Die Regeln überwinden

Noch vor wenigen Stunden hatte Konstantins Offiziersbursche an ihm den letzten Flaum seines kläglichen Bartwuchs restlos entfernt. Wenige Minuten später hatte er Adalbert und Amos vergnügtes Jauchzen gehört, als sie sich wieder kabbelten und das Grauen um sie herum einfach ignorierten, während alles in der dicken Schicht aus Nebel verblasste. Er hatte sie mit einem kritischen Blick strafen wollen und doch waren seine Mundwinkel nur hilflos in die Höhe gezuckt.
Es war ein Funke der Normalität gewesen, der gleichzeitig Jahre und wenige Wimpernschläge zurückzuliegen schien.

Und nun war Adalbert tot. Sein Leben war einfach ausgelöscht, während Konstantin noch in der Hitze des Fiebers verglühte. Gefangen im Niemandsland. Irgendwo gefangen im Fieber zwischen der lichtlosen Schwärze des Todes und den Armen des Feindes, der seine Lippen unnachgiebig auf seine presste.

Widersprüchlich wie das Wechselspiel aus Gefallen und blanken Entsetzen, das immer wieder heiß und kalt über seinen Rücken fuhr. Und doch war alles die Realität.
Eine, die zwischen ihren Lippen zu zerschmelzen schien.

Trotzdem sickerte durch diesen süßen Traum zwischen dem Staub dieser wahnsinnig gewordenen Welt eine stumme Erkenntnis, die sich wie kalter Nebel in ihm breitmachte.

Er durfte das nicht tun. Nicht hier. Nicht jetzt. Erst recht nicht mit einem Feind. Ein Feind, auf den er geschossenen hatte. Ein Feind, den er küsste. Der seine Lippen auf Konstantins drückte.

Allein dieser Gedanke riss ihm aus den Palast aus Wünschen und funkelnden Vorstellungen, die sich um ihn errichtet hatten und ließ ihn in die Trümmer zusammenfallen, die er auch versprach. Eine Schicksal ohne Zukunft.

Schlagartig schreckte er hoch und pfefferte seine Handfläche in Williams Gesicht.

Im nächsten Moment explodierte Schmerz in seiner Handfläche und ein schmerzerfülltes Zischen sprang über seine Kehle, als er automatisch zurückstolperte und sich aus den Fängen des anderen Wand.

Pein pulsierte gemeinsam mit den Schauern aus frostiger Kälte und glühenden Flammen durch seine geschundenen Glieder, als er sich mit fest verkniffenen Gesicht über die vor Schmerz pochende Hand krümmte.

Allein aus den Augenwinkeln konnte er die Statue erkennen, in die sich Williams entsetztes Gesicht in einem Sekundenbruchteil verwandelt hatte. Nur der scharlachrote Abdruck auf seiner Wange verriet einsam, das er nicht ein Werk aus Kalk war.

Denn von dem verblüfften Gesicht des Engländers ging die selbe Faszination aus wie von den elegant geschwungenen Marmorskulpturen im Forum Romanum. Und eben jenes Rom war an seiner Dekadenz zerbrochen. Und Liebe zählte dazu. Besonders die, die jedes Gesetz brach und in der Tristesse der Gleichheit aufleuchtete wie Gold in den kargen Zimmern der Arbeiterklasse in der Reichshauptstadt.

„Du brauchst dringend Nachhilfe im Schlagen", entwich es William betäubt, als er weiterhin den Elsässer aus geweiteten Augen anblickte, dessen dunkles Grün bis auf seine Seele zu schneiden schien.

Aber der Leutnant schluckte den verworrenen Knoten aus Gefühlen hinunter, nur um ein hilfloses „Und du solltest noch einmal eine Lektüre zum korrekten Umgang mit Mitmenschen inhalieren. Am besten noch ein Gesetzbuch dazu" herauszupressen.

Diese Worte schienen die Starre des anderen schleichend zu lösen. Vielleicht war es aber auch das laute Donnern in der Ferne, das Beben und Splittern der Spitze des Kirchturms Bullecourt, der wie ein Kartenhaus im Sturm zusammenfiel, das ihn wieder zurück in dieses Schlachtfeld zog, welches auch längst Konstantins Seele verwüstete.

„Ich werde wohl kaum einen Blick in ein Gesetzbuch aus der Hand irgendwelcher feudalen Aristokraten werfen, das herausnimmt, Männer hinter Gitter zu sperren, weil sie sich lieben, obwohl sie damit niemanden Schaden!"

Wut verzerrte sein kantiges Gesicht. Blanker Zorn, der sich nicht auf ihn, nicht auf diese Armeen, sondern ganze Länder und Verfassungen richtete, welche ganze Leben verschlingen konnten, weil sie Liebe verdammten und sich über ihr schwerelose Gefühl von Zuneigung hinwegsetzen, während sie ihre Süße zur Sünde verdammten.

Allein seine Hand glitt wie hypnotisiert zu dem roten Mal auf seiner Wange.

„Ich- wenn du mich nicht ausstehen kannst, dann tu es", entgegnete er patzig und der Engländer rang um die Worte, die sich bitter aus seiner Zunge sammelten und doch nicht diesen Sturm aus Rage und Angst in seiner Brust umfassen konnten. „Aber wenn du dich dafür entscheidest, dann lass deine Gefühle doch nicht von irgendeinem beliebigen Paragraphen schon vor deiner Verurteilung hinter Gitter sperren!"

„Aber es ist nicht meine Entscheidung!", zischte Konstantin zurück und rang mit seinen Händen in der Luft. In diesem Moment war er kein Elsässer, der sich am Ufer des Rheins mit süßem Wein vergnügte. Er war ein Preuße, bereit mit Eisen und Blut zu kämpfen. Sei es auch nur mit seinen Worten. „Beliebiger Paragraph? Wenn mich Glück erwischt und mein Vater mich nicht aus der Familie wirft, werde ich enterbt und verkrieche mich nach einigen Monaten Festungshaft und Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte in unseren Gutshof nach Zabern. Aber du? Was werden sie mit einem Arbeiter machen, der in ihren Augen doch sowieso nur ein Mittel zum Zweck ist? Es nimmt dir die Chancen für die Zukunft. Keine Zeche, keine Reederei und keine Fabrik wird einen wegen Unzucht abgeurteilten aufnehmen, wenn das Leben eines Arbeiters ohnehin belanglos und kaum von Wert ist. In deren Augen seit ihr austauschbar! Da bist du nur eine Schachfigur, kein Individuum. Damit könnte ich dein ganzes Leben ruinieren!" Beinahe wäre sein letzter Satz von einem Schluchzen erschüttert worden, doch mit größter Mühe und letztem Willen verschloss er den zerreißenden Schmerz in seinem Inneren.

William öffnete entschlossen seinen Mund, aber es war Konstantins Blick, der an der verheerenden Schusswunde an seiner Schulter hängenblieb.

„Du blutest", stellte der Offizier matt fest, nur um im nächsten Moment hastige Schritte nach vorne zu humpeln. Aber noch während er die kurze Distanz zwischen sich und dem Briten zunichte machte, riss er sich einen schwarzen Handschuh von der bleichen Haut der feingliedrigen Fingern und presste den Stoff gegen die fleischige Wunde, die längst mehr als den Stoff der Uniform des Sergeant zerfetzt hatte.

Schmerzerfüllt japste der Unteroffizier nach Luft und klammerte sich an das spröde Holz hinter ihm, das ihm als einziges in diesen Wirren Halt versprach, während der Mann mit dem rabenschwarzem Haar fieberhaft versuchte, die Blutung zu stillen.

Aber Konstantins Finger auf seiner Brust, seine suchenden Bewegungen, die federleicht ein ganz bestimmtes Ziel anvisierten, schlug die Agonie mit dem Rausch des Adrenalins aus seinem geschundenen Körper.

Das Messer in seiner Brusttasche. Das war sein Ziel.

Augenblicklich fuhr seine Hand hervor und packte das Handgelenk des anderen achtlos, fixierte es einfach nur am Ort, keinen Zentimeter der Bewegung lassend. Dabei schien er aber nach ausgekühltem Weiß von Marmor zu greifen.

Ein erschrockenes Keuchen entwich dem Elsässer und seine Finger verkrampften sich unter seinem unnachgiebigen Griff. Aber unter noch jeder Windung des erschütterten Offiziers und glühendem Schmerz in seinen Gliedern öffnete sich nicht die Fessel aus Fleisch, als der Brite die Lippen fest aufeinanderpresste.

„Hältst du mich für vollkommen blöd?", echauffierte er sich daraufhin trotzig bei dem Leutnant und funkelte . „Ich lasse dich ganz bestimmt nicht mehr an Klingen. Oder Pistolen. Oder Schaufeln. Oder- füg hier einfach alles ein, mit dem man sich selbst nach Elysium schicken kann!"

Unsicher blickte Konstantin zurück, nur, damit das weiche blau seiner Augen erneut in eine unnachgiebige Eisschicht gefror.

„Siehst du hier irgendeinen Verbandskasten? Große Überraschung, hier ist nichts. Wo wir hier gerade schon so von Sterben philosophieren, du verblutest mir hier nicht. Wir brauchen Stofffetzen für Druckverband oder eher einer Tamponade, wenn man sich die Lokalität genauer ansieht", erwiderte er nur stumpf und Zynismus spiegelte sich in seiner frostigen Stimme, aber er unterließ jeden manischen Versuch, seine Hand aus dem eisernen Klammergriff zu befreien. „Außerdem glaube ich kaum, dass du ein Römer bist. Da kommst du eher von der anderen Seite des Hadrianswall", fügte er noch krächzend hinzu, aber die gezwungenen Ansätze eines ironischen Lächelns schienen auf seinem malträtierten Gesicht zu zersplittern, noch bevor sich seine Mundwinkel vollständig in die Höhe ziehen konnten.

William hätte aber in seinem Zustand noch nicht einmal das vollbringen können. Allein Schmerz und Sorge pochten bei jedem stolperndem Herzschlag weiter durch seinen Körper.

Aber noch bevor der Brite ihm eine geröchelte Antwort entgegenschleudern konnte, glitt der Blick des anderen nur beschämt von ihm und wanderte zurück. Auf dem Toten im Graben, unter dem sich bereits ein winziger Teich aus Rot bildete. Einsam und verlassen. Kalt, wie die Splitter aus Eis, die bei diesem Anblick die Seele des Elsässers zerfetzen wollten.

„Außerdem ist es meine Entscheidung", setzte er noch nach, aber es war Williams Stimme, dessen Anblick erneut seinen Blick fesselte.

„Konstantin-" Noch als er die letzte Silbe des Namens aussprach, geriet er ins Stocken. „Du- bitte, gib dir keine Schuld. Heute wäre jemand gestorben. Entweder ich oder der Mann, der bereits eine Waffe auf meine Wenigkeit gerichtet hat. Jemand hätte heute das Schicksal eingeholt und er hätte ins Gras gebissen- naja, eher in Matsch und Schnee, aber du weißt, was ich meine. Du hast das Ergebnis nicht geändert, nur die Zielperson. Und für meinen Teil bin ich dir da sehr dankbar. Ich- vielleicht nicht unbedingt hier, aber im Notfall finden wir irgendwo noch einen dieser Seelenklempner für dich, falls es nicht besser wird."

Das war wahrscheinlich der Moment, in dem William begriff, dass er definitiv nicht der nächste Sigmund Freud war.

Und doch schien die Fassade aus Stein zu bröckeln, als der Offizier ihn mit einem stummen Flehen in den Augen anblickte. Er öffnete seinen Mund, wollte etwas sagen, aber die Worte erstarben auf seiner Zunge, noch bevor er eine Silbe hatte artikulieren können. Kraftlos sackten seine Schultern hinunter.

„Man nennt so etwa Psychologe. Vielleicht auch Therapeut, aber- ich verzichte gerne auf einen Aufenthalt im Sanatorium." Diese Worte waren kein versuchter Witz, keine reine Selbstsucht, sondern die Erkenntnis der Schrecken dieses Krieges, die ihn wortwörtlich vom Himmel geholt hatte. Nach diesen Orgien aus Grausamkeiten in denen die abscheulichsten Seiten der Menschheit aufblitzten und sich Zivilisation in wilde Barbarei verwandelte, wurde jeder freie Platz für einen Kriegsneurotiker in irgendeinem Hospital gebraucht. Selbst, wenn Konstantin sich dafür hinten anstellen musste.

„Gib mir einfach nur Zeit", bat er daraufhin erstickt und schüttelte unmerklich seinen Kopf, als ertrüge er nicht den kristallklaren Anblick Williams blutunterlaufenen Augen. „Ich muss...ich muss darüber nachdenken. Was hier...was in den letzten Stunden geschehen ist."

Ratlos kaute der Sergeant auf seiner Unterlippe, als er zögerlich erneut zu dem Preußen aufsah. Er wollte es sagen, erneut auf ihn einreden, aber gleichzeitig fürchtete er auch, dass sich Konstantin erneut hinter die Scheibe aus Frost zurückzog und nur noch die ausgekühlte Gestalt eines Leutnant zurückließ.

Trotzdem schafften es die Ängste nicht, den Wunsch in seinem Herz zu überwinden.

„Vielleicht solltest du die Zeit auch dafür nutzen, noch einmal...über die letzten zwei Minuten nachzudenken", fuhr er mit diesem Hauch Trotz in seiner Stimme fort. Hätte Konstantin nicht seinen Handschuh auf die Wunde gepresst, er hätte zusätzlich noch die Arme vor seiner Brust verschränkt. „Und, dass du deine Gefühle nicht wegen irgendeinem Gesetz versteckts. Ich wage ja zu bezweifeln, dass Selbsthass jetzt die allerbeste Möglichkeit ist, sein Granatenfieber zu lindern. Ich würde ja sogar noch soweit gehen-"

„Im Gegenteil", unterbrach die kratzende Stimme des Anderen seinen aufgebrachten Monolog. Doch wieder wand sich sein Blick aus seinem, wich erneut der Realität aus. „Ich weiß, was ich fühle und akzeptiere das, aber ich kenne auch die Konsequenzen. Du weißt, was passiert, wenn man unvorsichtig ist. Die Harden-Eulenburg Affäre hätte Menschen noch mehr in den Ruin treiben können als ohnehin schön! Die Männer haben von Glück sprechen können, dass sie adelig waren. Und doch- das war ihr sozialer Tod. Wir- du- müssten sehr achtsam sein."

Mit jedem Wort wurde seine Stimme leiser, mit jeder Silber rückte sein Blick weiter von ihm ab, bis William nur noch ein raues Flüstern vernahm. Und doch spürte William, wie sich Konstantins freie Hand auf seine schob.

„Damit kann ich leben", antwortete der Arbeiter nur stur.

Beinahe wäre Konstantin ein heiseres Lachen entfleucht, doch so kam nur ein kratzendes Glucksen aus seiner Kehle, als er erneut leicht den Kopf schüttelte. „Wir kennen uns kaum einen ganzen Tag", warf er daraufhin noch ein, aber es war ein überraschender Ernst auf dem Gesicht seines Gegenübers, der den Elsässer zum verstummen brachen. Diesmal war es keine züngelnde Wut, kein Spott und auch kein frecher Spruch auf seinen viel zu sinnlichen Lippen.

„Gib uns einfach ein wenig Zeit", zitierte der Brite seine noch vor wenigen Sekunden gesagten Worte. Nur in einem ganz anderen Kontext und einer Sache, die alles änderte.

Uns. Wir. Nicht du oder ich. Sie waren zwei und doch eins. Keine zwei Piloten. Keine Feinde. Kein Offizier und Unteroffizier, sie waren eins. Nur Konstantin und William, deren Herzen im gleichen Takt schlugen.

Augenblicklich lehnte der Elsässer seinen Kopf gegen die unverletzte Schulter des anderen und schloss die Augen, um all dieses Elend, all diesen Schmerz auszublenden. Nur noch der feste Herzschlag in Williams Brust existierte und seine Nase, die er in seiner sich nachtschwarzen Haare vergrub, dinge nicht mehr sorgfältig von Pomade gehalten wurden.

Und dann warteten sie.

Auf die Rettung des Lebens oder das ewige Schweigen des Todes.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top