I

Wie eine Perle löste sich ein weißer Tropfen Wachs vom Rande der Kerze und rann hinab zum Fuße des Kerzenständers. Auf seinem Weg hinterließ er immer wieder kleinere Tropfen, die sich wie eine Kette an den wächsernen Leib der Kerze schmiegten und ihr ein erhabenes, beinahe stolzes Aussehen verliehen. Umringt von kostbaren Kleinoden aus Silber und Gold, die der Grund für das neue und angeblich besonders sichere Schloss in der altehrwürdigen Kirchentür waren und die im Schein der Kerzenflammen verheißungsvoll funkelten, wirkte die reinweiße Perlenkette etwas fehl am Platz, als sei sie aus Versehen dort abgestellt und vergessen worden.

Doch genau dort gehörte sie hin. Sie, die das Heiligtum, die Seele dieser Kirche bewahrte. Die bemalten Decken, die steinernen Säulen, die bunt verglasten Fenster und nicht zuletzt die kostbaren Kleinode waren nur für diese Kerze hier versammelt, oder eher für die Flamme, die von der Kerze mit der Perlenkette beherbergt wurde und die neugierig flackerte beim Versuch, sich ihr neues Zuhause ganz genau anzuschauen. Sie bewunderte das hohe Gewölbe, bestaunte die hölzernen und mit kunstvollen Schnitzereien verzierten Türen und frohlockte ob all der Dinge, die sie noch nicht entdeckt hatte, als plötzlich eine Stimme hinter ihr erklang.

»Guten Abend.« Die Stimme war wie der kostbare Umhang eines jener Männer Gottes, gefertigt aus schwerem, weinrotem Samt, mit einer erhabenen, goldenen Kette, jede ihm gegebene Wärme haltend und jedes allzu laute Geräusch abdämpfend.

Die Flamme sah sich um, konnte jedoch niemanden entdecken.

»Hallo? Wer bist du? Wo bist du?«

»Das könnte ich ebenso gut dich fragen.« Die Stimme klang, als würde sie lächeln, was der Flamme sehr suspekt war – wie sollte denn eine Stimme lächeln, die keinen Körper besaß? Wie überhaupt konnte es denn eine Stimme ohne Körper geben?

Die Stimme schien ihre Gedanken erraten zu haben.

»Ich klinge, als würde ich lächeln, und du fragst dich, warum, nicht wahr? Nun, du bist eine Flamme und kannst sprechen, kannst dich umschauen, kannst denken und fühlen – warum sollte ich dann nicht reden und lächeln können, ohne einen Körper zu besitzen? Warum sollte das Leben nur euch warmen, hellen Geistern vorbehalten sein, die ihr aus dem Feuer geboren werdet und am Ende nur zu Asche und Staub verbrennt? Ich komme aus den Weiten der Dunkelheit, aus dem kalten Land zwischen den heißen Sternen und bin so ewig wie die Einsamkeit selbst. Mich gab es vor dir, und mich wird es noch nach dir geben. Kein Mensch wird mich jemals zähmen, niemals werde ich gefesselt werden an einen Docht, niemals eingesperrt hinter Glas. Und nun sage mir, Ewiges Licht, womit verdienst du dir deine Stimme?«

Die Flamme war eingeschüchtert. Im Laufe der Rede war sie immer weiter geschrumpft, bis sie sich nun mühelos hinter ihrem Docht verstecken konnte.

»Ich-«, sagte sie kleinlaut, »ich weiß es nicht.«

»Dann werde ich dir helfen, es herauszufinden«, entschied die Stimme.

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