IV. Aufsetzer

Nach vier Tagen bei meiner Oma fällt mir allmählich die Decke auf den Kopf. Bisher habe ich es vermieden, viel rauszugehen, damit mich bloß niemand erkennt, aber so langsam sehne ich mich regelrecht danach, das Haus zu verlassen. Schließlich gibt es hier nur wenige Möglichkeiten, sich zu beschäftigen, auch weil Oma mir verboten hat, im Garten ein bisschen zu kicken – offenbar aus Angst, ich könnte ihre heiligen Beete zerstören.

Zu meinem großen Bedauern kann ich mir nicht einmal im Internet die Zeit vertreiben, denn das WLAN hier gleicht einer mittleren Katastrophe. Abgesehen davon habe ich mein Handy inzwischen komplett ausgeschaltet, weil die gewaltige Nachrichtenflut einfach nicht abebben will. Mitverantwortlich dafür ist mein Berater Gigi, der scheinbar nichts unversucht lässt, um meinen Aufenthaltsort zu ermitteln. Es bleibt abzuwarten, ob ihm das gelingen wird, ehe er vor lauter Ärger über mich platzt.

Ohne Fußball und Internet ist mir dermaßen langweilig, dass ich sogar anfange, in Omas altem Märchenbuch zu blättern, aus dem sie mir früher häufig vorgelesen hat. Viele dieser Märchen handeln von einem Kerl namens „Aschenper", der allgemein als Trottel verschrien ist, sich aber im Laufe der Geschichten zu einer Art Held mausert und am Ende jedes Mal eine hübsche Prinzessin heiratet. Ich glaube, ich bin auch so ein Aschenper – mit dem kleinen Unterschied, dass aus mir garantiert nie ein Prinz wird.

Schon alleine deshalb nicht, weil ich momentan Gefahr laufe, an akuter Langeweile zu sterben. Lesen zählt nicht unbedingt zu meinen Lieblingsbeschäftigungen und es lässt die Zeit noch viel, viel langsamer voranschreiten. Irgendwann halte ich es nicht mehr aus, eingesperrt zu sein wie ein Hamster in seinem Käfig. Von jetzt auf gleich beschließe ich, ins Dorf zu fahren, um mir neue Schuhe zu kaufen.

Meine Air Jordans sind leider nicht mehr zu gebrauchen, nachdem ich erst in Kacke getreten bin und sie anschließend vollgereihert wurden. Bisher ist es weder Oma, noch mir gelungen, einen Schuldigen zu ermitteln. Ich persönlich habe ja König Harald im Verdacht, aber dieser Kater ist zu durchtrieben, als dass ich ihm irgendetwas nachweisen könnte.

Hinzu kommt, dass das Verhältnis zwischen uns weiterhin angespannt ist. Erst gestern hat Seine Majestät einen langen, blutigen Kratzer auf meiner Wange hinterlassen. Warum? Weil ich ihn davon abhalten wollte, den Inhalt meines Koffers auseinanderzunehmen. Durch diese hinterhältige Attacke ist ein potentielles Friedensabkommen erneut in weite Ferne gerückt.

Ich schätze, es ist kein gutes Omen, dass ich nach so kurzer Zeit bereits schwer gezeichnet aussehe. Neben der auffälligen Beule, die von meinem Zusammenstoß mit dem Balken herrührt, macht sich König Haralds Kratzspur besonders gut in meinem Gesicht. Zum Glück bin ich als Fußballer weitaus schlimmere Verletzungen gewohnt. Einmal habe ich mir das Steißbein gebrochen und konnte mich wochenlang kaum bewegen. Meine jetzigen Wehwehchen fühlen sich dagegen beinahe angenehm an.

Damit mich im Dorf bloß keiner erkennt, ziehe ich mir eine Cap tief in die Stirn und setze meine Lieblings-Ray-Ban auf, obwohl draußen nicht einmal die Sonne scheint. Weil die Air Jordans im Müll gelandet sind und ich schlecht auf Socken vor die Tür gehen kann, schlüpfe ich notgedrungen in ein Paar Gummistiefel, die früher meinem Opa gehört haben.

Sie sind alt, braun und passen ungefähr so gut zu meinem Versace-Trainingsanzug, wie Fair Play zu Neymar. Im rechten Stiefel spüre ich zudem einen kleinen, weichen Gegenstand und als ich ihn wieder ausziehe, fällt mir eine niedliche, verstaubte Stoffmaus in die Hände. Keine Ahnung, welche der Katzen sie dort deponiert und anschließend sich selbst überlassen hat.

Mit den schicken Gummistiefeln an den Füßen stapfe ich schließlich zur Haustür. Dabei komme ich an dem alten Spiegel im Flur vorbei und werfe aus Gewohnheit einen Blick hinein. Normalerweise bin ich immer sehr zufrieden mit mir, doch diesmal weiß ich wirklich nicht, ob ich lachen oder weinen soll. In meinem komischen Aufzug sehe ich aus wie ein Dorftrottel oder ein Kleinkrimineller, aber ganz bestimmt nicht wie ein Profifußballer, der bei einem Verein in der Premier League unter Vertrag steht.

Kopfschüttelnd verlasse ich das Haus und steige in Omas knallroten Mini, den sie mir heute netterweise zur Verfügung stellt. Allerdings bringt das Rentner-Spielzeug einige ungeahnte Tücken mit sich. Weil ich deutlich größer bin als meine Großmutter, brauche ich ewig lange, um den Fahrersitz optimal einzustellen – nämlich so, dass ich nicht mit dem Kopf an die Decke stoße. Bis ich einen Radiosender gefunden habe, der keine ätzende Schlagermucke spielt, vergehen nochmal ein paar Minuten.

Die Fahrt selbst verläuft hingegen zum Glück problemlos. Innerhalb kürzester Zeit bin ich da und stelle Omas Karre auf dem Parkplatz des einzigen Einkaufszentrums ab, das es hier gibt. Im Knarvik Senter gibt es sowohl Lebensmittelgeschäfte als auch verschiedene Boutiquen und andere nützliche Läden. Außerdem befindet sich dort der Sitz der Lokalzeitung Nordhordland, die Oma zwar abonniert hat, aber meist nur aufschlägt, um die darin gedruckten Kreuzworträtsel zu lösen.

Ich betrete das erste Schuhgeschäft, das ich finde und sehe mich dort gründlich um. Schnell finde ich ein paar Modelle, die mir gefallen, obwohl sie deutlich billiger sind als alle Schuhe, die ich normalerweise trage. Trotzdem probiere ich sie nacheinander an und versuche dabei, eine junge, lästige Mitarbeiterin abzuwimmeln, die mir unbedingt eine fachkundige Beratung aufzwingen will.

Höflich erkläre ich ihr, dass ich bestens alleine zurechtkomme, aber sie lässt einfach nicht locker. Daraufhin werde ich etwas unruhig, weil mir der Gedanke kommt, dass sie mich eventuell erkannt hat und mir deshalb so sehr auf die Pelle rückt. Schon nach kurzer Zeit wird es mir zu viel, weshalb ich mit dem erstbesten Paar Schuhe zur Kasse renne, um erst zu bezahlen und anschließend zu verschwinden. Sicher ist schließlich sicher.

Zurück in Omas Auto muss ich erst einmal Luft holen. Scheinbar lebe ich doch gefährlicher, als ich bisher angenommen habe. Ich bin mir zwar nicht sicher, ob die Angestellte mich wirklich erkannt hat, aber ausschließen kann ich es auch nicht. Seit ich damals mit siebzehn Jahren von meinem Heimatverein SK Brann Bergen nach England zu den Hackney Rovers gewechselt bin, ist mein Bekanntheitsgrad stetig gestiegen.

Zeitweise wurde ich sogar richtig gehypt, nämlich als ich in der vorletzten Saison achtzehn Tore erzielt und den Hawks damit zum Aufstieg verholfen habe. Mittlerweile darf ich mich getrost als eine Person des öffentlichen Lebens bezeichnen – ein Status, der auch seine Schattenseiten hat, wie mir erst kürzlich schmerzhaft bewusst geworden ist. Statt des gefeierten norwegischen Sturmtalents wäre ich lieber wieder der unbekannte, fußballspielende Trottel, der ich vorher war.

Seufzend lehne ich mich zurück und überlege, was ich jetzt tun soll. Eigentlich habe ich keine Lust, schon wieder nach Hause zu fahren und dort die Zeit totzuschlagen. Aber was könnte ich stattdessen machen? Mein Magen hilft mir, eine Entscheidung zu treffen, indem er ein lautes Knurren von sich gibt. Ich horche in mich hinein und stelle fest, dass ich einen plötzlichen, unstillbaren Heißhunger auf Fastfood habe.

Alleine der bloße Gedanke an saftige Burger und fettige Pommes sorgt dafür, dass ich auf der Stelle anfangen könnte zu sabbern. Normalerweise verzichte ich auf derartige Sünden, da ich einen äußerst pingeligen Trainer habe, der schon bei zwei, drei Gramm zu viel auf der Waage mit einem Kader-Ausschluss droht. Momentan ist jedoch völlig unklar, ob und wann ich wieder Fußball spielen werde, weshalb ich der Meinung bin, dass ich mir ruhig ein paar zusätzliche Kalorien leisten darf.

Dafür muss ich allerdings bis nach Bergen fahren, denn Knarvik ist so klein, dass es hier weder einen McDonald's, noch irgendwelche anderen Burger-Läden gibt. Also mache ich mich auf den Weg in die Stadt und umklammere mit glitschigen Händen das Lenkrad, als ich die Nordhordlandsbrua entlang fahre, eine etwa 1600 Meter lange Brücke, die den Salhusfjord überwindet und stellenweise ziemlich hoch ist. Für jemanden wie mich, der mit einer ausgeprägten Höhenangst zu kämpfen hat, stellt diese Tatsache jedes Mal eine Herausforderung dar.

Ich bin sehr erleichtert, als ich endlich auf der anderen Seite ankomme, doch der Stress steckt mir noch in den Knochen. Tatsächlich bin ich so durcheinander, dass ich wenig später in den McDrive fahre und fast fünf Minuten lang versuche, am Mülleimer meine Bestellung aufzugeben. Irgendwann bemerke ich meinen Fehler und unterdrücke mühsam den dringenden Impuls, mich selbst zu ohrfeigen.

Kurz darauf bestelle ich mir am richtigen Schalter einen Big Mac, Pommes, Chicken Nuggets und eine große Cola zum Nachspülen. Wenn mein Trainer das wüsste, würde er vermutlich im Dreieck springen und mir eine sofortige Radikaldiät aufbrummen. Gott sei Dank ist er aber nicht hier, sondern in London, worüber ich ausgesprochen froh bin. Nach allem, was zwischen uns beiden vorgefallen ist, möchte ich ihm am liebsten nie wieder unter die Augen treten.

Langsam fahre ich weiter und suche währenddessen mein Portemonnaie. Da ich gerade nur eine Hand frei habe, gestaltet sich diese Mission etwas kompliziert. In meiner linken Hosentasche werde ich schließlich fündig, doch bei dem Versuch, es herauszuziehen, rutscht mir das Portemonnaie aus der Hand und landet im Fußraum. Na klasse. Einen Augenblick später komme ich neben dem Drive-in-Fenster zum Stehen und bücke mich, um es aufzuheben.

„Bitte sehr, Ihre Bestellung", sagt eine freundliche Stimme über mir und ich reiße erschrocken den Kopf hoch. Das gibt's nicht.

Der McDonald's-Mitarbeiter, der mich gerade angesprochen hat, ist ungefähr so alt wie ich und obwohl wir uns schon länger nicht mehr gesehen haben, erkenne ich ihn sofort wieder. Ihm geht's offensichtlich genauso, denn sobald sich unsere Blicken kreuzen, werden seine Augen auf einmal groß.

„Hey Jonny, was machst du denn hier?", fragt Lasse erfreut und ungläubig zugleich, während er mich neugierig mustert. „Solltest du nicht in London sein? Und warum hast du so bescheuerte Klamotten an?"

Da war Jonny wohl zur falschen Zeit am falschen Ort :0


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