XII
Die Stimme ließ lange auf sich warten.
Seit Tagen regnete es nun schon, und obwohl jeder kleinste Rest von Schnee bereits weggewaschen worden war, hörte es einfach nicht auf. Als wollten die Wolken die Welt von allem Unreinen befreien, von Schmutz und schlechten Gedanken, von Schuld und dunklen Gefühlen, regnete es, und regnete und regnete, und bald konnte niemand mehr mit Sicherheit sagen, dass es je anders gewesen war.
Das Ewige Licht sah meist aus dem Fenster, sah den Tropfen an der Scheibe bei ihren Wettrennen am Glas entlang zu, zählte die leisen plings!, wenn ein weiterer Tropfen seinen Weg auf den Kirchenboden gefunden hatte, und wartete. Und dann, eines Tages, wurde sein Warten belohnt.
»Das ist eine wundervolle Metapher,« sagte die Stimme, nachdem das Licht ihr von seiner Erkenntnis erzählt hatte. »Und wenn ich sie richtig verstanden habe, dann ist der Kern der Sache, dass...«
»... Ich mich selbst definieren muss«, unterbrach das Licht sie. Seine Stimme klang fest, und statt wie sonst hin und her zu tanzen, stand aufrecht und fast völlig still. »Ich lebe für mich, und alle anderen sind die Nebencharaktere in meiner Geschichte, so wie ich es in der ihren bin.« Die kraftvolle Stimme des Lichtes hallte durch die Kirche, und für einen Moment schien sein Gesprächspartner sprachlos.
»Ich glaube,« sagte die Stimme endlich, und die Worte wogen schwer, »du brauchst mich jetzt nicht mehr.« Sie klang sowohl stolz als auch traurig, und es hatte seltsamerweise den Anschein, als ob sie dies schon sehr oft gesagt hatte.
Wieder war es lange still, und schließlich gegann das Ewige Licht zu verstehen, was dies bedeutete.
»Heißt das, dies der Abschied?« Es war den Tränen nahe.
»Eher ein auf Wiedersehen«, sagte die Stimme, und zum ersten Mal schien sie zu schwanken.
»Was? Wie meinst du das?«, rief das Licht verzweifelt, doch es war zu spät. Die Stimme war fort.
In den nächsten Wochen hörte das Ewige Licht immer öfter den Menschen zu, die in die Kirche kamen und weiße Vögel fliegen ließen, bis es irgendwann bemerkte, dass es sich mit den Vögeln selbst unterhalten konnte. So hörte es faszinierende Geschichten voller Liebe und Trauer, voller Wut und Ängsten, voller Schuld, Reue und Hoffnung. Es besuchte exotische Orte, war Gast in fremden Welten und sah Dinge, die es zuvor niemals für möglich gehalten hätte. Es erweiterte seinen Horizont ins Unermessliche, und musste erkennen, dass es sich selbst dort verloren hätte, hätte die Stimme ihm nicht sein Ich gezeigt.
Es fand sich selbst in den Augen der anderen, und es fand seine Seele in einer fremden Welt.
Doch aus jeder Wunderwelt kam es wieder zurück, denn es war seine eigene Welt, in der es leben musste – es hätte sich verloren ohne das Wissen, dass keines der gesehenen Wunder größer war als jene, die es selbst den anderen in seiner Welt zeigen konnte. Das Licht war wichtig, doch wichtiger war seine Welt, weil es die seine war.
Und als das Ewige Licht schließlich erlosch, da wusste es, dass seine Welt weiterleben würde. Ein letztes Mal noch konnte es die Stimme lächeln hören, dann wurde es dunkel in der Kirche, und schwarze Vögel flogen auf.
Nur ein kalter Lufthauch zog einsam seine Bahn.
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