IV
Das Licht sah gelangweilt aus dem Fenster und seufzte. Es war ein grauer Tag. Heute gab es keine Muster auf den Fliesen zu bestaunen und keine Wunder in den Wolken zu entdecken. Der Himmel war verhangen und um die Kirche zog der Wind seine Bahn. Hier und da verfing er sich in den Nischen und Ritzen des alten Gemäuers, bahnte sich seinen Weg hinein und ließ die Kerzenflammen flackern. Es roch nach Regen.
Zum ersten Mal schaute sich das Ewige Licht deshalb die wenigen Menschen an, die still in ihren Bänken saßen, sich umschauten oder teils auch mit gesenkten Köpfen leise murmelten. Heute war kein Gottesdienst, das wusste es, doch trotzdem waren diese Menschen hier – das fand es seltsam. Welchen Grund konnte es geben, außerhalb der Gottesdienstzeiten in eine Kirche zu gehen? Welchen Sinn hatte es, zu beten, wenn kein Priester einen hören konnte?
»Seltsam, nicht wahr?«
Im Nachhinein hätte das Licht wohl bestritten, wie sehr es sich gerade erschreckt hatte.
»Sie sitzen hier und beten zu Gott, ohne jemals wissen zu können, ob er ihnen zuhört oder ob er sie überhaupt hört. Sie hoffen auf seine Liebe, ohne ihn zu kennen. Sie vertrauen ihm blind, ohne zu wissen, ob es ihm gibt. Sie widmen ihm ihr Leben, ohne zu fragen, was sie als Gegenleistung bekommen. Und sie bauen ihm prachtvolle Häuser, in denen er nie wohnen wird.« Das klang, als hätte die Stimme es schon sehr oft gedacht, aber niemals gesagt.
Das Ewige Licht überlegte kurz. »Woher willst du wissen, dass er nicht hier wohnt?«
Die Stimme lachte leise. Es klang freundlich, aber es schwang auch ein wenig Mitleid darin mit. »Wie soll etwas so Großes wie Gott in einer so kleinen Kirche wohnen? Der Himmel ist ihm kaum genug, und da soll er hinabkommen in diese Kirche?«
»Ich glaube, du siehst das falsch.« Es kostete das Licht hörbar seinen ganzen Mut, so mit der Stimme zu reden. »So wie das Feuer sich zum Himmel reckt, so beten auch die Menschen hinauf zu Gott. Weder das eine noch die anderen erwarten, dass der Himmel plötzlich zu ihnen hinabsteigt und all ihre Träume erfüllt – sie wollen vielmehr, dass er ihren Träumen Flügel verleiht, damit sie den Menschen, die auf einem Meer der Hoffnungslosigkeit verloren gegangen sind, den Weg zum Festland zeigen können.«
Die Stille, die darauf folgte, wurde nur von gelegentlichem Rascheln unterbrochen, welches die wenigen Betenden durch ihre vorsichtigen Bewegungen zu unterdrücken versuchten.
»Eine schöne Metapher.« Die Stille klang ehrlich berührt. »Aber was ist mit den Menschen, die nur für sich selbst beten?«
»Die sind wohl selbst verloren gegangen.«
Das Licht wusste, dass es keine Antwort drauf erhalten würde, zumindest nicht heute.
Es verbrachte den Rest des Tages damit, sich vorzustellen, wie sich die Gebete der wenigen Menschen zwischen den Bänken in die Luft erhoben, zu winzigen weißen Vögel wurden und in der Kirche umherflatterten, um schließlich irgendwo unter der hohen Decke ein Schlupfloch zu finden. Sie würden hinaus gelangen in eine große, unbarmherzig weite Welt, um am Ende in einer großen Wolke um einen einzelnen Menschen herum zu kreisen, in dessen Augen sie sich wie tausend kleine Diamanten spiegeln und die Hoffnung in sie zurückbringen würden.
Weshalb nur war die Stimme nicht selbst darauf gekommen?
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