8. Ist nicht Schluss zwischen euch?

°○ Manuel ○°

"Minchen!", flüsterte Leon. "Warum schläfst du denn noch nicht?"
"Ich hab geschlafen", meinte Jasmin, richtete ihre Augen kurz auf mich und wandte sich dann wieder dem Plüschtier in ihren Armen zu. Sie sah aus, als hätte sie geweint mit verquollenen Augen und roten Flecken an den Wangen.
"Hattest du einen Alptraum?", fragte ich.
Jasmin nickte.
"Komm mal her!" Leon breitete seine Arme aus, daraufhin kam unsere Schwester gleich seiner Aufforderung nach, lief zu ihm und setzte sich auf seinen Schoß.
Leon nahm sie in den Arm. "Erzähl mal, wovon hast du denn geträumt?"
"Papa war böse", sagte Jasmin. "Hat mit Mama geschreit und immer gehauen."
"Und das hat dir Angst gemacht."
"Ja", meinte Jasmin. "Ich hab mich versteckt. Mama ist weg gefahren. Die wollte mich holen." Sie begann zu weinen. "Will nicht wieder weggehen!"
"Was meint sie?", fragte ich.
"Sie macht sich Sorgen, dass Sabine wieder mit ihr wegfährt."
"Wohin denn?"
"Ins Frauenhaus", antwortete Leon.
"Da will deine Mutter wieder hin?"
"Ja... keine Ahnung."
"Will nicht weg!", schluchzte Jasmin.
"Ich weiß", sagte Leon und begann sie leicht in seinem Schoß hin und her zu wiegen. "Hat ja auch keiner gesagt, dass du weg musst."
"Das heißt ja nichts", meinte ich und wollte dann noch hinzufügen, dass Sabine Jasmin das letzte Mal ja auch von jetzt auf gleich von der Straße ins Auto gepackt hatte, ließ es dann aber, als Leon mir einen warnenden Blick zuwarf.
Ja gut, ich sollte mich da jetzt wohl besser zurückhalten, wenn ich überhaupt noch ein paar Stunden Schlaf kriegen wollte.
So wie ich Leon kannte, würde er seine kleine Minchen ja sicher wieder bei sich übernachten lassen.
War schon beeindruckend, wie gut Jasmin ihren Bruder im Griff hatte. Da reichte es schon, wenn sie ein bisschen was rumjammerte und Leon erfüllte ihr gleich jeden Wunsch. Sollte die so ne Masche mal bei mir versuchen, da würde sie sich noch umgucken!
"Mama kommt und fährt mit Auto weg", sagte Minchen, gedämpft durch den Stoff von Leons Tshirt, gegen das sie ihr Gesicht drückte.
"Nein", meinte Leon und strich ihr über den Kopf. "Da mach dir mal keine Sorgen. Du bleibst schön hier bei mir."
"Du bist nicht gekommen, wo wir weg waren!", sagte Jasmin, nahm ihr Gesicht von Leons Tshirt und sah vorwurfsvoll zu ihm hoch. "Mama hat immer geweint und du bist gar nicht zu Besuch gekommen!"
"Ja... ich weiß", meinte Leon. "Das tut mir auch leid. Ich hab halt bloß nicht rausgefunden, wo ihr seid."
"Dann musst du anrufen!"
"Das hab ich doch! Ich habe angerufen... bei dieser Hanna. Aber die wollte mir ja nichts sagen."
"Mama fährt bald wieder weg mit mir und-"
"Ihr fahrt nicht weg!"
"Doch!", entgegnete Jasmin. "Papa ist. böse und Mama sagt, dann fahren wir weg."
"Hat sie das wirklich so gesagt?"
Jasmin nickte. "Papa hat das gesagt. Der hat schlimm gehaut und ganz laut geschreit." Sie schniefte und wischte sich dabei mit der Hand durchs Gesicht. "Mama hat geweint. Ich wollte helfen, da hat Papa mich gestoßt. Hatte davon Aua am Kopf und Nase voll Blut."
"Hat er dir sonst noch irgendwo wehgetan?"
Erneutes Nicken.
"Und wo?"
Unsere Schwester antwortete nicht, zog stattdessen die beiden Ärmel ihres rosafarbenen Schlafanzugpullovers hoch und entblößte ihre nackten Arme, welche jeweils von blauen Flecken übersät waren - Druckstellen von Händen, die sie fest umgriffen hatten.
Leon zog scharf die Luft ein.
Als nächstes hob Jasmin ihren Pullover an, entblößte ihren Rücken, so dass nur Leon ihn sehen konnte.
Er musterte ihn, zog dabei ein Gesicht, als müsse er sich gleich übergeben und fuhr ihr mit den Fingern sachte darüber.
"Tut's noch weh?"
"Ja", schluchzte Jasmin. "Das brennt."
Leon schob ihr den Pullover und ihre Ärmel herunter. "Das wird bald wieder besser.", meinte er, zog Jasmin zurück in seine Arme, küsste sie und begann sie dann abermals hin und her zu wiegen.
"Soll ich ihr vielleicht mal eine Salbe holen?", fragte ich.
"Nee, komm!" Leon stieß ein zynisches Lachen aus. "Mach dir mal keine Umstände!"
"Wieso, ich kann doch eben-"
"Hast du da nichts von mitbekommen?" Leon nickte in Jasmins Richtung.
"Ich stand an der Kasse", meinte ich.
"Was du nicht sagst!"
"Ja... war halt viel los an dem Abend."
"Sicher!" Erneutes Lachen.
"Ich konnte die ganzen Kunden da doch nicht einfach so stehen lassen!"
"Stimmt... Muss ja auch jemand die Stellung halten, während Richard unsere kleine Schwester zusammenkloppt!", meinte Leon und nickte nachdrücklich. "Da hast du natürlich Recht."
"Scheiße, was hätte ich denn tun sollen?"
"Gute Frage!", sagte Leon. "Darüber solltest du vielleicht mal nachdenken!"
Er löste seine Umarmung etwas und wischte der Kleinen mit einem Taschentuch die Tränen vom Gesicht, welche die Augen sichtlich nervös zwischen uns hin und her huschen ließ.
"Nicht streiten!", sagte Jasmin.
"Wir streiten nicht, alles gut", beruhigte Leon sie und warf mir dabei einen weiteren finsteren Blick zu, als hätte er es da jetzt gerade nicht selber drauf angelegt.

°○ Leon ○°

"Guten Morgen, Geburtstagskind!", sagte ich, nachdem ich vom Duschen in mein Zimmer kam, einen Stapel frischer Wäsche aus Minchens Kleiderschrank in den Händen.
"Hast du gut geschlafen?"
Minchen gab ein leises Murren von sich.
"Soll ich dir gleich mal Frühstück machen?"
Ich kniete mich neben die Matratze, legte die Klamotten ab, beugte mich vor und fuhr meiner Schwester mit den Fingerspitzen durchs Haar, daraufhin drehte sie sich schnell von mir weg und zog sich die Decke über den Kopf.
"Wie wäre es mit Froot Loops?"
"Will nix essen."
"Aber einen Kakao möchtest du doch bestimmt haben."
"Nein", sagte Minchen.
"Komm, jetzt steh erst mal auf!"
"Will nicht aufstehen!", quäkte Minchen gedämpft unter der Bettdecke.
"Tust du aber!" Ich grinste.
"Nein!"
"Doch!", meinte ich und begann sie unter der Decke zu kitzeln.
"Leon, lass mich!" Minchen lachte.
"Okay." Ich hielt inne. "Dann steh jetzt auf!"
"Nein!", sagte meine Schwester wieder und wickelte die Bettdecke, wie um ihren Standpunkt zu verdeutlichen, noch enger um ihren Körper, dann fuhr ich damit fort, sie zu ärgern.
"Hör auf zu kitzeln!", schrie Minchen und begann nach mir zu treten, als ich ihrer Aufforderung nicht nachkam. "Leon, nicht!"
"Was denn?", fragte ich und fing jetzt auch an zu lachen, während ich sie an den Beinen packte und dazu überging, sie an den Fußsohlen zu kitzeln. "Ich mach doch gar nichts."
"Doch, du kitzelst!"
"Soll ich dich weiterkitzeln?"
"Nein!"
"Dann steh auf!", sagte ich und ließ meine Schwester los, woraufhin sie sich auf der Matratze aufsetzte, einmal hörbar durchatmete und dann endlich auf die Beine kam.
"Alles Gute zum Geburtstag!" Ich beugte mich zu ihr herunter, nahm sie in den Arm und gab ihr einen Kuss. "Willst du gleich mal dein Geschenk haben?"
"Ja!", rief Minchen begeistert.
Ich lächelte. "Aber erst mal wird gefrühstückt."

°○ Manuel ○°

"Wäre es möglich, dass ich mal kurz eine Pause mache?", fragte ich Richard, nachdem die zweite Kundenwelle an diesem Vormittag wieder abgeflaut war, riss eine neue Rolle mit Fünfzig Cent Stücken auf und befüllte damit die Kasse. "Vielleicht so eine Viertelstunde?" Ich sah Vater an, der hatte sein Telefonat mit dem Kunden gerade beendet - dessen Auto, ein grüner Polo brauchte, wie sich bei der Begutachtung in der Werkstatt
herausgestellt hatte, nicht nur neue Bremsscheiben, sondern auch eine Kupplungsdruckplatte.
"Ich würde gerne mal bei meiner Schwester anrufen."
"Natürlich, kein Problem", meinte Vater. "Das kleine Mäuschen. Wie geht's ihr denn jetzt im Heim?"
"Ich weiß nicht", antwortete ich und wich dem Blick meines Vaters aus. "Hab noch nicht wieder mit ihr gesprochen."
"Na dann wird's ja Zeit", meinte Vater und winkte Leon zu uns, der kam gerade vom Lagerraum in den Laden, zwei übereinander gestapelte Kisten vor sich hertragend.
"Dein Bruder wird solange die Kasse für dich übernehmen. Nimm dir so viel Zeit, wie du brauchst!" Er drückte mit die Schulter. "Und grüß Maria von mir."
"Das mach ich." Ich lächelte ihn an. "Danke."
"Was gibt's?", fragte Leon, der war gerade bei uns angekommen.
"Du übernimmst die Kasse für Manuel, solange der Pause macht", sagte Vater.
"Okay", meinte Leon daraufhin nur, wobei es ihm sichtlich Mühe kostete, nicht noch mehr zu sagen.
"Aber zuerst machst du die Regale voll."
"Da bin ich schon bei." Leon hustete.
"Ja, dann seh mal zu, dass du fertig wirst!" Vater bedachte ihn mit einem stregen Blick. "Die Eistruhe musst du auch noch durchwischen. Und die Kühlschränke. Das machst du aber nach Manuels Pause."
"Und wie lange soll die dauern?", fragte Leon.
"Das hat dich einen Scheiß zu interessieren!", blaffte Vater ihn an, der schien angesichts Leons Frage gleich von Null auf Hundertachtzig hochgefahren zu sein - keine Ahnung, warum. "Kümmer du dich mal besser um deine eigenen Angelegenheiten! Damit hast du schon mehr als genug zu tun!", fügte Vater noch hinzu und lief dann fort in Richtung Büro.
"Ich will nur eben kurz mit Maria telefonieren", sagte ich. "Eben fragen, wie es ihr geht."
"Wieso? Das geht dir doch eh am Arsch vorbei."
"Sie ist immer noch meine Schwester!"
"Ach was!" Leon lachte. "Das fällt dir auch früh ein!"
Ich ignorierte seinen bissigen Kommentar.
"Soll ich Maria gleich noch was von dir ausrichten?", fragte ich stattdessen.
"Was sollte ich der jetzt noch sagen wollen?"
"Keine Ahnung." Ich zuckte die Achseln. "Könnte ja sein, dass du dich bei ihr noch für die schöne Zeit bedanken willst."
"Ja genau!" Leon verdrehte die Augen. "Ich lach dann Morgen, wenn ich Zeit hab", sagte er, als im selben Moment Richards Stimme durch den Shop dröhnte.
"Leon! Zum Teufel, bist du da festgewachsen? Jetzt geh zurück an die Arbeit, sonst vergess ich mich gleich!"

°○°

Ich zog mich zum Telefonieren in den Abstellraum zurück. Hier hätte ich wenigstens fürs Erste meine Ruhe und Leon würde mich nicht nerven. Das hatte er schon mehr als genug, seitdem er wieder nach Hause gekommen war.
Sollte der mal lieber wieder das Weite suchen!
Seine Minchen könnte er dann auch gleich mitnehmen. Die ging mir mindestens genauso auf den Sack, wie er.
Wie konnte man bloß so verzogen sein?
Da musste Leon ja ganze Arbeit geleistet haben. Hatte ihr wahrscheinlich schon immer jeden Wunsch von den Augen abgelesen, ohne dass sie überhaupt jemals danach hatte fragen müssen. Und deswegen dachte sie jetzt wohl, sie sei eine Prinzessin oder sonst was.
Brauchte sie ja nicht glauben, dass ich ihr jetzt auch noch den Arsch hinterher trug, dachte ich und erinnerte mich dabei an den letzten Morgen, da war Richard bereits im Shop gewesen, Sabine war im Bett geblieben und Jasmin war zu mir gekommen, damit ich ihr Frühstück machte. Um es dann nicht zu essen. Und um rumzujammern.
Da hatte sie mich schon fast an Maria erinnert. Wobei die ja erst später so anstrengend geworden war. In Jasmins Alter war Maria noch ein richtiger Engel gewesen.
"Leuchtturm, Haus Berneburg, Susanne Fröhling, guten Tag!", meldete sich eine Frau am anderen Ende der Leitung.
"Guten Tag, mein Name ist Manuel Rehberg. Ich würde gerne mit meiner Schwester sprechen. Maria."
"Ach, wie schön! Da wird sie sich sicher freuen. Ich hol sie mal eben an den Hörer. Einen Moment, bitte!"
Schritte.
Entfernte Stimmen.
Ein Junge brüllte, eine Frau brüllte zurück.
Dann knallte eine Tür.
Nicht nur einmal.
Ich grinste.
In was für ein Irrenhaus hatten die vom Jugendamt Maria da denn reingesteckt?
Und wie lange würde sie es dort aushalten?
Da müsste Maria doch nur mal einer von den komischen Kindern dort schief angucken und sie würde schreiend davon laufen, wahrscheinlich geradewegs hierher, um sich wieder von Leon aushalten zu lassen - ob sie jetzt Schluss gemacht haben soll, oder nicht. Zum Arschpudern wäre der dann auf jeden Fall noch gut genug.
"Maria! Telefon für dich!", rief die Frau.
"Wer ist es denn?", fragte Maria.
"Dein Bruder."
"Oh." Eine weitere Pause verging, dann war erneut die Stimme meiner Schwester zu hören; diesmal sprach sie direkt in den Hörer. "Hallo?"
"Hey!", sagte ich und bemühte mich dabei fröhlich zu klingen, so als ob es mich wirklich freute, mit ihr sprechen zu können. In Wahrheit hätte es mich auch nicht weiter gestört, wenn gar nicht erst jemand ans Telefon gegangen wäre.
"Wie geht's dir?"
"Gut", antwortete Maria.
Schweigen.
"Und dir?"
"Mir auch", meinte ich. "Bin jetzt zu Waldners gezogen."
"Oh... okay."
"Ja... dann hab ich's nicht immer so weit zur Arbeit." Und ich habe zur Abwechslung mal ein Zuhause, in dem ich mich weniger wie ein leidig geduldeter Fremder vorkomme, der den anderen die Luft wegatmet, dachte ich noch dazu, sprach es jedoch nicht aus.
"Und wie lebt es sich so in der Wohngruppe?"
"Ganz gut", sagte Maria.
"Kommst du klar mit den anderen?"
"Ja... na ja..."
Erneutes Schweigen.
"Hab mit denen eigentlich gar nicht so viel zu tun."
"Achso." Das wunderte mich natürlich nicht. Hatte wahrscheinlich nicht lange gedauert, bis die anderen aus der Wohngruppe erkannt hatte, was für eine Dramaqueen meine Schwester war und dass sie eindeutig besser dran wären, wenn sie ihr so weit es möglich ist, aus dem Weg gingen.
"Und was machst du da jetzt so den ganzen Tag?", fragte ich.
"Ich... ähm... Na ja... ich bin jetzt mit Zeichnen angefangen."
"Zeichnen?"
"Ja..." Maria räusperte sich leise. "So mit Bleistift."
"Aha."
"Und nächstes Wochenende bin ich dann mit Kochen dran."
"Wechselt ihr euch da ab?"
"An den Wochenenden."
"Und was kochst du?"
"Weiß noch nicht", antwortete Maria. "Da wollte ich noch Leon fragen, weil... ich wollt ihn wohl einladen zum Essen."
"Hä? Ist nicht Schluss zwischen euch?"
"Was... wie meinst du das?", fragte Maria und klang mit einem Mal alarmiert. "Hat Leon das gesagt?"
"Er hat mir erzählt, du hättest mit ihm Schluss gemacht."
"Aber... das stimmt doch gar nicht!"
"Und wie kommt Leon dann darauf?"
"Keine Ahnung!"
"Habt ihr euch gestritten?"
"Ja, aber-"
"Und du bist da wieder ausgeflippt?"
"Nein... also... na ja... ich hab Leon gesagt, dass er gehen soll", sagte Maria. "Vielleicht hat er das dann falsch verstanden."
"Scheint so", meinte ich. "Dann solltest du das mal besser mit ihm klären."
"Ja..." Maria schien einen Moment zu überlegen. "Kannst du mir vielleicht mal seine Nummer geben?"
"Sowas klärt man nicht per SMS!"
"Ja... ich möchte ihn ja anrufen."
"Treff dich besser persönlich mit ihm."
"Ist er denn heute Zuhause?"
"Gerade wohl", antwortete ich. "Ist am arbeiten."
"Oh." Wieder eine Pause. "Weißt du, wie lange?"
"Woher sollte ich das wissen?", fragte ich zurück. "Du kennst doch Leon. Der kommt und geht, wie es ihm passt."
"Kannst du ihm dann vielleicht etwas von mir ausrichten?"
"Für wen hältst du mich? Dr. Sommer, oder was?" Ich lachte. "Nee, halt mich da mal schön bei raus! Mit deinem Männerchaos will ich nichts zu tun haben!"

°○ Maria ○°

"Ich muss jetzt auch aufhören. Die Arbeit wartet.", sagte Manuel. "Ich melde mich demnächst wieder." Mit diesen Worten drückte er mich weg, noch bevor ich mich verabschieden konnte. So tat es das immer, wenn wir telefonierten.
Ich legte auf und unterbrach damit das langgezogene schrille Tönen, welches nun aus dem Telefon kam.
Wunderte mich ja, dass Manuel sich überhaupt bei mir gemeldet hatte. Aber das hatte er sicher auch nur deswegen getan, damit dann später niemand behaupten könnte, dass er sich darum gedrückt hatte.
An sich war ich ihm ja ganz egal.
Da konnte Jasmin sich glücklich schätzen, dass sie jemanden wie Leon zum Bruder hatte. Der würde sich für seine kleine Schwester gleich beide Arme auf einmal ausreißen, wohingegen Manuel für mich nicht mal den kleinen Finger rühren würde - es sei denn, er hätte was davon.
Auch um mich hatte Leon sich immer gekümmert.
Und ich hatte es ihm nie gedankt. Stattdessen hatte ich mich ihm gegenüber immer wie die letzte Zicke aufgeführt.
Vorgestern auch wieder. Da hatte ich es dann sogar so weit getrieben, dass Leon jetzt dachte, ich hätte mit ihm Schluss gemacht.
So ein Quatsch!
Was glaubte er? Warum sollte ich so etwas tun?
Wäre doch viel wahrscheinlicher, wenn Leon mit mir Schluss machen würde.
Aber... vielleicht hatte er das ja auch, überlegte ich, und hatte das nur nicht so gesagt. Stattdessen tat er jetzt so, als hätte ich die Beziehung beendet, einfach um kein Drama deswegen zu haben.
"Hey!" Eileens Stimme vor der Tür. "Bist du da?", fragte sie und öffnete dann wie immer dir Tür, ohne überhaupt eine Antwort von mir abzuwarten.
"Draußen wartet jemand auf dich."
"Jemand?", fragte ich.
"Ein Junge." Eileen grinste. "Du lässt auch nichts anbrennen, kann das sein?"
Ich sah sie an. "Wie meinst du das?"
"Hast du nicht erst Vorgestern mit deinem Freund Schluss gemacht?"
"Ich hab nicht mit ihm Schluss gemacht!"
"Meinte Luca aber."
"Ja, soll er das meinen!", motzte ich. "Das heißt noch lange nicht, dass es auch so gewesen ist!"
"Und wie war es dann?"
"Das hat dich nicht zu interessieren!"
"Das hat dich nicht zu interessieren!", äffte Eileen mich mit übertrieben hoher Stimme nach.
"Lässt du mich jetzt mal durch?", fragte ich und verdrehte genervt die Augen, als Eileen sich auf meine Bitte hin nur noch breiter in den Türrahmen stellte.
"Erzähl mal!", forderte sie mich auf. "Was war das jetzt zwischen euch?"
"Nichts.", sagte ich.
"Und warum hast du ihn dann angebrüllt?"
Ich schwieg, da grinste Eileen wieder.
"Solange du das Maul nicht aufkriegst, lass ich dich hier nicht durch.", meinte sie. "Das kannst du vergessen."
"Schön!" Ich verschränkte die Arme vor der Brust. "Dann warte ich eben."
"Tu das!" Eileen starrte mich an.
Ich starrte zurück.
Sollte die mal sehen! Ich war gut im Warten, so gut wie in gar nichts sonst. Ich hatte schon immer warten müssen. Vor allem, wenn ich etwas haben wollte. Sogar, wenn ich auf die Toilette musste, ließ Vater mich warten. Manchmal stundenlang.
Von daher könnte dieses Spiel ruhig auch noch stundenlang so gehen. Das wäre mir ganz egal, wenn da nicht der Junge wäre, der draußen auf mich wartete. Wer mochte das sein? Leon ja wohl eher nicht. Der hatte mich ja immerhin mittlerweile abgeschrieben.
"Weswegen habt ihr euch jetzt gestritten, Leon und du?", fragte Eileen wieder.
"Wir haben uns nicht gestritten.", meinte ich.
"Ah ja? Und wie nennst du sowas dann, wenn jemand das ganze Haus zusammen schreit?"
Darauf gab ich keine Antwort.
"Luca meinte, du hast zu Leon gesagt, dass er sich nicht immer überall einmischen soll und dass er Schuld an allem ist."
"Ja und?"
"Woran ist Leon Schuld?"
"Ist doch egal!", antwortete ich und schniefte.
Warum konnten die mich hier nicht einmal in Ruhe lassen, verdammt noch mal?
"Woran ist er Schuld?", wiederholte Eileen ihre Frage.
"Das geht dich nichts an!"
"Mich geht hier alles etwas an!"
"Nicht, wenn es um meine Sachen geht!"
"Vor allem dann!"
"Was ist los hier?", fragte Luca, der tauchte hinter Eileen auf, so unvermittelt, dass ich vor Schreck zusammen zuckte.
"Ich versuch mich nur gerade mit unserer Heulsuse hier zu unterhalten. Ist aber gar nicht so einfach."
"Ja, dann lass es doch!", meinte Luca und warf mir einen abwertenden Blick zu. "Als ob man sich mit so jemandem unterhalten muss!"
"Ich will nur wissen, worüber sie sich mit ihrem Freund gestritten hat."
"Was interessiert dich das?"
"Ich bin halt neugierig."
"Oder du willst dich an diesen Leon ranmachen."
"Ja... das vielleicht auch." Eileen grinste.
"Soll ich sie zum Reden bringen?" Luca nickte zu mir; auch er hatte jetzt ein Grinsen im Gesicht stehen, eines von der Art, welches mir kalte Schauder über den Rücken fahren ließ.
Instinktiv wich ich ein paar Schritte zurück - zu spät.
Luca packte mich, viel zu schnell, als dass ich reagieren konnte, knallte mich gegen die harte Wand links von der Tür, legte dann seine kalten langen Finger um meinen Hals und begann zuzudrücken.
Ich wollte mich wehren, wollte um mich schlagen und treten, blieb stattdessen jedoch wie erstarrt. Brachte noch nicht mal einen Ton heraus. Und blickte in Lucas dunkelbraune Augen, welche sich wie zwei Dolche tief in meine bohrten.
"Ich muss das nur lang genug machen, dann verlierst du das Bewusstsein." Sein Grinsen wurde breiter. "Und wenn ich das noch ein bisschen länger zudrücke" Bei diesen Worten beugte sich Luca noch etwas mehr zu mir herüber, war mir bald so nah, dass ich seinen warmen Atem auf meiner Haut spürte, woraufhin mein Herz noch deutlich schneller zu klopfen begann. "Machst du die Augen gar nicht mehr auf."
Die Welt um mich herum begann sich zu drehen. Bald sah ich gar nichts mehr richtig, nur noch Lucas Augen. Nur waren sie jetzt nicht mehr braun.
Nein, jetzt waren sie schwarz. Schwarz wie der Tod, dachte ich.
In meinen Ohren begann es zu rauschen. Gleichzeitig schien mein Kopf auf einmal zwei Nummern zu klein zu sein. Der Druck darin, wie ein Luftballon kurz vorm Platzen. Luftballon.
Luft, dachte ich.
Keine Luft!
Ich brauchte Luft! Musste atmen!
Atmen!
"Wirst du Eileen jetzt ihre Fragen beantworten?", drang Lucas Stimme irgendwo aus dem Nebel zu mir durch.
Ich nickte, ohne großartig darüber nachzudenken.
Natürlich werde ich das, dachte ich. Alles was du willst, wenn du mich nur wieder atmen lässt!
"Gut." Luca ließ seinen Griff ein wenig locker. "Dann rede!"
Ich versuchte es. Öffnete den Mund und versuchte etwas zu sagen, brachte dabei jedoch keinen Ton heraus.
"Wird's bald?", drängte Luca mich.
Eileen lachte.
Ich versuchte erneut etwas zu sagen, doch keine Chance.
Meine Kehle schien immer noch wie zugeschnürt, während meine Lungen gleichzeitig damit beschäftigt waren, in kürzester Zeit so viel Sauerstoff wie möglich in sich reinzupumpen.
Luftballon, dachte ich wieder.
"Och hör!" Behutsam strich Luca mir mit den Fingern durchs Haar. "Soll ich dir noch mal helfen?", fragte er, als seine Hand schon wieder zurück an meinen Hals fuhr und dort verharrte, bereit jeden Moment wieder zuzudrücken.
"Bitte-", krächzte ich und hustete dann. "Hör auf!" Meine Augen füllten sich mit Tränen. "Ich sag euch auch alles!"
Lucas hob belustigt die Augenbrauen. "Wirklich alles?"
"Ja.", schluchzte ich, verschluckte mich dabei und begann heftig zu husten.
"Meinst du, dieses Rumgeflenne beeindruckt mich jetzt?", fragte Luca, strich mir eine Träne vom Gesicht und leckte sie sich dann vom Finger, den Blick dabei unverwandt auf mich gerichtet.
Kurz darauf begann er erneut damit, mich zu würgen.

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