Kapitel 4.2

Lustlos stocherte ich in den restlichen Salatblättern auf meinem Teller herum. Ich hatte kaum etwas von dem leckeren Essen gegessen, das wir uns von unserem Lieblingsrestaurant bestellt haben. Ich hatte einfach keinen Appetit und brachte auch keinen noch so kleinen Bissen mehr hinunter.

Klanglos ließ ich meine Gabel auf den Tellerrand sinken und sah zum ersten Mal, seit dem ich mich an diesem Abend an den Tisch gesetzt habe, auf. An dem mir gegenüber liegenden Platz saß Shawn. Vor ihm lag sein unbenutztes Besteck und daneben stand ein Teller mit Essen, das mittlerweile kalt sein musste. Er hatte es nicht einmal angerührt.

„Ich glaube, ich habe keinen Hunger", murmelte er leise vor sich hin und schob ohne mich anzusehen seinen Stuhl zurück und stand auf.

Es war die gleiche Routine wie jeden Abend. Wir saßen uns schweigend gegenüber, er aß nichts und zog sich mit der Ausrede er habe keinen Hunger in sein Musikzimmer zurück. Ich saß dann meist noch einige Minuten da und lauschte dem Ticken des Sekundenzeigers der Uhr bis ich dann schließlich auch aufstand und alles aufräumte und sauber machte. Und so kam es, dass ich mich von Abend zu Abend einsamer fühlte.

Shawn und ich redeten kaum noch miteinander. Wir hatten uns in den letzten Wochen so weit voneinander entfernt, dass ich manchmal zusammenzuckte, wenn er mich unabsichtlich berührte. Er fühlte sich eigenartig fremd an. Vielleicht war auch, das einer der Gründe warum ich anfing immer öfter im Gästezimmer zu schlafen. Ich hielt es einfach nicht aus neben ihm in unserem gemeinsamen Bett zu liegen und dabei einen gewissen Mindestabstand einzuhalten. Unser Schlafzimmer war immer ein Ort gewesen, in dem wir uns gemeinsam zurückzogen, wenn wir Zeit für uns brauchten. Es fühlte sich falsch an in diesem Raum neben ihm zu liegen, wenn wir uns doch eigentlich im Moment so weit voneinander entfernt hatten.

Natürlich vermisste ich den alten Shawn. Seine frechen Sprüche und sein breites Lachen, seine Musik die unsere Wohnung immer mit so viel Leben erfüllt hatte und sein Gesumme am Essenstisch, wenn ihm mal wieder eine neue Melodie durch den Kopf ging. Ich vermisste einfach die Person, die er vor der Überdosis war.

In Gedanken versunken räumte ich den Tisch ab und räumte die Küche auf. Als ich schließlich mit allem fertig war, sah ich auf meine Armbanduhr und bemerkte, dass es bereits 19 Uhr war. In Windeseile schlüpfte ich in meine Stiefel, warf mir meinen dunklen Mantel über und wickelte mir auf dem Weg vom Flur zu Shawns Musik Zimmer einen dicken Schal um. Ich atmete zweimal tief durch, ehe ich zaghaft an die weiße Holztür klopfte und diese dann langsam öffnete.

Sofort kam mir eine Welle von eisig kalter Luft entgegen. Ein kurzer Blick zu den Fenstern verriet mir, dass alle sperrangelweit offen standen und die Heizung anscheinend auch nicht an war. "Ich fahr nochmal zu Mom und Dad", sah ich den Braunhaarigen an. Ohne den Blick von seiner Gitarre abzuwenden und weiter an den Saiten zu zupfen nickte er schweigend. "Du solltest dir vielleicht ein bisschen mehr anziehen, wenn du so lange die Fenster aufhast", murmelte ich besorgt und sah an meinem Freund hinunter. Er trug lediglich ein dünnes weißes Shirt und eine Jogginghose bei einer Raumtemperatur von etwa 8 Grad.

Schweigend spielte Shawn weiter einige Akkorde auf der Gitarre, anstatt mir zu antworten. "Wie auch immer", schluckte ich meine Enttäuschung hinunter und drehte mich um, "bis dann."

Ich hatte schon fast den Raum verlassen und die Tür hinter mir stand nur noch einen Spalt breit offen, da hörte ich mehrmals hintereinander denselben Ton. Ein kleines Lächeln huschte über meine Lippen als ich das Geräusch wieder erkannte. Shawn hatte die Fenster geschlossen.

In der Tiefgarage war es eiskalt und mein Atem schlug sich als weißer Nebel in der Luft nieder. Ich vergrub meine Hände tiefer in den Taschen meines Mantels und beeilte mich schneller zu Shawns Jeep zu gelangen. In den letzten Wochen kletterte die Temperatur immer niedriger und um so lieber fuhr ich mit dem Auto des Sängers, da es im Gegensatz zu meinem Wagen eine Sitzheizung besaß. Und so sehr ich mein kleines altes Auto auch liebte, musste ich zugeben, dass ich ohne die Sitzheizung des Jeeps im Winter nicht mehr leben könnte.

Die Straßen waren verhältnismäßig leer an diesem Winterabend. Vermutlich verbrachten die meisten ihre Zeit lieber zu Hause auf der Couch mit einer Tasse ihres Lieblings Tees in der Hand als auf den vereisten Straßen Ontarios. Doch leider mochte ich keinen Tee und außerdem hatte ich meiner Mutter versprochen heute nochmal vorbeizukommen, um einige meiner Sachen abzuholen, die schon viel zu lange noch zu Hause standen. Und leider war ich auch noch verdammt spät dran. Ich hatte ihr versprochen ich würde 19 Uhr bei ihr sein, doch jetzt war es schon zwölf Minuten nach um und ich bräuchte noch mindestens fünfzehn Minuten bis nach Pickering. Ich war wie immer zu spät dran.

Als ich an einer roten Ampel hielt, wickelte ich mir meinen karierten Schal ab und legte ihn auf den Beifahrersitz. Danach schaltete ich das Radio an.

Ich erkannte den gerade laufenden Song an den ersten Tönen sofort wieder und drehte die Lautstärke hoch. I guess I just feel like von John Mayer.

Als das Lied gerade neu erschienen war, hatte Shawn es in Dauerschleife gehört. Womöglich haben sich auch deshalb die Worte so in meinen Kopf gebrannt. Leise sang ich die ersten beiden Strophen mit und war so vertieft in das Lied, sodass ich beinahe die richtige Ausfahrt verfehlte.

Der Wagen rollte im zügigen Tempo durch die Straßen meiner Heimatstadt. Vorbei an so vielen Orten an denen ich früher mit Shawn gewesen war. Mit einem Mal machte sich ein beklommenes Gefühl in meiner Brust breit und ich fragte mich wie es so weit kommen konnte, dass Shawn und ich kaum noch miteinander redeten.

. . . 

what happened
to us?
by unknown

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