3. Neue Visionen - Alte Erinnerung
MENSCHENWELT - FLYNNS SICHT!
Als ich erwachte waren Sisilia und Solosh schon bereit für die Abreise. Sie hatten sich bereits gewaschen, gekämmt und umgezogen. Vor sich hin pfeifend schritt Sisilia zur Balkontüre und zog die Vorhänge auf. Verschlafen blinzelte ich gegen das Sonnenlicht. Kurzdarauf schloss ich meine Augen aber wieder zur Gänze. Noch mehr Schlaf war mir jedoch nicht vergönnt. Denn schon traf mich ein Bettkissen mitten im Gesicht. Miesmutig öffnete ich meine Augen erneut. Müde warf ich einen Blick auf meine Armbanduhr. Praktischerweise zeigte sie mir nun die menschliche Zeitrechnung. In der Menschenwelt war es schon kurz nach Mittag. Hatte ich denn wirklich so lange geschlafen? Dieser Jetlag ist wirklich schrecklich. Schlimmer als der Jetlag nach einer Reise vom einen Ende Navakins zum anderen. Und das sollte etwas heißen.
Blitzschnell schoss ich aus dem Bett und rannte ins Bad. Nach einer halbherzigen Katzenwäsche wechselte ich in Windeseile meine Kleidung und schnappte mir meine Umhängetasche vom Schreibtischsessel. Bevor wir aufbrachen, genossen wir jedoch noch eine herzhafte Mahlzeit. Da wir das Frühstück verschlafen hatten, bestellten wir a la Card. Das Essen hier war wirklich vorzüglich. Fast schon schade, dass wir eine Mission zu erfüllen hatten. Wie gerne würde ich Urlaub machen und länger in diesem Hotel nächtigen. Jedoch war für Träumereien im Moment leider keine Zeit. Freya zurück nach Navakin zu bringen hatte oberste Priorität. Also checkten wir aus und verließen die Unterkunft.
Der nächste Bus nach Navis Dorf würde erst in knapp einer Stunde abfahren. Der Hotelgarten glich einem einladenden Park. Also beschlossen wir in diesem noch eine kleine Runde spazieren zu gehen. Am anderen Ende erstreckte sich ein riesiges Gehege über die gesamte Grundstückslänge, in dem das Hotel Dam- und Muffelwild beherbergte. Fast wie in ihrer natürlichen Umgebung konnten die Tiere innerhalb des Geheges den Berg hinauf- und hinunterjagen. Zufrieden lächelnd schlenderten wir den Zaun entlang. Nach ein paar Schritten kamen wir zu einem kleinen Bacherl. Zwei längliche, weißgraue Steine dienten als Brücke. Penibel genau setzte Sisilia einen Fuß darauf. Ihre Vorsicht war fast schon komisch anzuschauen. Belustigt grinste ich in mich hinein. Als letztes überquerte ich den schmalen Spalt. Das Wasser, das in dieser Rinne floss, mündete schlussendlich in einen Teich. Neben dem Teich führte ein kurzer Trampelpfad zu einer Holzbrücke. Dort lehnten wir uns gegen das Geländer und sahen aufs Wasser. Ich merkte, wie jegliche Anspannung von mir abgefallen war. Langsam spürte ich, wie ich immer ruhiger wurde und meine Seele baumeln lassen konnte. Diese Anlage war wirklich eine richtige Wohlfühloase.
Im Teich schwammen viele Koikarpfen, die ihre Münder stumm auf und zu klappten. Ihre Bewegungen sahen wirklich süß aus. Einer der Fische schwamm direkt auf mich zu. Keine Ahnung was dieses kleine Kerlchen an sich hatte, aber er faszinierte mich besonders. Konzentriert starrte ich den Nishikigoi, wie er so schön auf Japanisch heißt, an. Auf einmal konnte ich meinen Augen kaum trauen. Der orangene Fisch begann im Kreis zu schwimmen. Erst zog er ganz kleine Kreise im Teich. Dann immer größere. Mit jedem neuen Kreis nahm seine Geschwindigkeit zu. Verwundert rieb ich mir die Augen. Was passierte hier? Mittlerweile hatte sich ein kleiner Strudel gebildet. Den Koikarpfen sah ich schon gar nicht mehr.
Dann begann plötzlich das Wasser zu blubbern. Erst stiegen nur ein paar wenige Luftblasen auf. Dann wurden es immer mehr und mehr. Erneut rieb ich mir ungläubig die Augen. Als ich mich wieder auf die Wasseroberfläche konzentrierte, spiegelte sich dort ein seltsames Bild. Anfangs konnte ich kaum etwas erkennen, bis das Bild klarer wurde. Ich sah ein Mädchen mit schulterlangem, kastanienbraunem Haar. Stirnfransen hingen ihr wirr ins Gesicht. So bekannt mir das Mädchen auch vorkam, zuerst erkannte ich sie gar nicht. Ihr Gesicht konnte ich nicht sehen, es war von ihren beiden zierlichen Händen bedeckt. Sobald ich das Mädchen erkannte, verschwand ihr Spiegelbild so plötzlich, wie es erschienen war.
„Das war Freya!", keuchte ich mit heiserer Stimme. Verwirrt sahen mich Sisilia und Solosh an. Klar, außer uns dreien war auch niemand in der Nähe. Anscheinend hatten die beiden die Erscheinung im Teich nicht gesehen. Also erzählte ich ihnen, was ich soeben erlebt hatte. Die Verwunderung war ihnen ins Gesicht geschrieben. Auch die beiden hatten keine Erklärung für diese Erscheinung auf der Wasseroberfläche. Immer noch meinen Gedanken nachhängend stand ich auf und folgte den Zwillingen schweren Schrittes zur Busstation.
Endlich saßen wir im Bus. Kaum hatte ich meinen Sitzplatz eingenommen, war ich auch schon eingenickt. Blutrot. Schwarz. Diese beiden Farben stachen mir sofort ins Auge. Auf einem Tisch lagen drei Gegenstände. Ein schwarzes Feuerzeug. Eine blutrote Tischkerze. Ein schwarzer Mantel mit einem blutroten Stoffband auf dem oberen Rand der riesigen Manteltaschen. „Was haben diese Gegenstände zu bedeuten und wem gehören sie?", fragte ich mich im Traum. Kaum war diese Frage gedacht, formierte sich alles im Traum neu. Ein anderes Bild tauchte in meinem Kopf auf.
Auf einmal befand ich mich in einem Esszimmer. Dieselbe blutrote Kerze von vorher stand in der Tischmitte und daneben lag das schwarze Feuerzeug. Staunend sah ich mich in dem Raum um. Er war schön eingerichtet. Die meisten Gegenstände waren aus Holz. Auf der rechten Seite stand ein Esstisch mit vier Stühlen. Daneben konnte ich einen Eingang zur Küche entdecken. Links davon befand sich ein Gang. „Ginge man diesen weiter entlang, käme man zur Haustüre!", wusste ich. Nur warum konnte ich dies so genau sagen?
Neugierig sah ich mich in dem Zimmer weiter um. Auf der linken Seite stand eine große Pendeluhr. Sie war feinsäuberlich aus Holz geschnitzt worden. Neben ihr befand sich ein Couchtisch ebenfalls im selben urigen Stil hergestellt. Nun wusste ich, warum mir dieses Haus so bekannt vorkam. Ich war früher oft dort gewesen. Es gehörte Freyas Adoptiveltern.
Bevor ich einen Blick auf das Sofa oder den Fernseher erhaschen konnte, hörte ich eine leise, piepsige Stimme. Sie kam mir sofort bekannt vor. Suchend ließ ich meinen Blick über den Raum schweifen. Dieser blieb erneut am Esstisch hängen. Nun saßen dort zwei Menschen.
Die eine Person war Freya, eindeutig. Diesmal erkannte ich sie sofort. Die andere Person hatte den schwarzen Mantel von vorher an. Leider konnte ich sie nicht erkennen, da diese von mir abgewandt war. Der Unbekannte saß Freya gegenüber. Es sah aus als würden sie beim Mittagstisch sitzen und sich unterhalten. Unheimliche Dunkelheit ging von dem Mann, wie ich annahm, aus. Freya schien es auch zu spüren, denn sie wirkte etwas angespannt.
Auf einmal entkam ihr ein schriller Schrei. Danach breitete sich eine unheimliche Stille aus. Eine Grabesstille. „Man hätte bestimmt eine Stecknadel zu Boden fallen hören", schoss es mir durch den Kopf. Plötzlich begann Freya unkontrolliert zu zucken. Zuerst ihre Arme und Beine. Dann ihr ganzer Körper. Ihr Kopf wackelte gefährlich hin und her. Es sah aus, als drohte sie zu zerreißen.
Schweißgebadet wachte ich auf. Seit ich im Bus eingeschlafen war, waren genau 13 Minuten vergangen. „So lange dauern doch keine normalen Träume!", schrie ich mich selbst an, „Das war viel zu real, um ein Traum gewesen sein zu können!" Einige Fahrgäste drehten sich nach mir um und starrten mich teils verwundert und teils mitleidig an. Gott sei Dank waren im Moment nicht viele Leute im Bus.
Sisilia legte mir beruhigend eine Hand auf den Arm. Solosh sprach mit sanfter Stimme: „Ganz ruhig, Flynn! Du hast nur schlecht geträumt!" „Erzähl uns von deinem Albtraum", fügte Sisilia noch hinzu. „Nein, es war kein Traum!", stellte ich mit fester Stimme richtig, „Das war eine Vision!" Besorgt sahen Sisilia und Solosh mich an: Ich schüttelte bloß meinen Kopf und erklärte erneut: „Ich bin mir ganz sicher." Nervös berichtete ich meinen Freunden von meinem zweiten Erlebnis. Auch hierfür hatte keiner der beiden eine Erklärung.
Immer noch verwirrt wendete ich mich ab und starrte aus dem Busfenster. Wir fuhren auf einer kurvigen Straße bergauf. Immer wieder durchquerte die Straße kleinere Ortschaften. Nach kurzer Zeit erreichten wir auch schon unser Ziel. In Navis Dorf stiegen wir aus dem Bus. Sofort erkannte ich den Ort wieder. „Wir müssen hier entlang", entschied ich und machte mich auf den Weg zu Freya. Seit gut einem Jahr hatte ich sie nicht mehr gesehen. Meine Gedanken drifteten ab: „Gott, habe ich sie vermisst! Es hat mich fast umgebracht sie nicht sehen und erreichen zu können! Hoffentlich möchte sie mich nach dieser langen Zeit auch wieder sehen!"
Vor einem hellblauen Haus mit weißen Verzierungen blieb ich stehen. Der Gartenzaun war weiß lackiert und auf den Pfeilern prangten majestätische Engelsstatuen. Das Haus sah noch genauso aus, wie damals. „Genau so habe ich alles in Erinnerung behalten", teilte ich Sisilia und Solosh mit. Aus Gewohnheit betrat ich selbstsicher den kleinen Vorgarten. Beim Durchschreiten des Gartentores versetzte mich der Duft der weißen Rosen am Torbogen in die Vergangenheit zurück.
„Komm, fang mich doch!", rief Freya mir zu und lief los. Kichernd jagte ich hinter ihr her. Durch das viele Lachen ging uns bald die Puste aus. Nach einer Weile erreichte ich sie. Ich nutzte meine volle Geschwindigkeit aus, um sie zu fangen. Der Kraft des Aufpralls konnte Freya nicht standhalten. Gemeinsam stürzten wir und landeten weich im Gras. Ein paar Umdrehungen lang kugelten wir noch herum. Als wir dann zum Stillstand kamen, lag ich über ihr. Mit meiner rechten Hand stützte ich mich im Gras ab, um sie nicht mit meinem ganzen Gewicht zu belasten. Lächelnd starrte ich ihr in die Augen. In diesem Moment dachte ich mir: "Sie hat so schöne, türkisblaue Augen." Während ich gedankenversunken in ihre Augen blickte, kam ihr Kopf meinem immer näher. Ihr Mund war nur mehr wenige Millimeter von meinem entfernt. Ein Gedanke machte sich in meinem Kopf breit. „Dies war der schönste Moment meines Lebens! Der Moment, als wir uns fast küssten!", schwärmte ich vor mich hin. Mit einem verträumten Grinsen im Gesicht schloss ich den Abstand zur Türe und drückte den runden Klingelknopf.
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