X

Als die Stimme zurückkehrte, wusste das Ewige Licht, weshalb es wichtig war. Es wusste um die Macht der Hoffnung, und es wusste um die Bedeutung seines Tanzes. Es hatte verstanden, dass sein Wert in den Seelen der Menschen lag, und in den Augen der jungen Frau hatte es einen Glauben erkannt, den es, so sein Schwur, mit all seiner Kraft bewahren würde.

Und als draußen Tausende von Sternen funkelten, von denen jeder einzelne einem Menschen beim Navigieren auf einer schier endlosen See half, hob die Stimme endlich an zu sprechen.

»Du weißt es.« Wie der Wind eines lange vergangenen Sommers wehten die Worte durch die Kirche.

»Ja. Ja, ich habe verstanden.«

Das Gemäuer war völlig ausgekühlt. Selbst die Kerzen konnten keine Wärme spenden, denn sie brauchten jedes bisschen Energie für sich selber, und beinahe jede Erinnerung an die lebensspendenden Sonnenstrahlen des Sommers waren von der unbarmherzigen Hand des Winters getilgt worden. Eisblumen wuchsen auf den bunten Bleiglasfenstern, und die kunstvollen Türen waren vom Frost überzogen. Es war, als hätte das Herz der Welt aufgehört zu schlagen, und das Blut war in den Adern stehen geblieben und hatte sich zunächst abgekühl, um dann völlig zu gefrieren. Der Winter hatte an die Tür geklopft, und die Zeit hatte ihm bereitwillig geöffnet.

»Aber du hast noch eine Frage, nicht wahr?«

Das Licht zögerte lange, und als es schließlich doch seine Stimme erhob, schien es kaum gegen die stechende, stets präsente Kälte anzukommen.

»Warum ich?«, hauchte es.

»Zufall, würde ich sagen.« Es klang, als zucke die Stimme mit ihren Schultern.

»Aber wie kann es Zufälle geben, wenn es Gott gibt?«

Die Stimme lachte leise, und nur für einen kurzen Augenblick schien Wärme die ganze Kirche zu durchfluten. »Vorhersehung, Magie, Zufall, eine uns noch unverständliche Physik – Welchen Unterschied macht das? Was bringt es uns, über die Motive von etwas zu sinnieren, das auf ewig unergründlich bleiben wird? Du bist wichtig, du bist das Ewige Licht – das ist alles, was zählt. Nicht wahr?«

Das Licht seufzte und sah hinauf zur hoch gewölbten Decke der Kirche, auf welcher der Schnee lastete wie schon vor hunderten von Jahren.

»Wahrscheinlich, ja. Es ist nur so... Es scheint so willkürlich, und gleichzeitig so passend. Als sei alles subtil vorherbestimmt – wie sollen wir dann etwas verändern? Ist es dann nicht egal, wie wir uns entscheiden? Sind dann nicht alle unsere Anstrengungen vergebens?«

»Fühlst du dich denn, als würdest du gelenkt? Fühlen sich deine Entscheidungen unpassend oder vorherbestimmt an? Ich glaube nicht, dass diese Welt gelenkt wird. Aber wenn doch... dann wurden wir als die perfekte Besetzung unserer Rollen geboren, nicht wahr?«

»Wahr und falsch... sie würden nicht zählen. Nichts würde zählen. Alles wäre gleich. Einerlei. Und Menschen, die leiden... leiden für nichts. Wegen nichts. Eine vorherbestimmte Welt wäre verdammt kalt.«

Durch die Stille, die nun eintrat, wurde die Eiseskälte in der Kirche noch einmal deutlich spürbarer als zuvor. Sie kroch in jeden Winkel und berührte selbst die Kerzenflammen, ließ das Blut in den Adern und die Gedanken in den Köpfen der wenigen Anwesenden gefrieren und beherrschte die Stille wie kein Geräusch es gekonnt hätte. Die Kälte war wie eine Melodie, unendlich filigran und zerbrechlich, wunderschön und voller Gefühl – und nichts desto trotz eiskalt und tot. Sie erfüllte die Stille mit ihrer lebensfeindlichen Melodie, sie sang eine Hymne auf die Sterblichkeit – noch nie hatte sich das Ewige Licht so lebendig gefühlt wie in diesem Augenblick. Es spürte, wie das Leben in ihm pulsierte, es zitterte und fror und freute sich des Lebens. Es brannte wie selten zuvor, es kämpfte gegen die betörende, einschläfern Musik der Kälte und wollte nichts anderes als lichterloh in Flammen stehen.

Die Eisblumen an den Fenstern standen ihren bunten Namensvettern in puncto Schönheit um nichts nach, und wo der Duft ihnen fehlte, da machten sie es mit ihrer kalten Melodie wett. Wie konnten sie so schön und doch so leblos sein? So zerbrechlich und schwerelos wirken und doch so schwer auf der Welt lasten? Wie konnte eine Entscheidung etwas bedeuten, wenn es keine Alternative gab? Einmal mehr blieb das Licht mit einer Erkenntnis zurück, die mehr Fragen als Antworten bot.

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