.
„Trotzdem muss ich mich für die Schroffheit meiner Nichte entschuldigen. Sie ist noch jung und mutterlos aufgewachsen, versteht Ihr? Aber sie hat ihr Herz am rechten Fleck. Oh, Ihr müsst ihre Gebete lesen. Sie sind die schönsten, die in ganz Morotenija geschrieben wurden. Und niemand singt sie besser als meine Majda. Vater..."
Ihre Stimme verhallte zusammen mit der aller anderen, als Chaja sie aus den Augen verlor, nur dieses eine Wort blieb wie ein stechender Dorn in ihr zurück. Mutterlos.
Damit ließen sie sie allein in der düsteren Kirche zurück.
Eine Weile stand das Mädchen einfach nur da und lauschte den atmenden Hallen, bis ihr eigenes sich dem Takt anglich. Durch kleine Ritzen strömte kühle Luft herein, vermischte sich mit dem muffigen Geruch und ließ das Holz knarren wie alte, erschöpfte Knochen.
Als sie ein Kind gewesen war, hatte ihre Großmutter ihr gesagt, sie solle sich auf den Boden legen und lauschen. Zuerst war nichts zu hören gewesen, aber dann – ein leises Pochen, wie ein Herzschlag. Dieser Ort fühlte sich manchmal wie ein eigenes Wesen an. Die freundliche, alte Mutter von Lasow.
Jetzt tat es Chaja ihrem jüngeren Ich nicht gleich, sondern schritt auf eine der Säulen zu. Ihre Finger folgten den Schnitzereien und damit den Spuren ihrer eigenen Berührungen, die sie im Laufe der Jahre dort hinterlassen hatte. Mutterlos, erinnerte sie sich an Dorkas Aussage. Selbst jetzt schmeckte dieses Wort nach hässlichem Mitleid. Außerdem war es einfach falsch.
Ja, vielleicht war sie genau das: das siebte glückliche Kind, dem der Tod nicht den Atem raubte, bevor sie überhaupt das erste Mal Luft holen hätte können. Ein Wunder für eine Familie, die jahrelang geglaubt hatte, dass sie niemals ein Baby in den Armen halten würde. Allerdings kein wahres, denn Karatschun rief diesmal stattdessen die Mutter zu sich und ließ das traurige Glückskind, an dessen Körper noch das Blut der Frau klebte, die sie gerade ermordet hatte, in den Hände ihres weinenden Vaters zurück. Das Mädchen hatte ihn schweigend angesehen, als bereue es, mit solcher Gewalt in die Welt gekommen zu sein, würden die Leute sich erzählen.
Aber dennoch wuchs Chaja nicht mutterlos auf. Sie hatte in einer anderen Frau eine Mutter gefunden und sie vor drei Jahren begraben. An einem Tag, der wie der Leichnam selbst in Weiß gehüllt war, hatte wieder einmal Wacholder den Weg der Familie bedeckt. Von Dornen zerkratzte Finger hatten Blumen zwischen die kalten, steifen Finger gelegt, die Chaja nicht als dieselben erkennen wollte, die ihr Haar geflochten, ihre Tränen abgewischt und ihr Fieber gelindert hatten. Trotzdem wollte sie damals nicht loslassen, was bereits verloren war.
„Ich habe Euch singen gehört", unterbrach eine Stimme gewaltsam ihre Gedanken.
Chaja wandte sich um und sah sich Auge in Auge mit Davor Kazminov. Groß, edel gekleidet und schön, wirkte er in dieser alten Halle schrecklich fehl am Platz. Wenn überhaupt, dann ließ die Dunkelheit im Inneren das Licht um ihn herum noch heller scheinen. Wie ein Irrlicht. Denn für sie bestand kein Zweifel, dass er die Fähigkeit besaß, genauso zu verzaubern und zu täuschen.
Chajas Lippen öffneten und schlossen sich wieder, auf der Suche nach einer passenden Antwort, die es nicht zu geben schien. „Es ist nicht höflich, sich so an jemanden heranzuschleichen, mein Herr", murmelte sie schließlich leise vor sich hin.
Kazminovs fest geschlossene Lippen verzogen sich zu einem entschuldigenden Lächeln, als er sich verbeugte. „Ich bitte um Verzeihung, Chaja Abramovna. Ich wollte Euch nicht erschrecken."
Sie merkte, wie ihre Stimme wieder zu ihr zurückkehrte und ihr Körper sich versteifte. „Ich habe mich nicht erschrocken."
Davors Augen durchsuchten die ihren, durchbohrten sie mit einem scharfen Blick, der direkt zu ihren Gedanken und ihrem Herzen vordringen wollte, während der einzige Anflug von Freundlichkeit sein Gesicht wieder verließ.
„Das seid Ihr nie, wie es scheint", sagte er ernst. In seiner Antwort schwang offensichtlich ein tieferer Sinn mit, das verriet sein Ton unmissverständlich. Doch welcher, wusste sie nicht.
Chajas Magen verkrampfte sich. „Selten."
„In einem Schneesturm herumwandern und gegen Karatschun kämpfen wollen ..." Als sie seinem Blick nicht mehr standhalten konnten, senkte sie ihren zu seinen Hüften, wo gestern noch ein Schwert gebaumelt war. „... seltsam furchtlos für ein junges Mädchen."
„Das ist die Tapferkeit der Familien Raskin und Saroka. Wir verschwenden unsere Zeit nicht mit Angst. Aber das eine ist Eure Pflicht, nicht meine. Ihr werdet doch gegen Karatschun kämpfen, nicht wahr? Wenn Ihr also besorgt seid, Gospodin ..."
„Das bin ich in der Tat. Ich habe Euch gehört und mit den anderen Frauen gesehen", wiederholte Kazminov. Vielleicht hätte sie das nicht so sehr beunruhigen sollen, aber Chaja konnte nicht anders. Anders als der Priester schien der Soldat nicht nur unzufrieden darüber zu sein.
„Es tut mir leid, wenn meine Stimme Euch nicht gefallen hat. Meine Cousine ist wesentlich talentierter." Sie wollte amüsiert klingen, um die Spannung zu vertreiben, aber es gelang ihr nicht.
Davor Kazminov zeigte nicht die geringste Reaktion, vielleicht hörte er ihr nicht einmal zu. „Passt auf Eure Seele auf, Chaja Abramovna. Sie ist ein empfindliches Ding und wird nur allzu leicht von Dunkelheit beschädigt."
„Was versucht Ihr mir zu sagen, Gospodin?", zischte Chaja wie ein Tier, das in der Falle eines Raubtiers saß und angreifen würde, sobald es einen Schritt näherkam. Doch sie konnte es nur mit Worten und Blicken tun, denn ihr Körper – mit ihrer zusammengepressten Kiefer, angespannten Muskeln und ihren Nägeln, die sich in die hölzerne Säule gruben – fühlte sich wie erstarrt. Chajas Herzschlag trommelte in ihren Ohren und verschluckte fast den Klang ihrer eigenen Stimme.
Der Soldat trat zwar nicht weiter auf sie zu, aber senkte kaum merklich den Kopf zu ihr. Jedes seiner Worte blieb ein leises Flüstern, und doch spürte Chaja die scharfe Kante jeder Silbe. „Deine Stimme verwandelt Gebete in Flüche. Welches Geheimnis du auch immer in deinem Herzen verbirgst, Djewuschka, seid sicher, ich werde es herausfinden."
In Chajas Kopf drehte sich alles. Plötzlich fühlte sich der Boden unter ihr nicht mehr fest an. Was auch immer Kazminov als nächstes sagte, sie konnte es nicht hören. In ihren Ohren klangen immer noch seine früheren Worte nach, die sich wiederholten und langsam das ganze Gewicht dieser Anschuldigung offenbarten.
„Da bist du ja, Chaja! Mama hat überall nach dir gesucht." Majda kam leichtfüßig wie eine Vila ins Gebäude gerannt, bevor sie überrascht direkt vor ihnen beiden stehen blieb.
„Gospodin", begrüßte sie Kazminov mit einem kleinen Knicks und leuchtenden Augen. „Meine Mutter und mein Onkel würden sich freuen, wenn Ihr uns beim Essen Gesellschaft leisten würdet."
„Es wäre mir eine Ehre." Davor strahlte wie ein von Sonnenlicht berührter Eisnebel, voll trügerischer Wärme. Selbst der schönste glitzernde Schnee blieb für die Hände, die es wagten, ihn zu berühren, eben beißend kalt.
Majdas rosige Lippen verzogen sich zu einem kleinen Lächeln. „Das Vergnügen ist ganz auf unserer Seite." Dann packte sie die immer noch betäubte Chaja und zog sie mit sich. Als ihre Füße den Schnee berührten, brach sie in ein Kichern aus, wie ein Kind, das durch den weißen, glänzenden Pulverschnee tanzt. Der sanfte Druck ihrer warmen Hand holte Chaja in die Realität zurück.
„Und jetzt sag mir, worüber habt ihr beide gesprochen?", fragte Majda mit einem gewissen Hunger in ihrem Ton und Grinsen.
Deine Stimme verwandelt Gebete in Flüche.
Chaja schluckte.
„Über nichts. Gar nichts."
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𝐀 𝐍 𝐌 𝐄 𝐑 𝐊 𝐔 𝐍 𝐆 𝐄 𝐍
wovon könnte Davor wohl sprechen? ;)
ich melde mich hier unten mal wieder, um eine kleine Zwischenfrage zu stellen. Ja, ich weiß, meine Unsicherheit kommt wieder zum Vorschein, aber: was haltet ihr bis jetzt hiervon?
Ich hab immer noch das Gefühl, dass die Geschichte auf Deutsch nicht recht funktionieren will, aber hab keine Ahnung wieso. Also auch Kritik ist mehr als erwünscht!
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