6. Die Offenbarung der Nava

MENSCHENWELT - FREYAS SICHT!

„Die Nava ist in Navakin so etwas wie die Königin. Jedoch ist sie keinesfalls herrisch. Unsere Herrscherin ist nichts als Licht und Liebe! Uns Navakis soll die Nava Erlösung, Glückseligkeit und Frieden bringen. Nur sie allein ist in der Lage über alle Bewohner Navakins verständnisvoll zu herrschen. Bei Streitigkeiten und Vergehen soll sie Gnade vor Strafe walten lassen. Jedoch tut ein Navi wirklich böses Übel, muss unsere Nava hart durchgreifen! Bei wirklich schwerwiegenden Vergehen ist ein Verstoß meist die richtige und auch zu erwartende Konsequenz der Nava. Wird jemand Verstoßen, wird dieser zu einem der vier Portalen gebracht. Zum Nordportal. Zum Ostportal. Zum Südportal. Oder zum Westportal. Mit Hilfe eines dieser Portale wird der Übeltäter in die Menschenwelt verbannt. Dort ist er keines Zaubers mehr mächtig und somit relativ unschädlich gemacht! Dies sind die Hauptaufgaben unserer Nava. Navas sind vorwiegend weiblichen Geschlechts. Aber Achtung! Nicht jedes Mädchen kann einfach so Nava werden. Unsere Nava muss das 17. Lebensjahr erreicht haben und vor allem muss sie vom Hause Navakinz sein! Das bedeutet in ihr muss das Blut aller Navakis fließen. In Navakin leben genau 374 verschiedene Arten von Zauberwesen. Jede Art von magischem Wesen muss im Stammbaum der Nava mindestens einmal vorkommen. In Navakin führen wir genauste Aufzeichnungen über die Vorfahren ein jeden Navakis. Somit ist es uns ein Leichtes immer wieder eine neue Nava zu erküren. Wie gesagt, Navas sollten vorwiegend weiblichen Geschlechts sein! Sollte jedoch keine weibliche Nava zur Verfügung stehen, wird eine Ausnahme gemacht und ein männlicher Nava wird erkoren!", las ich gerade laut vor, als Flynn und Solosh wieder zu uns stießen.

Voller Bewunderung sah ich zu Flynn. „Wow und das hast wirklich du geschrieben?", wunderte ich mich. Meine Stimme war nicht mehr als ein leises Flüstern. Trotzdem hatte er mich gehört. Denn er errötete. „Wie süß!", meldete sich die nervige, hohe Stimme in meinem Kopf erneut, was mich sichtlich ärgerte. Da sie länger nicht mehr aufgetaucht war, dachte ich, sie wäre zur Gänze verschwunden. „Haha!", lachte die Stimme weiter, „Keine Sorge, so einfach wirst du mich nicht los." Ich erschrak. Was war denn das gerade. Es fühlte sich an als säße eine zweite Person in meinem Kopf. Vielleicht war ich auch einfach dabei den Verstand zu verlieren. Meine Gäste hatten anscheinend bemerkt, dass es mir nicht gut ging. Besorgt blickten mich drei Augenpaare an. Jedoch Flynn sah am meisten erschrocken aus. Ich befürchtete, dank seiner Sorge um mich, zu erröten, weshalb ich den Kopf senkte.

Als ich den ersten Schock überwunden hatte, begann ich mich erneut durch das gold-braune Buch vor mir zu blättern. Auf Seite 473 blieb mein Blick hängen. Ohne dass ich es mir erklären konnte, fesselte mich die Überschrift auf dieser Seite. Die leitende Stimme der Nava stand fettgedruckt darauf. Immer noch starrte ich unentwegt auf diese Worte. Plötzlich spürte ich eine Hand auf meiner Schulter. Ich sah auf und erkannte, dass es Flynns war. Er hatte mich aus meiner Trance geholt. Mit brüchiger Stimme begann ich zu lesen: „Jede erkorene Nava trägt eine leitende Stimme in ihrem Kopf. Dabei ist es von keiner Bedeutung, ob die Krönung schon stattgefunden hat oder diese noch aussteht. Meist klingt diese Stimme sehr hell. Sie sollte beraten, anleiten und führen. Meist handelt es sich um eine liebliche Stimme, ähnlich der unserer Nava."

Ohne Aufzusehen blätterte ich weiter. Dieses Buch war ganz anders als die anderen, die Flynn bisher geschrieben hatte. Die anderen beiden handelten von dem Land Navakin und ihren magischen Bewohnern, den Zauberwesen. Ich las schon von allen möglichen Gestalten. Von Angstnattern. Von Liebesbiestern. Von Zwergriesen und Riesenzwergen. Von Eisschlangen und Tortenaffen. Von Machtschafen. Von Blutkatzen und Schwarzhunden. Von Eichelbibern und Nusstigern. Von Gänsehörnern. Von Schwerttauben. Von Weißvögeln. Und von den vier Portalswächtern natürlich. Aber das Buch hier. Aus diesem wurde ich nicht schlau. Außerdem kam es mir so seltsam vertraut vor. Warum nur? Ich hatte es doch noch nie zuvor gesehen, oder? Dieses riesige Buch handelte von einer Person, die das Land Navakin regierte. Diese Person hieß Nava und war eine Art Königin, die eine leitende Stimme besaß. So viel wusste ich schon mal. Aber was steckte dahinter?

Ganz angetan von dem Inhalt des Buches hob ich den Kopf. Liebevoll blickte ich Flynn in die Augen und flüsterte: „Die Welt, die du in diesen Büchern beschreibst, klingt wirklich wunderschön. Schade, dass sie nicht wirklich existiert. Ich würde gerne an so einem wundervollen Ort wohnen." „Und wie gerne du dort wohnen würdest!", fügte die helle Stimme in meinem Kopf hinzu. Seufzend gestand ich mir ein: „Ich glaube, so langsam habe ich mich an diese helle Stimme gewöhnt. So nervig ist sie gar nicht mehr." „Danke, dass du mich endlich akzeptierst!", kam prompt ihre Antwort, „Es freut mich zu hören, dass du deine Bestimmung langsam annimmst." Ungläubig schüttelte ich leicht meinen Kopf. Glücklicherweise hatte diesmal niemand mein Unbehagen bemerkt.

„Vielleicht kannst du das sogar", flüsterte Flynn noch leiser als ich zuvor. Fragend sah ich ihn an. Daraufhin räusperte er sich und sagte: „Dort wohnen, meine ich." Nun war ich verwirrt. „Du meinst doch nicht...?", begann ich. „Doch er meint...", unterbrachen mich Sisilia und Solosh gleichzeitig. Erschrocken sprang ich auf. „Ich verstehe nicht ganz!", rief ich aus. „Doch. Du verstehst!", säuselte die helle Stimme in meinem Kopf sanft. „Ich glaube mir wird schwindelig", schaffte ich noch zu sagen, bevor schwarze Punkte vor meinen Augen zu tanzen begannen. Ich spürte noch, wie mich ein Paar starker Arme auffing, dann war alles schwarz.

MENSCHENWELT - FLYNNS SICHT!

Wie von der Tarantel gestochen sprangen Sisilia und Solosh vom Sofa. Behutsam legte ich Freya dort ab und streckte vorsichtig ihre Beine aus. Die Zwillinge eilten schnell in die Küche, um ihr feuchte Umschläge zu besorgen. Langsam strich ich Freya über ihr Haar. Auch bewusstlos war sie wunderschön. Sie sah aus als würde sie schlafen. Leise begann ich ein altes, traditionelles Lied aus dem Tratinschen Bergland, welches im Norden Navakins liegt, zu singen. Meine Mutter hatte es mir immer zum Einschlafen vorgesungen, als ich noch ein Baby war. Nachdem ich das Lied ein paar Mal gesungen hatte, summte ich nur mehr die Melodie.

MENSCHENWELT - FREYAS SICHT!

Beim Aufwachen spürte ich etwas auf meiner Nasenspitze. „Ai, wie das kitzelt! Ha ha hatschi!", nieste ich. Ruckartig setzte ich mich auf. „Nanu, was ist denn das?", dachte ich nur. Das Wohnzimmer war verschwunden. Stattdessen lag ich auf einer wunderschönen, bunten Blumenwiese. Gerade flog ein Schmetterling knapp vor meinem Gesicht vorbei. Er entfernte sich langsam. „Jetzt weiß ich auch was mich an der Nase gekitzelt hat. So ein kleiner Schlingel!" flüsterte ich. „Entschuldigung"!, hörte ich eine helle Stimme leise sagen. „Wer ist da?", fragte ich schüchtern. „Na, ich bin es!", antwortete mir dieselbe Stimme erneut. Verwirrt sah ich mich um und bemerkte, dass der Schmetterling zurückgeflogen kam. Er setzte sich auf eine gelbe Blume direkt neben mir. „Nein, das kann nicht sein!, stieß ich aus, „Ein Schmetterling wird doch kaum zu mir sprechen können." Plötzlich flatterte das schöne Insekt wie wild mit seinen Flügeln und sprach: „In Navakin ist fast alles möglich." Ein letztes Mal sah ich mich verwirrt um. „Nein, es muss wirklich der Schmetterling sein, der zu mir spricht!", schlussfolgerte ich schließlich.

Mit großen Augen starrte ich ihn an. Der Schmetterling hatte orange Flügel mit lila Sprenkeln darauf. Mit einem einzigen Flügelschlag erhob sich das Insekt und flog zu einer rosa Blume. Nur um von dort aus zur nächsten Blume zu fliegen. Auf einer hellblauen Blume in der Nähe ließ er sich dann nieder. Nun hatte ich das Gefühl, dass der Schmetterling mich ansah. „Ohja, Sie sind es! Meine Nava, ich muss Ihnen Folgendes prophezeien.", erklärte dieser mir mit seiner hellen Stimme, „In Navakin kehren mittlerweile Unruhen ein. Doch welch ein Graus?! Ein Ketzer weilt unter den Navakis. Er wird das Unheil so schnell wie ihm nur möglich vorantreiben. Verschwenden Sie keine Zeit. Erheben Sie sich von der Blumenwiese, kehren Sie zurück und berichten Sie Flynn und den Zwillingen von dieser Vision. Die drei werden sie über ihre zukünftige Aufgabe als Nava unterrichten. Eines noch: Suchet und findet die drei heiligen Steine von Navakin! Bei Ihrer Ankunft in Ihrem Heimatland, vereinet diese mit den restlichen vier heiligen Steinen, die sicher und gut verwahrt in Navakin verblieben sind. Andernfalls wird es bei Ihrer Rückkehr vielleicht schon zu spät sein. Jetz aber los! Zum Trödeln haben wir jetzt wirklich keine Zeit." Kaum hatte der Schmetterling zu Ende gesprochen, flatterte er auch schon davon. „Warte!", rief ich ihm nach, „Wie komme ich denn jetzt wieder zurück?" Aber es war vergebens. Der Schmetterling war schon am Himmel verschwunden.

Vorsichtig erhob ich mich von meinem Platz auf der Wiese. Unsicher drehte ich mich im Kreis. In welche Richtung sollte ich gehen? „Siehst du die Gebirgszüge dort hinten?", fragte die bekannte Stimme, von der ich annahm, dass sie meine leitende Stimme war, „Gehe in diese Richtung. Nach ca. 251 Schritten sollte dir ein See erscheinen. Nach weiteren 142 Schritten müsstest du ihn erreicht haben. Bei dem See handelt es sich um heiliges Wasser. Gehe hindurch und es wird dich zurück in deine Welt, zurück in deine vertraute Umgebung, führen. Los jetzt! Beeile dich!" „Danke, auf dich ist echt verlass!", antwortete ich schnell, bevor ich mich auf den Weg machte.

Nach ein paar Schritten in Richtung Gebirge vernahm ich ein leises Summen. Verwirrt blieb ich stehen und sah mich um. Da ich jedoch nichts Auffälliges entdecken konnte, marschierte ich weiter. Nach 251 Schritten erblickte ich tatsächlich einen See, genauso wie meine leitende Stimme es mir gesagt hatte. Ich beschleunigte mein Tempo. Umso näher ich dem See kam, umso lauter wurde das Summen. Ich erkannte eine Melodie. Mit jedem Schritt wurde sie immer deutlicher. Das Lied war mir fremd und doch kam es mir so merkwürdig vertraut vor. Nun stand ich direkt vor dem See. Mit angehaltenem Atem stieg ich hinein. Das Wasser prickelte angenehm auf meiner Haut, als ich es berührte. Langsam ging ich weiter. Das Summen war immer noch mein treuer Begleiter. Schon stand mir das Wasser bis zum Hals. Plötzlich fiel mir der Text zu der Melodie ein. Auf einmal war er wie von Zauberhand in meinem Kopf. „Schlafe. Schlafe. Träume schön. Morgen wirst du die Welt schon wieder anders sehen! Schlafe. Schlafe. Träume schön. Morgen wirst du die Welt schon wieder anders sehen!", sang ich nun leise vor mich hin, „Einmal sieht sie so aus. Dann wieder ganz neu. Gleich bleibt sie nie. Also bleibe du dir treu! Einmal sieht sie so aus. Dann wieder ganz neu. Gleich bleibt sie nie. Also bleibe du dir treu!" Ein paar Mal wiederholte ich diese Zeilen, dann verlor ich abermals das Bewusstsein.

Blinzelnd schlug ich meine Augen auf. Langsam richtete ich mich auf. „Freya! Na endlich!", freute sich Flynn. Fest schloss er mich in seine starken Arme. Ein Gefühl von Sicherheit durchströmte meinen Körper. „Ich bin die Nava von Navakin, stimmt's?", fragte ich sichtlich geschwächt. Mit offenen Mündern starrten mich Flynn und die Zwillinge an. Sisilia und Solosh brachen zuerst das Schweigen. „Ja. Ja, das bist du.", antworteten die beiden wie aus einem Mund. Flynn war immer noch perplex. Unsicher fragte er: „Woher weißt du das jetzt?" Seufzend erzählte ich meinen Freunden von meinem Traum. „Eindeutig eine Vision", meinte Flynn und nickte wissend mit dem Kopf.

Sisilia und Solosh sahen sich ratlos an. Das einer Nava in der Menschenwelt so etwas geschieht, hatten sie noch nie gehört. Andererseits wussten sie auch gar nichts über eine Nava, die je in der Menschenwelt gewesen war. Ich hatte jedoch andere Sorgen. „Wie finden wir diese heiligen Steine, von denen der Schmetterling erzählt hat?", richtete ich meine Frage an die drei. „Ich weiß nur, dass sie gut verborgen hier im Navistal irgendwo versteckt liegen müssen", erzählte mir Flynn. „Denn vor langer, langer Zeit spaltete sich dieses Tal während eines Bürgerkrieges von Navakin ab und riss die drei heiligen Steine mit sich in die Menschenwelt. Gott sei Dank hat sie bislang keine Menschenseele entdeckt!", fügten die Zwillinge hinzu. Unwillkürlich musste ich lachen. „Das klingt alles so absurd!", lachte ich. Amüsiert grinsten mich meine Freunde an. „Auf was waten wir denn noch?", fragte ich in die Runde, „Meine Eltern sind noch mindestens zwei Wochen lang verreist. Also lasst uns nach diesen drei heiligen Steinen suchen!" Überrascht von meiner Euphorie starrten mich alle an. Spielerisch stieß ich einem nach dem anderen in die Seite. „Jetzt seht mich doch nicht so an!", lachte ich, „Lasst uns lieber aufbrechen." Nun stimmten auch Flynn und die Zwillinge in mein Lachen mit ein.

„Flynn wird dich auf deiner Suche begleiten", offenbarte mir Sisilia schließlich. „Kommt ihr denn gar nicht mit uns?", erkundigte ich mich bei ihr. Eine Antwort erhielt ich von Solosh. „Nein, wir reisen zurück nach Navakin!", sagte er, „Deine Vision bereitet mir große Sorgen. Sollten wir wirklich einen Verräter unter den Navakis haben, müssen Sisilia und ich sofort einschreiten. Kommt nach, sobald ihr die drei heiligen Steine gefunden habt. Nur so können wir das Schlimmste verhindern."

MENSCHENWELT - FLYNNS SICHT!

Gesagt. Getan. Am nächsten Tag brachen wir auf. Gemeinsam fuhren wir mit dem Bus zurück nach Matrei am Brenner. Von dort aus wollten Sisilia und Solosh einen Zug in die Richtung, von der wir kamen, nehmen. Ihr Ziel war es den Wagon (Nummer), in dem sich das Portal nach Navakin befindet, zu finden. Freya und ich hingegen sollten uns auf den Weg zum Ausgangspunkt des Navistales machen, um die heiligen Steine zu suchen.

Zügig betraten wir das graue Steingebäude. Wir durchquerten die Bahnhofshalle und erreichten schließlich das Gleich, auf dem schon der Zug bereitstand. Hier trennten sich unsere Wege. Freya wurde von den Zwillingen zum Abschied fest gedrückt. Ich selbst verabschiedete mich bei den beiden mit dem traditionellen, navakinischen Handschlag. "Beide Hände! Oben! Unten! Links! Rechts! Beide Hände! Rechts! Links! Unten! Oben! Beide Hände!", sprach ich in Gedanken mit. Staunend sah Freya uns mit großen Augen an. Wir warteten noch, bis Sisilia und Solosh eingestiegen waren. Dann machten wir uns schnellstens auf den Weg.

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