Von Krieg und Gloria
Noch während die rauchende Stimme des Feindes mit tiefen Klang im todbringenden Krachen und Bersten des Sperrfeuers verschluckt wurde, hastete Konstantin los.
Jeder seiner steifen Schritte hechtete über den aufgerissenen Untergrund, der wie von einer fremden Welt wirkte. Vielleicht war es das auch. Dieser Krieg, der schien schon lange nicht mehr einen Funken Menschlichkeit zu besitzen. Der Weihnachtsfrieden war nur nur den Hauch einer Illusion von etwas Süßem wie Frieden.
Doch diese beinahe schon philosophischen Gedanken wurden von hämmernden Schmerz erdrosselt. Jeder Schritt jagte glühende Wellen der Pein durch seinen Körper, während jeder Knochen seines Mittelfuß zu zerbersten schien. Jede Bewegung ließ das Gefühl von Zerbrechen nur noch weiter brüllen, tosend wie das Kreischen der Geschosse, die den Himmel in brennenden Linien durchteilten. Aber zitternd und mit fest zusammengebissenen Zähnen schleppte sich Konstantin voran. Das tiefe Blau seiner Augen fixierte eine Barrikade von Sandsäcken und zerrissenem Stacheldraht, der matt im fahlen Licht schimmerte. Nein, er heftete seinen Blick an den Abgrund dahinter, der den Schlamm verschluckte und mit schiefen Palisaden ausgebaut worden war.
Es war die rettende Tiefe eines Schützengrabens. Ein Tunnelsystem im Osten, Richtung Heimat. Es war das Zeichen von Verbündeten und Rettung.
Aber egal wie sehr jeder Schritt Qualen durch seinen Körper jagte und ihn zum Straucheln brachte, die Sicherheit rückte kaum näher, denn sein Stolpern und Wanken ließ seine Füße im Schlamm versinken. Stattdessen brauste der Lärm der Schlacht auf. Wurde mit jeder Sekunde, mit jedem verzweifelten Schritt so schrecklich viel lauter.
Aus dem toten Winkel seiner Augen und dem Ruß in der Luft klammerte sich eine Hand um Konstantins Schultern. Automatisch zuckte der Firmenerbe zusammen, wollte zischend herumwirbeln, nur um in das schlammige Graugrün von runden Augen und in kantige Gesichtszüge zu starren.
„Ich bin nicht in ein Feuer gesprungen, nur damit du jetzt hier in Fetzen gerissen wirst!", knurrte der Brite und hastete los. Über Dreck und Stacheldraht. Mit den schnellen Schritten der großen Gestalt schleifte der Feind seinen wankenden Gegenüber achtlos hinter sich her. Schwarze Punkte tanzten in dem Sichtfeld des Leutnants, denn das harte Schmettern seines humpelnden Fuß auf den verkohlten und zerstörten Dreck wurde nicht von dem Hechten des englischen Unteroffiziers gedämpft. Nicht im geringsten.
Ein Fauchen bahnte sich den Weg aus seiner Kehle, doch ein kräftiger Schlag auf den Rücken katapultierte den Leutnant über den Rand des Schützengrabens.
Für einen Herzschlag setzte der Hohlmuskel in seiner Brust aus.
Doch schon im nächsten Moment presste der Aufprall alle Luft aus seinen Lungen. Dumpfer Schmerz krachte durch seinen Körper und ein atemloses Keuchen entrang sich seiner Kehle.
Reflexartig stemmte Konstantin sich hoch und schnappte krächzend nach Luft. Jeder seiner ruckartigen Atemzüge rasselte für wenige Momente durch die Luft, die gefüllt war mit mit Smog und stummen Tränen.
Seine Augen hatten sich zu funkelnden Schlitzen zusammengekniffen, als er sich wankend erhob. Der Schmerz in seinen Gliedern war taub, vibrierte n seinen Knochen wie ein tiefer Klang eines hohlen Objekts. Irgendwie unwirklich, wie dieser gesamte Moment.
„Das war aber nun wirklich nicht nötig!", keifte Konstantin, als er sich vehement den Staub von der grauen Uniform klopfte und erbittert gegen die Falten ankämpfte.
Aber sein Gegenüber lachte nur. Er kicherte regelrecht. Automatisch krampften sich seine Hände um die lederne Binde an seiner um seinen Hals baumelnden Fliegerbrille, deren Gläser hilflos zersprungen waren und in einem lautlosen Scherbenregen funkelnd zu Boden fielen.
Das Gesicht des Leutnants verzog sich zu einem unwilligen Ausdruck, als er seine Lippen verhärmt aufeinanderpresste.
Lachen.
Freude.
Spott. Das alles waren Eigenschaften, die aus der Realität zu fallen schienen. Hieran war nichts schön. Nichts war erleichternd oder hoffnungsschenkend. Hier mussten all diese positiven Gefühle wie die Leben Unzähliger verenden.
Ja, er hatte überlebt. Eine Sache, die noch vor wenigen Minuten schrecklich unmöglich schien. Doch jetzt war er im Herzen einer Schlacht gestrandet. Allein mit einem Feind, in dessen bräunlicher Uniform die rasiermesserscharfe Klinge eines Messers stumpf schimmerte.
„Anscheinend ja schon", entgegnete der andere daraufhin, während er einen bedeutenden Blick über seine breiten Schultern warf. „Sonst würdest du nicht wie ein hilfloses Kaninchen über den Boden stolpern, nicht wahr, Hunne?"
Bei diesen Worten krampfte sich Konstantins Gesicht zu einer Maske aus glühender Pein und himmelschreiender Unverständnis. „Wie oft soll ich es noch sagen", fuhr er ihn daraufhin an. Die Stimme des Leutnants bebte bei jedem Wort und der letzte Fetzen Contenance schien zwischen seinen Fingern zu zerrinnen. „Die Hunnen waren ein Reitervolk, das-"
Seine Worte wurden ihm lediglich mit einer wegwerfenden Handbewegung des Briten im Kern erwürgt.
„Allerdings habe ich keinen anderen Namen für dich. Wäre Fritz besser? Oder gleich Kraut? Vielleicht das französische boche?" Ein leises Lachen löste sich von seinen sinnlichen Lippen und schwebte spöttisch durch die staubige Luft, die die Lungenflügel zu verätzen schien und schäumenden Zorn in Konstantin erweckte, wie ein Inferno, dessen meterhohe Flammen rot funkelnd am Himmel leckten. „Immerhin ist es ja auch für Kriegsgefangene notwendig, ihren Namen anzugeben, nicht wahr? Das steht doch in den Haager Landkriegsordnung. Wir können ja schon einmal mit dem anfangen."
Automatisch ballten sich Konstantins Hände zu zitternden Fäusten, während sich diese todbringende Wut wie eine dichte Wolke Giftgas in seiner Seele verbreitete und seine Gedanken eroberte. Oh, wenn er nur könnte... Dann-dann würde er diesen verdammten Tommy...gegen sein Schienbein treten? Ihn schlagen? Kitzeln? Dabei schien es Konstantin eher so, dass es sein Handwurzelgelenk wäre, dass zerbersten würde, wenn er gegen auf die muskulöse Brust des feindlichen Piloten in blinder Raserei einschlagen würde. Dann würde er ihn wahrscheinlich aus diesem tiefen graugrün seiner Augen spöttisch anfunkeln, während das unordentliche Haar im verdunkelten Licht dieses leblosen Ortes in einem perfekten Haselnussbraun schimmerte.... Der Gedanke war einfach unerträglich und auch wohl das einzige, was seiner Stimme einen klirrend kalten Klang verlieh, damit diese nicht wütend in die Höhe schrillte.
„Falls es dir noch nicht aufgefallen ist", fuhr der Offizier betont langsam fort, während sich Furcht und brausende Wut zu einem schmerzhaften Knäul in seinem Magen schlangen, das ihn beinahe in die Knie zwang. „Wir befinden uns auf deutschem Boden. Die Schützengräben dort? Die verlaufen nach Osten. Ins Kaiserreich. Vielleicht wäre es angebracht, noch einmal zu überdenken, wer von uns beiden als Kriegsgefangener enden wird."
Doch statt wie sein Gegenüber den Anderen verbittert zu fixieren, breitete sich auf den Zügen des Briten nur ein abschätziges Lächeln aus. Eigentlich war es nur das kurze Zucken seiner Mundwinkel.
Mit einer raschen Geste griff er nach dem stumpf glänzenden Flachmann, spielte mit dem Verschluss, der immer wieder mit einem hellen Kreischen gegen das ausgebeulte Metall stieß.
„Das waren einmal eure Gräben, definitiv", räumte der Pilot ein, nur um mit vieldeutigem Blick fortzufahren. „Aber wo sind eure Soldaten? Sollten die nicht eigentlich hier sein? Für mich sieht das hier ziemlich verlassen aus. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis wir dieses...Ding in dieser Offensive einnehmen." Demonstrativ stieß der Unteroffizier mit seinem verschmutzten Schuh gegen eine abgebrochene Röhre aus Metall, dessen Oberfläche verräterisch schimmerte und ein fahles Silber an die verrotteten Palisaden warf. Mit einem dumpfen Ton sprang es dumpf scheppernd über dem Boden, nur um den Bruchteil eines Moments später in der Feuchtigkeit des Schlamms zur Hälfte verschluckt zu werden.
Es hätte von einem Gewehr stammen können. Vielleicht einer Stiehlhandgranate. Oder war es eine zurückgelassene Hülse der Munition eines Artilleriegeschützes? Aber eins war klar; es war ein Zeugnis des Todes. Was würden wohl die Historiker denken, die in Jahrzehnten, ja vielleicht sogar Jahrhunderten, diesen Splitter aus Schlamm und Dreck befreiten? Würden sie sich Fragen, welche blinde Raserei die vorhergehenden Generationen zu diesem sinnlosen Grausamkeiten getrieben hatte?
Mittlerweile konnte Konstantin nicht einmal mehr sagen, wieso er kämpfte. Er kannte sein persönliches „warum". Seine Überzeugung, die ihn mit schweren Herzen und dunklen Gewissensbissen durch dieses Meer aus Blut waten ließ.
Aber wenn er sich die Totenmeere ansah, die ganze Städte ausfüllen konnten und ganze Völker in Trauer und Angst ersticken ließen, dann schien der Tod des österreichischen Prinzen Franz Ferdinand in Sarajevo ein schrecklich obsoleter Grund für dieses grausige Massensterben.
Trotzdem presste er seine Lippen fest aufeinander, unterband den brennenden Drang danach, diesem Sergeant unter die anscheinend mehrmals gebrochene Nase zu reiben, dass dieser Rückzug nur Teil des Plans war. Ein Zahnrad in ihrer Strategie, die eine gesamte komplizierte Maschine darstellte. Aber wenn ein Zahnrad ausfiel, gestoppt von kaum mehr als einem Sandkorn, dann kam alles zum Sitllstand.
Und wenn er das Stattfinden des Unternehmen Alberich auch an diesem trostlosen Schlachtfeld verriet.... Besonders Worte, die im brodelnden Zorn gesprochen wurden, sandten Wellen nach sich, die das Vorstellungsvermögen sprengen konnten.
Stattdessen beließ es Konstantin bei einem simplen: „Wir werden schon sehen. Solange niemand von uns hier stirbt, sollte es doch halbwegs...erträglich sein. Außerdem sind das keine Dinger, sondern Schützengräben. Der vorderste in diesem System, wenn man genau sein möchte, die hinteren müssten besser ausgebaut sein. Immerhin sind wir hier an der Front."
Als Antwort erhielt er nur ein entnervtes Stöhnen. Ein vollkommen hoffnungsloser Laut, durchsetzt mit maßloser Enttäuschung, auf die beinahe schon...versöhnliche Worte folgten. Oder war es wieder dieser schneidende Zynismus, dessen Silben die Luft zerteilten wie ein Schuss das Herz? Konstantin konnte die emotionale Lage des Briten einfach nicht mehr beurteilen. „Übrigens, ich bin Sergeant William O' Connors, um zum Ursprung dieses Gesprächs zurückzukehren."
Automatisch verschränkte der Offizier abwartend die Arme vor seiner Brust, während er unmerklich auf seiner Unterlippe kaute, nur, damit sich doch Worte knapp über seine Lippen pressten. „Leutnant Konstantin Jules Rosenbaum."
Aber anstatt diese enorme Sinnlosigkeit zu unterlassen zogen sich Williams Augenbrauen nur vielsagend in die Höhe und seine Mundwinkel krümmten sich zu einem belustigten Grinsen.
Konstantin musste die spöttischen Worte seines Gegenübers nicht hören, um ihren Inhalt zu verstehen. Der schmunzelnde Ausdruck und erdrückende Erfahrung flüsterten sie ihm schon längst zu und trotzdem hörte er ihm zu. Musste ihm zuhören. Es war die Art von Worten, gegen die man alles tun wollte, die sich aber unweigerlich in seine Gedanken brannten und seinen Geist fesselten.
„Kein Adliger und sogar noch einen französischen Zweitnamen? Ich habe dich wirklich vollkommen falsch eingeschätzt. Was kommt als nächstes? Bist du eigentlich einer unserer Spione? Ein neuer Lawrence von Arabien, nur in Europa?"
Konstantins Augen verengten sich zu eisig funkelnden Schlitzen, in dessen frostiger Umarmung man hätte ertrinken können, doch es waren seine vor Zorn bebenden Schultern, aus denen die gleißende Abneigung sprach.
„Tatsächlich habe ich nicht vor, wie dieser Mann ein Hetzer zu sein, der unnötige Kriegsschauplätze kreiert", zischte er zwischen zusammengepressten Lippen hervor. „Aber ja, ich spreche sogar noch französisch, falls das deine Fantasie noch weiter anregen kann."
„Französisch? Wofür muss man denn dann bitte schon kämpfen, wenn man sich so perfekt an die Feinde anpassen kann?"
Bei diesen Worten wich alles Blut aus Konstantins Gesicht. Eisige Krallen voller Verzweiflung und unterdrücktem Zorn gruben sich in sein Herz und schienen es zu zerfleischen. Regelrecht zu zermalmen. Dieser eine Satz, dessen Laute so leicht und aufziehend über Williams Lippen geflogen waren, gesprochen in unbedachtem Witz und grinsendem Spott, rissen ihm den Boden unter den malträtierten Füßen weg, die ihn kaum noch halten konnten. Erinnerten ihn an die Gefahr, die ihn jede Nacht aus den Träumen riss und seine Seele zerspaltete und quälte.
Es klang zu sehr nach betäubenden Ohnmacht aus Furcht, die jeden seiner Schritte lenkte. Ihn hierher geführt hatte, voller grimmiger Bitterkeit und dem kleinen Pflänzchen kindlicher Hoffnung, das zwischen Schützengräben und in dem Krieg in seiner Seele heranwuchs. Überschattet von all dem Zwist und der Unsicherheit dieser grauenvollen Welt.
„Du hast keine Ahnung, wie weit du von der Realität liegst." Jeder dieser Worte schien ein Kampf mit seiner Zunge, jeder Laut, jeder Buchstabe schien wie ein endloses Gewicht, das sich auf Konstantins Schultern legte und ihn weiter auf den schlammigen Boden drückte. Doch trotzdem brach dieses Eis um sein Herz, diese Unterdrückung der Furcht und des Zorns. Ja, besonders die Wut züngelte hervor und brachte sein Blut zum Kochen. Endlich konnte er es sagen. Endlich seine Sorgen aussprechen. Was sollte es ihn schon interessieren, was dieser Feind von ihm dachte? Eine hohe Meinung von ihm brauchte er nicht. Bekäme er auch nie, selbst wenn er mit aller Macht um sein Wohlwollen buhlen würde. Ein Krieg und tausende Tote standen immerhin zwischen ihnen.
„Weißt du, was mit dem Elsass geschieht, wenn ihr gewinnt? Wenn Frankreich sich wieder diesen Kontinent unter den Nagel reißt? Man sieht doch schon, wie sie vor drei Jahren Elsässer interniert und eingesperrt haben, als ihre Truppen in meine Heimat einmarschiert sind! Eine Heimat, die ich verlieren werde. Denkst du wirklich, dass eure Verbündeten den Sohn eines deutschen Unternehmers und ehemaligen Offiziers im französisch-deutschen Krieg im Elsass lassen würden? Wenn ich nicht kämpfe, dann ist Elsass-Lothringen wieder französisch und ich heimatlos!"
„Elsässer? Dann bist du ja wirklich ein Franzose", stieß sein Gegenüber jedoch nur lachend hervor und schüttelte langsam seinen Kopf, doch Zynismus durchdrang seine Stimme wie tödliches Gift. „War es aber nicht dein toller Kaiser, der die Elsässer hat erschießen lassen?"
Ein Laut voller Entsetzen und verletztem Stolzes entwich Konstantin keuchend, als er seine Hände gestikulierend in die Höhe riss, nur um für den Bruchteil eines Moments in erdrückende Stille zu zerfallen, die regelrecht vor Anspannung knisterte. Die Luft schien zu zerfasern. Das leise Geräusch eines Atemzugs glich einem Brüllen des Urzorns. Unausweichlich.
„Und die Franzmänner? Was tun sie? Sie verschleppen uns aufgrund Kollaboration und Verrat! Das ist kein Unfall in der Justiz, das ist teuflischer Vorsatz. Ich hasse euch aber nicht, ich liebe aber nur, was hinter mir ist", keifte er zurück, nur um an seinen eigenen Worten regelrecht zu ersticken.
Worte voller Hohn drückten sich an die Oberfläche seiner Erinnerungen. Vergangene Begegnungen, in dem ihm immer Spott in unüberwinbaren Wellen entgegengeschlagen wurde. Es war grausige Häme, gesprochen als Witz oder im bittersten Ernst, in der er beinahe ertrank.
Im alten Gebiet des Kaiserreichs war er ein verhöhnter Franzose, ein Froschfresser und Verlierer eines Krieges, der noch vor seiner Geburt gefochten worden war und doch seine gesamte Identität bestimmte. Doch wäre er wirklich in Frankreich, so würde man ihn als Deutschen oder Kollaborateur brandmarken und ihn auf offener Straße bespucken.
Es war ein ewiger Zwiespalt in seinem Inneren. Ein nie enden wollender Fluch, der ihn in Ketten aus glühender Angst und spottender Ausgrenzung zwang.
Im Endeffekt war es nur eine Entscheidung. Eine, die er nicht beeinflussen konnte, doch die immer und immer wieder hiflos über seinem Kopf beschlossen wurde.
Egal, wie sehr in das Schneiden des Schmerzes bis ins Knochenmark traf und ihn bei jedem einzelnen Schritt zusammenzucken ließ, Konstantin wirbelte mit zusammengebissenen Zähnen herum. Versuchte zwanghaft ein leises Wimmern zu erlöschen, das sich einen Weg aus seinen Lippen kämpfen wollte. Doch noch während er zerrissen von Entrüstung und Angst davonhumpeln wollte, bemerkte er den Schatten, der über Williams kantiges Gesicht huschte. Mit einem Mal verstummte das schelmische Funkeln des Schalks in dem Grün seiner Augen, ließ sie wie ein tristes Meer aus Grau wirken, das Schiffe und Segler verschlang.
„Denkst du wirklich, dass ihr die einzigen seid, die Angst haben? Was denkst du geschieht mit Menschen wie mir? Den Proleten? Der Arbeiterklasse, die mehr zu verlieren hat als nur eine Gehaltskürzung?", spie er ihm erbost entgegen, wie eine Natter, kurz davor ihr Opfer in das siechende Delirium ihres Gifts zu reißen. „Wenn Großbritannien verliert, dann werden die Kriegskosten und Reparationszahlungen unsere Wirtschaft ruinieren. Dann werde ich fristlos entlassen und keine Anstellung mehr finden, weil man sich keine Arbeiter in den Zechen und Fabriken mehr leisten kann! Ich muss nicht einfach die Rheinseite wechseln, ich werde verhungern oder gleich erfrieren in irgendeiner Gosse Liverpools!"
„Ach, und der deutsche Arbeiterklasse würde es in einem Fall der Niederlage besser gehen?", erwiderte Konstantin zischend. Sein wankender Schritt hatte gestoppt. Stattdessen starrte er stur mit bebenden Schultern auf den Punkt vor sich und fixierte eben jene zerrissene Rolle Stacheldraht. Mehr Schmutz als Metall waren zu sehen. Allein einige Kanten funkelten gefährlich.
Zerstört und beschmutzt. Dieser klägliche Anblick schien ein perfekter Spiegel seiner emotionalen Lage. Nur so viel klarer erkennbar, nicht verborgen hinter falschen Versprechungen und Hoffnungen.
Der Sergeant gab nur ein abfälliges Schnauben von sich. „Was weißt du reicher Bonze schon von den Nöten der Arbeiterklasse? Das ist wieder typisch Bourgeoisie. Immer die Nöte der Arbeiter niederreden, aber kaum verlieren sie ein paar Pfund -"
„-Es sind Mark", funkte der Offizier im korrigierend dazwischen.
„Langsam reicht es! Aber kaum verliert ihr euer Geld, geht die halbe Welt unter", echauffierte er sich ununterbrochen weiter. Nein, von dem Bildungsbürgertum würde er sich nicht die Stimme rauben lassen. Eine Meinung, die hatte der Sergeant noch. Bis zu seinem letzten Atemzug und drüber hinaus. Die impulsiven Worte waren sein größtes Heiligtum.
„Falls du es noch nicht bemerkt hast-", begann der Leutnant, der helle Klang seiner steifen Stimme triefte regelrecht vor bitterem Sarkasmus, „-geht die Welt gerade unter."
„Das kannst du dir ja jetzt selbst ansehen", entwich es William spöttisch, als sich seine Lippen zu einem schiefen Lächeln kräuselten. „Immerhin ist dein Englisch miserabel und du bist als feindlicher Soldat inmitten der Front. Wenn du so deinen eigenen Weg weiter einschlägst, dann auch noch allein."
„Das ist immer noch französischer Boden", wehrte sein Gegenüber daraufhin ab. „Mit Französisch werde ich mich im Notfall noch behelfen können. Außerdem befinden wir uns noch immer auf von uns besetztem Territorium!"
„Und ich sehe nicht eine eurer Truppen. Bis auf dein hübsches Gesicht", zog er seinen Gegenüber weiter auf, während seine Mundwinkel sich immer weiter nach oben krümmten. „Auch gibt es noch keine französischen Soldaten in dieser Offensive. Könnte für dich schwierig mit der Kommunikation werden, wage ich mich zu behaupten. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis unsere Streitkräfte diese...Dreckslöcher überrollen."
Ein ungläubiges Lachen sprudelte über Konstantins Lippen und der Offizier schüttelte fassungslos seinen Kopf. Dieser Gespräch, dieser reine Moment schien so schrecklich aus der Realität entrückt...War er vielleicht schon tot? Während des Absturz gestorben? Oder war das ein wirrer Traum seines bewusstlosen Geistes?
„Wenn unsere Schützengräben schon Dreckslöcher sind, wie bezeichnet ihr denn die euren? Als Kloake oder wäre Rattenkäfig genehmer?", antwortete er daraufhin abschätzig. Während Williams Gemüt mit jedem Worte zu überhitzen drohte und sich seine Stimme immer weiter in das Feuer der Leidenschaft steigerte, klirrte Konstantins Stimme regelrecht vor Kälte, überzog diese verschachtelten Gänge mit einer imaginären Decke aus Frost und dem Tod von jeglicher Wärme. „Und sprechen wir nicht gerade Englisch?"
Nun war es an dem Sergeant zu lachen. Sein Glucksen schallte durch die Gassen und brachte seine Worte zum Beben. „Du hörst dir kaum selbst zu, oder? Das ist definitiv kein Englisch. Ich kann dich nur verstehen, weil in den Hinterhöfen meiner Kindheit nicht im entferntesten Oxford Englisch gesprochen wurde. Liverpool war immerhin ein Ort des Welthandels. Aber wie viele können deine...Kartoffelsprache identifizieren?"
Automatisch musste Konstantin mit den Zähnen knirschen. Das betäubende Gefühl der Abhängigkeit kroch wie der Dunst der Nebelschwaden durch seine Glieder und erfüllte ihn mit einem flauen Nachgeschmack, der seine Glieder ersteifen ließ.
„Das heißt, du möchtest mit mir die restlichen Truppen finden? Als Versicherung, falls wir doch auf die Deutschen Verbände stoßen? Oder liegt dir mehr an Spott und Verhöhnung meiner Person", wagte er die finstere Vermutung zu formulieren, die sich aus all den unzähligen Fragen in seinem Kopf schälte.
„Ja, das war eigentlich meine Vorstellung. Immerhin will ich von euch nicht erschossen werden, wie eine unserer unschuldigen Krankenschwestern. Dafür brauche ich aber dich", stimmte sein Gegenüber ihm knapp zu, während der Leutnant das helle Klirren des Metalls seines Flachmanns hörte. "Und mit deinem angeknacksten Fuß kommst du auch nicht weit."
Mit einem Mal erlosch diese Flamme in seinem Inneren, die kalt und dunkel gebrannt hatte. Es waren Funken gewesen, die doch Licht mit Dunkelheit erstickt hatten und ihn mit unbeschreiblichen Schrecken vor erfüllt hatte.
Zumindest drehte sich ihr verschlingender Ausmaß an Furcht leicht herunter. Ganz vernichten konnte es seine Sorgen nicht. Das konnte nur das Ende dieses grausamen Spektakels, das ein einziges Bauernopfer zu sein schien.
Ein Machtspiel und Familienkonflikt, der schon zu lange aus der Bahn gebracht wurde.
„Danke", flüsterte er kratzig. Eine Blockade schien sich sperrend zischen Erregungsleitung und seine Lippen gestellt zu haben und doch kämpfte sein Gewissen das winzige Wort durch seinen Mund.
„Wofür?", kam es irritiert von dem Briten.
Ein zerknirschter Ausdruck setzte sich auf sein Gesicht, als er sich steif zu William umdrehte. Die Bewegung wirkte regelrecht mechanisch. „Dafür, dass du mich nicht hast verbrennen lassen."
Belustigt hoben sich die dunklen Augenbrauen des Sergeant, als er die zierliche Gestalt mit dem fein geschnittenen Gesicht vor sich musterte. Vielleicht, ja wirklich ganz vielleicht und unter einem gewaltigen möglicherweise, konnte er zumindest verstehen, woher seine Ursprünge und Gründe lagen. Er verstand seine Ängste. Die Ängste einer Person, die für ihn eigentlich nur eine herzlose Marionette des Kaisers sein sollte. Doch hinter bunten Propagandaplakaten und dumpfen Parolen steckte mehr. So viel mehr. Eine gesamte Welt mit einer schillernden Geschichte voller Trübheit und Glückseligkeit.
Und unter größtmöglichen Umständen könnte Konstantin auch eventuell einen winzigen Funken Verständnis für Williams Lage aufbringen. Selbst wenn er diesen Gedanken niemals aussprechen würde. Unter keinen Umständen.
Es war erneut Neckerei, die einen aufgeweckten Hauch in den rauen Klang der Stimme des Sergeant träufelte.
„Wenn du den Mund hältst, könntest du vielleicht sogar ganz ertragbar sein."
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