Monchy-le-Preux

Hatten sie vor Stunden noch den Graben des Krieges und Hasses überwunden, so mussten sie ihn jetzt wieder errichten. Entweder sie leugneten, was zwischen dem Zerschmettern der Jagdflugzeuge und dem Aufkreuzen Abinashs geschehen war, oder mindestens William würde wegen Fraternisierung, eventuell sogar Hochverrat, vor das Kriegsgericht gezerrt werden und an Orte wandern, die weitaus schlimmer als das drohende Schicksal des Elsässers von quälend langen Monaten in einem Kriegsgefangenenlager waren. Und Konstantin musste diesen Prozess verhindern, sei es das auch mit seinen letzten verbleibenden Mitteln, die ihm nur spärlich in den Händen lagen. Aber er musste die Kälte und Ausdruckslosigkeit wieder einsetzen, anstatt diesem wilden Pochen in seinem Brustkorb, das nicht nur sein Herz, sondern auch seinen Verstand ins Stocken brachte. Immerhin hatte er diese mögliche Anklage verschuldet – da musste er sie auch wieder zu Asche zermalmen oder gleich aus den Akten brennen.

Also hatte er die Hände erhoben, gab sich seinem Schicksal hin und humpelte über die Trümmer einer von Schmauch und Ruß bedeckten  Ruinenlandschaft und fixierte seine Stiefelspitzen aus zusammengekniffenen Augen. Egal, wie sehr brütende Hitze und frostige Kälte in seinem Körper sein Sichtfeld zum Flimmern brachte, doch selbst zwischen dem stechenden Schmerz und fiebriger Trance erkannte er das erschreckende Desaster um ihn herum.

Der Leutnant konnte nur dafür beten, dass die Zivilisten hatten fliehen können. An diesem Ort waren nämlich die Haager Landkriegsordnung gemeinsam mit dem Gestein in Glut aufgegangen.

Monchy-le- Preux war eine einzige Ruine, die unablässig Rauch zu weinen schien. Das einzige, was noch an die Gerippe der Gebäude erinnerte, waren verkohlte Trümmer die wie abgebrochene Zähne  krumm aus der Erde ragten. Während er mit geschürzten Lippen hinter Abinash herstolperte, der den ächzenden William stützte, da bebte der Boden unter dem Donnern der Artillerie und das Mündungsfeuer ließ gleißende Schemen über die Rußlandschaft blitzen, während Soldaten mit Kisten voller Munition an dem ungleichen Trio vorbeihechteten, damit die Feuersbrunst der Artillerie Batterie dieses Colonel niemals verstummte.

Man sah die Vernichtung, das Leid und den Tod - nur, um ihn weiter zu verbreiten wie eine eifrige Schar an Todesengel, getrieben von Hass, der nicht nur Seelen, sondern ganze Länder verzehrte. Alles nur wegen einem ermordeten Erzherzog und einem schicksalshaften Tag in Sarajevo.

Ihre Schritte stoppten schlagartig vor den ausgebrannten Ruinen eines Hauses, die jedoch noch sachte die Grundmauern des Gebäudes erahnen ließen. Einige Wände, ja ganze Räume schienen den Krallen dieses Wahnsinns getrotzt zu haben. Und über dem verglühten Loch in der Wand, in dem einmal wohl die Tür an ihren Angeln gehangen hatte, spannte sich nur ein von Ruß geschwärztes Laken. Darüber war ein Schild angebracht, auf das man mit Kohle große Buchstaben geschmiert hatte.

Battery command post.

Die wenigen Sekundenbruchteile vor der Entscheidung seiner Zukunft rang sich Konstantin den letzten Hauch der Contenance ab. Einen kühlen Kopf in der Feuersbrunst des Fiebers bewahren, die Schultern straffen und eine Miene aufsetzen, die selbst die Munition der Haubitzen und Granatwerfer erstarren lassen könnte. Aber wenn er ehrlich war, dann war all dies nur die klägliche Verteidigung eines jungen Mannes, der Angst hatte. Angst um ein Leben und die Liebe, die viel zu kurz gewesen waren, um nach kaum mehr als zwanzig Jahren schon zu enden.

Im nächsten Moment erfasste ihn ein dumpfer Schlag eines Gewehrschafts  in den Rücken und von Schmerz getrieben taumelte er hinter dem Inder in die Ruine. Sofort schlug ihm der herbe Gestank nach Alkohol und verbrannter Kohle entgegen. Flocken aus Asche schienen sich an auf die Zunge des Leutnants zu legen.

Als das Pochen der Stiefelsohlen den Raum erfüllte, da zuckte das Augenpaar eines Offiziers von dem Meer aus Taktikkarten, die den ganzen Tisch unter sich begruben, in die Höhe und – nein, korrigierte er sich selbst, kein Augenpaar, allein ein Auge mit einer Iris aus einem schmutzigen Graugrün. Das andere war weiß, erbleicht, vollkommen leblos und erblindet. Allein graue Schlieren zogen durch den milchigen Ton. Diese helle Schattierungen und eine Narbe, die die ganze linke Seite seines Gesichts spaltete, als hätte ein Bajonett auf seinem ganzen Antlitz gewütet, zerteilten die stickige Luft.

„Sir!" Abinash salutierte zackig, während William es kaum zustande brachte, die Hand in einer beinahe schon legeren Geste zu seiner Stirn zu führen, dabei zuckte jedoch kein Grinsen über sein Gesicht, nicht einmal ein Lächeln.

„Was im Namen des Königs-", presste der Offizier hervor, aber William fiel ihm prompt ins Wort. Der Blutverlust und damit den Kapazitäten, Sauerstoff ins Hirn zu transportieren,  hatte wohl die letzten Mauern zum Einstürzen gebracht, hinter dem sich der saloppe Marxist mit dem Fehlen jeglicher Rangordnung versteckt hatte.

„Wollen Sie die kurze Fassung? Ja? Wie Sie sicherlich an meiner und der Uniform unseres verfeindeten aber durchaus liebenswürdigen Gastes erkennen können, haben wir bei der Luftschlacht über Arras heute Morgen den Kürzeren gezogen und sind abgestürzt – wo ich unseren jungen Gesellen hier übrigens heldenhaft gerettet habe, obwohl er mich fast umgebracht hat, um das hier kurz anzumerken."

Schon bei den ersten Sätzen drohte Konstantins Gesicht zu entgleisen. Hätte er so zu seinem Vorgesetzten gesprochen, nur einen falschen Blick gewagt- Konstantin wollte es sich nicht einmal ausmalen.

Vielleicht lag es am Fieber, vielleicht an der sengenden Furcht oder dem lebendigen Tod in diesem Auge, aber Automatisch verengten sich seine Augen zu frostigen Schlitzen, die eher an die Ostfront, hinein in die Eiswüste des Zarenreichs gepasst hätten, als die qualmende Landschaft Nordfrankreichs.

In diesem Moment wollte sich ein Teil von ihm ihn an den Schultern packen, ihn ankeifen und fragen, ob ihm dieses Spektakel nicht schon demütigend genug wäre. Ob dieses Schicksal den nicht schon eine Strafe war, die man nicht mehr mit Hohn ausschmücken musste und er die prekäre Lage nicht begriff - Aber diese Gedanken rissen ab, als seine Stimme zu einem rauen Kratzen zusammenbrach und er einen schwindelerregenden Schritt nach vorne taumelte, der nur von Abinashs beherztem Eingreifen zu keinem Sturz mutierte.  Ab diesem Moment wollte er einfach nur seine Arme um Williams Brustkorb schlingen, ihm über den Rücken streichen  und alles vergessen. Den Krieg, Zuhause, Auguste, den Schmerz, die Kugel in der Schulter des Briten, die Glut des Fiebers, Angst, um Williams unsicherer Zukunft in einer vom Krieg ruinierten Wirtschaft- einfach alles.

Aber weder konnte er der einen, noch der anderen Intuition folgen. Stattdessen blieben seine Füße wie festgefroren auf den schwarz angelaufenen Dielen stehen. Seine Hände zitterten, schwarze Punkte tanzten wie Irrlichter vor seinen Augen, als er dem leisen Krächzen Williams Stimme lauschte, die sich kläglich an Schalk in der Stimme versuchte.

Unter dem prüfenden Blick Evans lösten sich die Worte jedoch vollständig von den Lippen des Sergeants.

„Nun, irgendwie wurde ich währenddessen angeschossen, mein überaus charmanter junger Freund ist halb verbrannt und fiebert und- und ich glaube, es wäre angebracht, wenn wir beide bald einen Truppenverbandsplatz von Innen sehen, Sir. Momentan habe ich nämlich noch eine besorgniserregende Menge Blei in meiner Schulter."

Für einen Moment zogen sich die schmalen Augenbrauen des Colonels zusammen, bevor ihm ein ergebenes Seufzen entwich. „Sharma?"

„Ja, Sir?" Die weiche Stimme des Inders schien in dieser vor Anspannung und fiebrigen Gedanken flirrenden Luft der einzige Ruhepunkt zu sein. Und keinen anderen Eindruck vermittelte das unergründliche Braun seiner Mandelaugen.

„Bringen Sie den Sergeant zu den Oberschwester Prudence. Sie und ihre VAD wissen, wie Sie mit solchen Wunden umgehen müssen. Schicken Sie mir aber noch eine ihrer Hilfsschwestern, aber vorher müssen wir-" Der stechende Blick aus diesem einen Auge schien lebendige Kälte durch Konstantins Glieder zu jagen und selbst das Fieber zu verbannen. „-müssen uns noch vorher unterhalten."

Zögerlich folgte er der Geste Evans, als er abwesend auf eine klapprige Kiste vor dem schartigen Tisch deutete. Aber während er zu dem Platz hinkte und wie konsterniert auf das spröde Holz glitt, schielte er zu William, der gestützt von Abinashs zuverlässigen Arme die Trümmer verließ. Und ein letztes Mal zuckten seine Mundwinkel in die Höhe. Nicht spöttisch, nicht zynisch und auch nicht voller Hohn, dieses Mal bedachte er Konstantin mit dem, was das dumme Herz in seiner Brust beinahe schon Wärme nennen wollte. Genau das Herz, das bei diesem Anblick ins Stolpern geriet – und beinahe erstarrte, denn genau dieser Ausdruck war vielleicht schon der Anfang des Endes ihrer Liaison, die kaum eine gewesen war.

Verbittert von dieser Aussicht, trunken von dieser wohlwollenden Wärme und der brütenden Hitze des Fiebers, die hinter seiner Stirn pulsierte und höherloderte wie die Flammensäule über seiner Albatros, hielt er sich weder für aussagefähig, noch für besonders geistreich. Aber jetzt, im tête-tête mit dem Feind oder zumindest dem Helden einer anderen Perspektive dieser Geschichte, war ihm dies mehr als recht.

„Einheit?", begann der Colonel das Kreuzverhör.

„Jasta 11."

„Der Flying Circus?" War es Misstrauen oder Perplexität, die in seinem Auge aufblitzte? Egal was es war, durch diese Maske der Ernsthaftigkeit konnte er keine Emotion herausfiltern. Noch nicht einmal wirkliche Kälte, einfach nur... nichts.

„Wenn ihr diesen Anglizismus für von Richthofens Einheit als angemessen empfindet, dann ja", erwiderte er jedoch nur ausdruckslos und blickte betont an dem schmalen Kopf des Offiziers vorbei, direkt auf die rußgeschwärzte Holzvertäfelung, die wohl einmal von kunstvollen Gravuren verziert worden war. Möbel aus der Biedermeierzeit lösten sich einfach in Rauch auf, genau wie es alles tat, was einen Biedermann ausmachte. Tönte man noch in Reden und Propaganda von Ehre und Vaterlandsliebe, so waren diese spätestens in den Schützengräben verrottet. Stattdessen waren Machthunger und Verblendung aus den Gräbern gestiegen. Zumindest musste man das denken, wenn ganze Städte und Dörfer zu Kollateralschäden wurden.

Für einen Moment hob sein Gegenüber nur eine Augenbraue, irgendwo zischen Abfälligkeit und Resignation.

„Name? Rang?" Das wiederum klang beinahe schon gelangweilt. Oder eher – angespannt. Es gab wohl höhere Prioritäten, wenn man hunderte Menschen als Schutzbefohlene hatte, als die Informationen als eines jungen Offiziers des Gegners. Allein dieser Gedanke reichte aus, damit der Nachhall Adalberts haltloses Kichern seine Gedanken heimsuchte, nur, damit sie mit einem Schlag abrissen und die Stille seines Todes hinterließen.

Er musste schlucken. Beinahe klang seine Stimme schon zittrig, als er genau die Antwort gab, die er vor Stunden auch William gegeben hatte. „Leutnant Konstantin Jules Rosenbaum."

Nun war es wahrhaftige Überraschung, die für einen Moment die Maske des anderen brach. Doch keinen Wimpernschlag später war da wieder diese forschende Ausdruck auf seinen Zügen, selbst der milchige Ton des toten Auges schien in Konstantins Seele zu schneiden. „Rosenbaum. Das ist nicht nur der Name der industriellen Marionette des Kaisers, sondern auch der neue Nachname der Schwester des Général-"

„Général de corps d' armée Antoine Lemaire. Offizier des Corps technique et administratif. Eigentlich trägt er wegen der Tarnung  seiner elsässischen Herkunft den Namen seiner Frau. Korrekt wäre sein Nachname Agenstein-Lemaire", vervollständigte Konstantin den Colonel tonlos. Es hatte einmal eine Zeit gegeben, da hätte ihn dieser Name mit einer Emotion gefüllt. Eine verwirrende Mixtur aus Sehnsucht und Angst, Ehrfurcht und Hass, Enttäuschung und sogar ein Funke Bewunderung. Aber jetzt hatte er sich damit abgefunden. Der Krieg hatte klare Grenzen gezogen. Grenzen, die er einhalten musste und die für die dumpfe Leere gesorgt hatten, die ihm bei dem melodischen Klang des vertrauten Namens nun erfüllte.

„Sie kennen sich?" Wieder diese hochgezogene Augenbraue.

„Nicht persönlich", war die knappe Antwort, aber noch während er die letzten Silben sprach, tanzten wieder die dunklen Flecken vor seinen Augen und verschwammen mit den Schemen des Raumes. Selbst die harten Zügen des Colonel verschwammen wie Farbe, die vom Regen hinfortgespült wurde.

„Und jetzt?", zwang er sich über die spröden Lippen. „Ich gehe einmal davon aus, dass Sie mich kaum erschießen werden. Zumindest hoffe ich das."

„Sie haben recht, das könnte ich mit meinem Ehrgefühl nicht verantworten", erwiderte der Brite und löste sich mit einem schwachen Seufzen vom Tisch, nur um einen unergründlichen Blick auf einen verkohlten Balken zu werfen, der wie ein Schwert aus der rußigen Decke ragte. Dieser schwarze Film aus Asche und Schmauch hatte sich wie ein Leichentuch über den gesamten Ort gelegt. „Aber solche Hoffnungen sind gefährlich, vergessen Sie das nicht." Bei diesen Worten deutete er unmerklich zu seinem blinden Auge.

Im nächsten Moment wandte sich der harte Blick aus diesem einen Auge wieder zum Elsässer. „Geben Sie mir ihre Erkennungsmarke."

Erst blinzelte Konstantin, dann wanderte seine Hand unter seine Feldbluse, direkt vorbei an dem weichen Einband des Skizzenbuches, zu der winzigen Kette mit dem Metallanhänger auf den Mann seine groben Daten gestanzt hatte.

In der folgenden Sekunde streckte er dem Colonel den matt schimmernden Gegenstand entgegen. Danach ein leises Brechen, das hell in der Luft flirrte, als der Brite den Gegenstand an der Sollbruchstelle in zwei Teile spaltete.

Konstantin musste schlucken. Genau dies tat man, wenn man den Leichnam eines Kameraden sah. Man nahm die eine Hälfte an sich, damit so der Tod des Mannes nachgewiesen werden konnte. Die andere Hälfte blieb beim Toten, damit die Leiche identifiziert und die letzten Überreste zu den Angehörigen geschickt werden konnten. Zumindest falls es noch etwas zum Begraben gab. Natürlich, hier war es nur eine Maßnahme, um seine Aussagen zu überprüfen und das Kriegsgefangenenwesen zu kontrollieren – doch trotzdem machte sich Bitterkeit in seiner Magengrube breit.

Klimpernd landete das Metallstück in dem unübersichtlichen Meer aus Berichten, Papieren, Karten, Kompass und Feldstecher.

„Die Gefangenen im Offiziersrang werden aufs englische Festland gebracht. Oft nach Donington Hall oder nach Kegworth ins Sutton Bonington Camp. Zumindest, wenn Sie transportfähig sind."

Bei diesen Worten machte er eine unvollständige Geste zu einer Person, die sich unbemerkt in den Türrahmen geschlichen hatte. Im Flackern seines Sichtfelds, konzentriert, die Wortfetzen des Offiziers in seinem Kopf zu logischen Aussagen zu verknüpfen und gefangen in diesem schwirrenden Kopfschmerz hatte er nicht die Gestalt in dem hellblauen Leinenkleid bemerkt, die eine ehemals reinweiße Schürze trug, auf der nicht nur das Kreuz auf ihrer Brust eine scharlachrote Farbe hatte, sondern die bereits koagulierten Blutflecken, die man selbst durch Schrubben mit Salz nicht mehr entfernen könnte, die wie Rubine im Schatten aufleuchteten. Selbst die helle Haube auf den dunklen Locken hatte sich im Kampf mit dem Sterben gelöst und hing ihr schräg auf dem Kopf.

Zu jeden anderem Zeitpunkt hätte es Konstantin als demütigend empfunden, dass man ihm helfen musste, damit er sich überhaupt auf den wankenden Beinen hätte halten können. Doch jetzt war es ihm egal. Schmerz pochte wild in seinen Kopf, seine Gedanken schienen in Flammen und die gesamte Welt drehte sich. Da verkümmerte Stolz schnell zu einer verdorrten Pflanze.

Ganz im Gegenteil, als ihm die mit den Ärmelprotektoren ummantelten Arme der Krankenschwester des Voluntary Aid Detachment vor dem Sturz bewahrten, da erfüllte ihn nur der abgestumpfte Klang von Erleichterung, dass diese Frau ihren Feind half, anstatt ihm den finalen Stoß zu geben. Aber sein leises „Danke" war kaum mehr als ein raues Flüstern. Er wusste nicht, ob seine Worte ankamen oder es eine Antwort gab, als er mit seinem schmerzenden Fuß über die aufgewühlte Erde von Monchy-le-Preux wankte, den Blick fest auf den schmalen Weg vor sich geheftet.

Allein eines stach aus dieser Aschelandschaft hervor.

Plüsch, der sich auf die Straße ergoss. Es war die Füllung eines zerrissenen Stofftiers, das halb unter einem Berg von Schutt begraben lag. Allein die dunklen Knopfaugen starrten ihn noch traurig an.

Es war der letzte Anblick, bevor seine Welt in Nebel versank.

*

Dumpf pochte Schmerz in seiner Schulter. Gedämpft von Analgetika und Angst, die sich mehr und mehr um seinen Brustkorb schlang, bis alles andere in den Hintergrund rückte.

Rastlos starrte William auf den wallenden Zeltstoff, der sich blütenweiß über seinen Kopf erstreckte und ein ganzes Lazarett umspannte wie die Arme einer liebenden Mutter. Nur hatte er in diesem unheiligen Krieg bereits zu viele Mütter gesehen, die ihr sterbendes Kind umklammerten. Und genau diese Erinnerungen bestätigten sich mit dem Verwundeten, der sich links neben ihm au der Pritsche wand. Nein, er schüttelte sich nicht, es waren Krämpfe, die ihm lange keine Schreie mehr entlockten, sondern nur noch hilfloses Ächzen. Das Endstadium von Tetanus und der Gefreite war zu arm gewesen, sich vor dem Schmutz und Blut der Schützengräben dagegen impfen zu lassen. Nein, eine Impfpflicht wie im Kaiserreich gab es im Vereinigten Königreich nicht. Und die hoffnungslose Seele neben ihm zahlte den Preis. Wenigstens konnte Konstantin dieses Schicksal nicht ergreifen. Wohl eine gute Sache, die sie durch die teuflischen Ader der Realität auf verschiedene Seiten verbannt hatte.

Und ihn würden die Krämpfe und das Teufelslächeln auch nicht ergreifen. Dafür hatten die Unmengen an Mittel zur Sterilisation an der Kocherklemme, mit der der Feldchirurg in Ermangelung an besseren Instrumenten die Kugel aus seinem Fleisch geholt hatte, sowie der halbe Liter am Alkohol für die Desinfektion bereits gesorgt. Er hätte Glück gehabt, dass das Projektil nicht gesplittert oder einen Knochen getroffen hatte, was eine Schussfraktur hervorgerufen hätte und aus weitere Entfernung geschossen wurde, hatte der Sanitätsoffizier behauptet, es wäre kein Durchschuss gewesen, nur ein vollkommen harmloser Steckschuss. Alltäglich, nur ein Kratzer. Eine antiseptische Behandlung und ordentlicher Verbandswechsel wäre alles, was er brauche. Débridement sei nicht nötig, hieß es.

Und trotzdem, seine Sorgen ersticken konnten diese Nachrichten nicht. Vielleicht lag es daran, dass er als bettelarmer Arbeiter aus Liverpool nicht die Eloquenz und das Verständnis eines promovierten Mediziners besaß, aber er hatte er das Gefühl, es lag an dem vollkommen bleichen Gesicht der Person, die auf einem Lager aus einer Decke und einem improvisierten Kissen neben dem Soldat mit Tetanus in den Fängen der Ohnmacht schlummerte. Es war die Person, die er noch vor wenigen Stunden geküsst hatte.

Die Sonne sank bereits zwischen entfernten Schreien, blitzendem Mündungsfeuer und der Rußwolke der Artilleriegeschosse hinter die von Schützengräben zerfurchte Landschaft, aber Konstantin hatte sich noch immer nicht gerührt. Oder zumindest kaum. Nur dieses unstetige Senken und Heben seines schmalen Brustkorb verriet noch, dass sein Körper nicht zu den unendlichen Hügeln in der Ferne wanderte, auf denen sich Kreuz nach Kreuz erstreckte. Kein Name stand auf ihnen geschrieben, nur eine Jahreszahl, vielleicht noch ein Helm, sonst nichts. Es war ein Ort, der dem Begriff Niemandsland eine vollkommen andere Bedeutung gab.

Und dann, nach einem gefühltem unerträglichen Millennium, erhob sich die Hilfskrankenschwester mit den dunklen Locken von seinem Krankenbett. Aber noch ehe die Frau, die einer der Ärzte Harriet genannt hatte, an seiner Pritsche vorbei hastete, fuhr er hoch und die Frage stolperte schon über seine Lippen. „Entschuldigen Sie meine Neugier. Was ist eigentlich mit dem Hunnen? Sonderlich... gesund scheint er ja nicht."

Augenblicklich zuckte Harriet bei dem plötzlichen Klang erschrocken zusammen und die braunen Glasampullen gefüllt mit Morphinen und Barbituraten schwankten gefährlich auf dem Tablett in ihren Händen.

Sie blinzelte, bevor die kleine Frau kritisch die Unterlippe vorschob und nachhakte: „Was hat das für Sie für eine Bedeutung, Sergeant?"

„Nun", erwidert er und zuckte mit den Schultern, dabei nagte die Sorge stärker an ihm, als er zugeben wollte. Aber dieses Fressen der Angst verschwand hinter der gleichgültigen Lässigkeit und den Ansätzen eines Schmunzelns auf dem Gesicht. „Reines Interesse. Immerhin habe ich ihn – mit entzückender Hilfe eines Corporal Sharmas, wirklich netter Kerl – erst halb ohnmächtig hierher geschleppt. Ohne Ihnen und Ihrer vorbildlichen Arbeit zu nahe treten zu wollen, da möchte ich einfach wissen, was mit meinem jungen Bekannten hier eigentlich geschieht", versuchte er sich mit kläglichem Witz in seiner Stimme.

Harriet seufzte nur, strich sich eine schwarze Locke zurück unter die Haube und stellte das Tablett klirrend auf eine kreative Interpretation eines Nachttisches und räumte die winzigen Flaschen in den vergitterten Schrank, bevor sie zögerlich zu sprechen begann. „Es ist nur eine leichte Sepsis. Keine Organe sollten betroffen sein. Solange man die Quelle der Infektion innerhalb achtundvierzig Stunden behandelt wird dem Fritz schon nichts ernsthaftes zustoßen. Reicht es Ihnen denn nicht zu wissen, dass wir einen Feind weniger haben?"

„Eine was?", entkam es ihm aber nur vollkommen verwirrt.

Erneut dieses kraftlose Seufzen. Dann ein schwaches Kopfschütteln. „Eine leichte Blutvergiftung."

„Bitte was?" Jetzt war es keine Verständnislosigkeit, sondern beinahe schon etwas wie Empörung. Das Brennen von Angst, das sein Herz ins Stolpern brachte und jegliche Fassung und Contenance zu Asche verbrannte. „Blutvergiftung? Das ist- das ist ja so gut wie ein Erschießungskommando. Harmlos? Das kling eher nach-"

„Einfach nur nach einer übertriebene Abwehrreaktion des Körpers gegenüber einer Infektion, die eben besonders oft bei Brandwunden auftreten. Der Mittelfußbruch bringt ihn ebenso wenig um. Machen Sie sich bloß keine Sorgen, das ist nicht gut für einen verwundeten Menschen. Das wird schon wieder. Bei ihnen beiden", war die einzige Antwort, mit dem sie seinen Fluss aus Echauffieren ausdruckslos unterbrach.

Ein letztes Mal nickte sie ihm mit einem entschuldigenden Lächeln zu, dann bauschte sich ihr blauer Rock auf und die Schwarzhaarige rauschte davon.

Für einen Moment starrte William nur auf die blanke Zeltdecke, dann sickerte wieder Bewusstsein in seine Glieder. Und während sich wieder Beherrschung in ihm ausbreitete, versank die Sonne vollständig und durch den winzigen Spalt in den reinweißen Leinen erblickte er hinter den Schleiern aus Schießpulvern das kalte Blinken der Sterne.

Und als er in diese Ferne blickte, auf dieses zarte Scheinen, da fasste ihn erneut eine letzte gedankenlose Idee.

Rasch huschte sein Blick über die Betten und mit Leinen verhangenen Gänge, die sich im seichten Wind wie Geister aufblähten. Niemand bewegte sich durch den Raum, kein Geräusch außer angestrengte Atemzüge und leises Wimmern brachte die Luft in Bewegung.

Der Sergeant schwang die Beine über die Bettkante und schlich auf leisen Sohlen über den ausgekühlten Boden. Es war kaum mehr als geplättete Erde und ausgestreute Binsen, die den Klang seiner Schritte verschluckten. Seine Stiefel hatte er sowieso in dem Moment abgelegt, als man ihm die Pritsche zugeteilt hatte.

Lautlos ließ er sich neben Konstantin nieder, dessen bleiches Gesicht beinahe genauso fahl wirkte wie die dürre Mondsichel in der frostigen Nacht außerhalb der schützenden Zeltwände.

Irgendjemand – wahrscheinlich die begnadete Harriet- hatte seine Feldbluse sorgfältig neben ihm gefaltet, da man sie hatte abnehmen müssen, um seine Brandwunden an Armen und Schulter zu behandeln. Doch was viel wichtiger war, auf den dunkelgrauen Stoff hatte man nicht nur sein Eisernes Kreuz der ersten Klasse gebettet, sondern auch das feine Büchlein, das er immer über dem Herzen getragen hatte.

Beinahe schon ehrfürchtig hob er den zarten Einband von seinem Platz und schlug eine blanke Seite auf. Zögerlich griff er nach dem dünnen Kohlestift, den Konstantin an einem weinroten Band aus Samt an der breiten Seite befestigt hatte.

Und als er ihn an sich nahm, da kritzelte er nur wenige Buchstaben auf die Seite.

24 a Scotland Road, Vauxhall, Liverpool

William O' Connors.

Allein mit Kontaktdaten für ein Telegramm oder gar ein Telefonapparat konnte er nicht aufkommen. Daran hatten sie in der dreckigen Wohnung zwischen dem Gestank nach verrottetem Fisch und dem pechschwarzen Qualm der Dampfschiffe, dessen erstickende Last selbst die Fassade ihres Hauses mit einer dicken Rußschicht überzogen hatte, nicht einmal im wildesten Traum denken können.

Doch er flehte Gott, Jahwe, Krishna, Allah oder alle magischen Männer im Himmel an – oder was dort oben auch existieren möge - dass es für Kontakt reichen würde, sollte dieser Wahnsinn jemals ein Ende finden und die Welt aus diesem Blutrausch aufwachen. Es wäre ein Hoffnungsschimmer in dieser miserablen Zeit, in der so etwas wie Zuversicht doch eigentlich nicht mehr existieren konnte.

Seufzend wollte er das Heft wieder sinken lassen, als ihm die groben Anfänge einer unvollständigen Skizze auf der anderen Seite ins Auge stachen. Es war die sitzende Gestalt eines kräftigen Mannes mit kantigen Zügen, einem zynischen Lächeln auf den vollen Lippen und in der Kluft eines Fliegers des Royal Flying Corps. Er brauchte eine Sekunde, bis er begriff, dass er selbst dieser Mann war.

Mit einem zarten Schmunzeln auf den Lippen ließ er das Buch vollkommen sinken und strich sorgfältig über die Wange des anderen, die wirkte wie helles Porzellan. Und als wäre er genauso brüchig wie eine Porzellanpuppe, schwebten seine Fingerkuppen eher darüber, als das er es wagte, ihn zu berühren.

Aber einem letzten Impuls konnte er nicht widerstehen.

Es war wieder einer dieser blitzartigen Ideen, beinahe schon impulsiv, undurchdacht, doch gleichzeitig  waren  es auch  Emotionen, die der Verstand nicht hatte fälschen können. Es war das Gefühl, dass ihn auch in den Rauch getrieben hatte, um den anscheinenden Feind nicht den Flammen zu überlassen.

Also beugte er sich nach vorne und drückte seine Lippen für einen berauschenden Moment auf die fiebrig heiße Stirn des Elsässers.

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