76. Du bist wunderschön

°○ Leon ○°

In Marias Zimmer war es mal wieder schweinekalt, deshalb machte ich direkt das Fenster zu, als wir reinkamen, drehte die Heizung auf und hüllte mich anschließend zusammen mit Minchen in die dünne graue Wolldecke ein, welche ich auf dem Boden liegend neben dem Kleiderschrank fand.
Ich wunderte mich, dass Maria da nichts gegen gesagt hatte, dass wir mit zu ihr fuhren.
An sich hatte sie auch kaum noch was gesagt, seit die Bilder zur Sprache gekommen waren, hatte im Café einfach nur stur vor sich auf den Tisch gestarrt und später aus dem Autofenster, als Susanne uns mit hierher gebracht hatte.
"Was hat Manuel denn nun eigentlich zu den Bildern gesagt?", wollte ich wissen und spätestens an dem Blick, welchen Maria mir daraufhin zuwarf, aus stechend finsteren Augen und Lippen, welche derart verkniffen waren, dass sie schon einem Strich glichen, erkannte ich, dass es bei Worten allein zwischen Manuel und Maria wohl nicht geblieben war.
"Sie haben ihm nicht gefallen." Marias Stimme klang belegt. Sie räusperte sich ein bisschen. "Für ihn waren das nur Depri-Bilder", fuhr sie fort, dabei kam noch immer ein unangenehmes Rasseln aus ihrem Hals.
Ich fragte weiter: "Habt ihr euch gestritten?"
Ein zweites Räuspern, dann ein Husten. "Wir streiten... oft."
Ihre Augen begannen zu tränen.
"Brauchst du mal einen Schluck Wasser, Süße?" Ich kam auf sie zu, strich ihr über die Schulter. "Sonst hol ich dir eben-"
"Das mach ich schon selber!", fiel Maria mir ins Wort, schoss vom Stuhl hoch und eilte aus dem Zimmer.
"Okay..." Ich sah ihr hinterher.
"Doofe schnell-"
"Sie heißt Maria und nicht Doofe!"
"Find ich aber doof."
"Warum?"
"Weil die doof ist!"
"Vielleicht findet sie dich ja genauso doof", meinte ich und tippte meiner Schwester an die Nasenspitze. "Schon mal drüber nachgedacht?"
Darauf sagte Minchen natürlich nichts, zog dafür jetzt eine Schnute.
"Mein kleiner Engel, komm mal her!" Ich zog sie an mich und küsste sie. "Du bist doch eigentlich ganz lieb."
"Bin nicht-"
"Dann vertrag dich doch bitte mal mit Maria!" Ich gab ihr einen zweiten Kuss, diesmal auf die Hand. "Da würdest du mir sehr mit helfen."
Minchen schwieg.
Ich suchte ihren Blick, schob dann schließlich ihren Kopf zu mir hoch. "Wir können auch nachher noch zum Spielplatz gehen, wenn du möchtest. Dafür muss das jetzt aber auch gut klappen, okay?"
Es klopfte an der Tür: "Maria?"
"Die ist gerade nicht da", rief ich zurück.
"Leon?" Eileen öffnete die Tür. "Was machst du denn schon wieder hier?"
"Ist das vielleicht dein Zimmer?", fragte ich zurück.
"Früher war es das mal", antwortete Eileen, dann wandte sie sich an Minchen: "Hey, na Kleine?"
Meine Schwester verbarg das Gesicht an meiner Brust.
"Was denn jetzt?", fragte ich aus und lachte. "Das ist doch wieder Theater, Minchen! Komm, sag mal: Hallo!"
"Hallo." Kaum hörbar durch den Stoff meines Hoddies.
Ich gab ihr noch einen Kuss.
Eileen ließ ein entzücktes Quietschen hören. "Echt mal, die ist so niedlich!"
"Ja... meistens", meinte ich.
"Ist ja kaum zu glauben, dass sie deine Schwester ist."
"Hast du Geschwister?"
"Mehrere, ja", antwortete Eileen. "Halbgeschwister, ganze Geschwister und Stiefgeschwister. Darum weiß ich auch, wie man mit kleinen Kindern umgeht."
"Das ist ja auch nicht schwer."
"Ich hab da ein echtes Talent für, sagen immer alle."
"Okay..." Ich lachte. "Dann kannst du ja bald im Kindergarten anfangen."
"Das werd ich auch."
"Süße!", rief ich, als Maria neben Eileen im Türrahmen erschien, die dachte scheinbar gar nicht daran, sie an sich vorbei ins Zimmer zu lassen. "Da bist du ja wieder! Geht es dir besser?"
"Wieso besser?", fragte Eileen und verzog dabei hämisch das Gesicht. "Hast du schon wieder geheult?"
"Nein, hab ich nicht? Was laberst du für ne Scheiße?"
"Wie, als ob ich Scheiße laber! Mädchen, kack mich nicht an!"
"Dann lass mich einfach in Ruhe, du dumme Kuh!"
"Ich zeig dir gleich mal-"
"Es reicht!", fuhr ich Eileen dazwischen. "Maria, komm rein!"
"Ich wollt doch noch was fragen!"
"Was willst du denn fragen?", motzte Maria. "Ist jetzt ja nicht so, dass ich-"
"Weißt du was? Dann lass es doch sein!" Eileen ließ ein gehässiges Zischen hören. "Wenn du hier gleich immer so rumzicken musst!", meinte sie und stürmte dann fort.
Maria stieß ein frustriertes Knurren aus, kam ins Zimmer und knallte die Tür zu.
"Kommst du klar?" Ich unterdrückte ein Lachen.
Maria sagte nichts, setzte sich aufs Bett und verschränkte die Arme vor die Brust.
"Pass mal auf, Minchen! Du darfst jetzt ein bisschen Arielle gucken, okay?"
"Ich mag Arielle!" Minchen strahlte. "Bitte mit Pünktchen!"
"Meinst du die Folge mit dem Babywal?"
"Babywal, ja!
"Alles klar", meinte ich, gab meiner Schwester mein Handy und setzte sie neben mich auf der Matraze. "Aber nicht zu laut machen, sonst ist das Handy direkt wieder weg!" Ich wandte mich wieder an Maria. "Wie geht's jetzt deinem Hals, Süße?"
"Gut."
"Hast du Wasser getrunken?"
"Ja."
"Soll ich dir noch einen Tee machen?"
"Nein, danke."
Ich legte meinen heilen Arm um sie und drückte ihr einen Kuss auf die Wange.
"Dann erzähl mal! Wie habt ihr euch genau gestritten, Manuel und du?"
Maria antwortete nicht sofort auf meine Frage, schien dafür noch eher mit leeren Vorsichhinglotzen beschäftigt zu sein, darin war nur Sabine noch besser.
"Er hat mein Zimmer durchsucht, nach der Mappe."
"Ja, davon hatte ich ihm erzählt."
"Warum hast du das getan?"
"Weil ich mir Sorgen um dich mache", sagte ich und gab Maria einen Kuss, die drehte nur den Kopf zur Seite.
"Manuel geht's da auch nicht anders."
"Er sollte da nie was von wissen!" Maria rückte ein Stück von mir weg. "Du hättest das für dich behalten sollen!"
"Sowas darf man nicht für sich behalten. Wenn du-"
"Wer sagt das?"
"Wenn du dir irgendwann mal richtig schlimm was antust, dann würd ich mir das nicht verzeihen."
"Es ist ganz allein meine Sache, was ich tue und-"
"Du bist aber nicht allein auf der Welt!"
"Du genauso wenig, dann brauchst du auch nicht so rumzuschreien!"
"Leon, bist du böse?", mischte meine Schwester sich jetzt ein.
"Nein! Alles gut!", antwortete ich.
"Ihr streitet."
"Wir reden nur." Ich streichelte ihr über den Kopf. "Guck du mal die Serie weiter!"
"Wer weiß noch von der Mappe?"
"Niemand."
Maria musterte mich. "Du lügst."
Einen Moment lang hielt ich ihrem Blick stand. Dann wich ich ihr aus.
"Es tut mir leid."
"Wer weiß noch davon?"
"Mehmet. Und Melanie."
"Ja, toll!" Maria ließ ein wütendes Lachen hören. "Die halten mich ja eh schon für'n Psycho. Aber das tun ja sowieso alle-"
"Süße-"
"-dann kann ich mir die Bilder auch genauso gut an die Stirn heften!"
"Dich hält-"
"Versuch's gar nicht erst, Leon!", fiel meine Freundin mir wieder ins Wort. "Dir glaub ich gar nichts mehr!"
"Das kannst du aber! Maria, du kannst-
"Du lügst mich immer nur an!"
"Das stimmt nicht!"
"Wundert mich ja echt, dass du überhaupt noch mit mir zusammen bist!"
"Ich bin mit dir zusammen, weil ich dich liebe!"
"Ja, wie schön!", schrie Maria mich an. "Da glaub ich auch einen Scheiß was von!"
"Maria soll nicht schreien!", meldete sich wieder Minchen, und begann dann direkt zu weinen. "I-ch-ch-chill jetzieber zum-"
"Hey... schh... ist doch gut, Minchen! Komm mal her!" Ich zog sie auf meinen Schoß.
"Wow! Ist ja super!" Maria stand auf. "Jetzt bin ich wieder die böse!"
"Das hat keiner gesagt!", entgegnete ich.
Maria lief zum Fenster.
"Alles gut, mein Engel! " Ich wog meine Schwester im Arm. "Beruhig dich mal wieder, komm-"
"Gib ihr doch ne Tablette!", schlug Maria gehässig vor. "Oder irgendwelche-"
"Maria?" Davids Stimme vor der Tür.
"Was willst du?"
"Kommt ihr zur Teezeit?"
"Ich komm zu gar nichts!", fuhr Maria den Betreuer an, da öffnete der die Tür:
"Gibt es ein Problem?"
"Nein!"
"Sie hat etwas schlechte Laune", erklärte ich. "Vielleicht kommen wir gleich nach."
"Ihr könnt ja jetzt schon gehen, du und diese blöde-"
"Sag mal, Maria! Wie redest du hier?", wies David sie zurecht. "Sie ist doch noch ein kleines Kind!"
"Ein Teufelskind, das passt viel besser!"
"Minchen hat dir jetzt mal gar nichts getan!", entgegnete ich und zog meine Schwester noch enger an mich ran.
"Von wegen nichts getan! Da reicht schon ihre-"
"Maria... hey..." Der Betreuer kam langsam ins Zimmer. "Du bist ja völlig aufgebracht!"
"Ist doch kein Wunder, wenn ich hier immer nur verarscht werde!"
"Aber wer verarscht dich-"
"Du!", brüllte Maria mir entgegen. "Am allermeisten noch von allen!"
"Was ist denn hier los?" Susanne im Türrahmen. "Das schallt mir ja-"
"Hau du bloß ab!", giftete Maria sie an. "Das ist mein Zimmer! Da brauchst du gar nicht vorzustehen!"
"Die beiden haben wohl einen Streit", erklärte David.
"Eigentlich nicht." Ich schaute wieder zu Maria, die stand immer noch am Fenster, bebte dabei jetzt richtig vor Wut. "Also, ich weiß gerade-"
"Gar nichts weißt du!"
"Soll ich die Kleine mal nehmen?", fragte Eileen, die drängte sich halb zwischen Susanne und der Tür hindurch, als Maria gleichzeitig ausholte. Im nächsten Augenblick flog ein Buch in Richtung Bett flog, verfehlte Minchen und mich dabei jedoch um mehrere Zentimeter.
"Geh du mal in die Küche, Eileen, hier hast du jetzt gerad-"
"Warte!", rief ich der Betreuerin dazwischen, erhob mich noch mit Minchen im Arm mühsam vom Bett und lief auf sie zu. "Sie kann Minchen ruhig schon mal in die Küche bringen. Da ist doch bestimmt noch ein dritter Betreuer?"
"Genau, Lea ist da", antwortete Susanne. "Das ist doch gut." Ich lächelte, zwang mich vielmehr dazu. "Ne, Minchen? Dann setzt du dich da mal hin und wartest schön auf mich."
"Schön warten."
"Und Tee trinken."
"Mit Himbeere drin."
"Wenn die das da haben, ja", sagte ich, drückte meiner Schwester noch einen Kuss auf die Stirn und stellte sie auf den Boden ab. "Hier ist das im Moment auf jeden Fall zu laut für dich."
"Ganz viel zu laut."
"Das regt dich nur unnötig auf, mein Engel. Hier!" Ich gab ihr ein Taschentuch. "Nun schnaub dich mal aus!"
"Dreck richtig raus." Minchen hielt sich das Tuch vor die Nase. "Sauber putzen", fuhr sie fort, dann schnäuzte sie sich.
"Genauso, super!", sagte ich, nahm ihr das Tuch aus der Hand und steckte es in die Tasche ihrer Jeans. "Und jetzt gehst du mit Eileen, okay? Ich komm dann später nach."

°○°

Einige Minuten später hatte Maria sich wieder beruhigt.
Diesmal war ihr Ausraster auch echt mal heftig gewesen.
Nicht nur mit Weinen, Zittern und Schimpfen.
Nein, diesmal hatte sie richtig auf mich losgehen und noch mehrmals was nach mir werfen wollen. Aber die Betreuer hatten sie daran gehindert, hatten sie sogar immer mal wieder kurz festgehalten, so wie ich das öfter bei Minchen mal musste.
Jetzt waren wir wieder allein.
Maria saß in ihrem Schreibtischstuhl, den Blick zur Wand gerichtet.
Sie weinte, schon wieder.
Aber das war jetzt gut so, hatte Susanne mir erklärt.
"Dadurch kommt sie wieder runter. Und kann sich orientieren."
"Das ist, wie wenn ob du aus nem Traum aufwachst", hatte David gesagt, der schien auf jeden Fall einer von den weniger strengen Betreuern von Maria zu sein. Oder vielleicht dachte ich das auch nur, weil Maria hauptsächlich mit Susanne gestritten und er die meiste Zeit über nur wie dumm daneben gestanden hatte.
"Was war das jetzt gerade eben?", durchbrach ich das Schweigen im Zimmer, nur unterbrochen vom festen Schniefen, welches sich unter das ansonsten kaum hörbare Fiepsen meiner Freundin mischte.
"Warum musstest du so ausrasten?"
"Es-s-s-sut mir leid!"
Ich ignorierte ihre Entschuldigung. "Ging's dir nur um die Bilder?"
"Neiin!"
"Worum denn noch?"
"Um alles i-i-irgendwie... glaub ich", schluchzte Maria und rieb sich mit den Händen durchs Gesicht. "Ich-ch-ch-cheiß es nich-ch-cheere-n-n-nau."
"Du meintest, dich würden alle immer nur verarschen. Vor allem ich."
"So h-h-hab ich das doch-", wollte Maria sagen, begann dann aber zu husten.
Ich nahm mir das Glas mit Wasser vom Nachttisch, das hatte ich vorhin erst geholt, und brachte es ihr, bevor ich mich dann wieder aufs Bett setzte.
Maria trank das Wasser, nur ganz langsam, Schluck für Schluck, dabei fiel mir erst auf, dass sie zitterte.
"Du meintest auch, dass dich alle für einen Psycho halten. Auch weil ich das mit den Bildern erzählt hab."
"Was h-ha-haben sie ge-s-s-agt?" Maria schniefte wieder. "Mehm-m-m-m-et und M-M-Melanie?"
"Eigentlich nur, dass das ein schlechtes Zeichen ist."
"Da-f-f-für, dass-s-sicher-r-r-rückt bin?"
"Dass es dir nicht gut geht", sagte ich, stand auf, brachte ihr die Box mit den Taschentüchern zum Tisch und setzte ich mich wieder zurück.
"Ich-ch-ch-chann da j-j-jetzt nie w-w-wiedaha-ha-" Maria nieste.
"Gesundheit!"
Lautes Schniefen. Und natürlich kein Danke dabei, geschweige denn ein Griff zu den Tüchern.
Mein Handy vibrierte.
Ich warf einen Blick darauf.
Es war Mehmet, der hatte mir ein Foto geschickt. Von seinem Wohnzimmertisch. Der war gedeckt mit Tellern und Schalen voller leckerer Sachen, darunter Pizzaschnecken, Frikadellen-Häppchen und schokolierte Obstspieße. Mittig standen noch zwei Gläser mit Cocktails, dabei tippte ich auf Cuba-Libre für Mehmet und einem African Queen für Melanie.
Na toll, die hatten es gut, dachte ich, die machten es sich jetzt einfach schön. Lagen gemütlich auf der Couch und-
Eine neues Foto. Diesmal vom Fernseher, auf dem war gerade das Titelbild von American Pie Teil Vier zu sehen.
"Ich kann-n-n-na jetzi-i-ie wieder hin!"
Ich seufzte.
Wieso konnte ich nicht mal an Mehmets Stelle sein? Einfach mal einen unbesorgten Fernsehtag haben, zusammen mit meiner Freundin. Stattdessen, dass sie jetzt hier sitzt und heult?
"Bitte, L-L-Leon! Mich h-h-hassen doch jetzt schon a-alle. Bitte nicht du a-a-auch noch!"
"Ich hasse dich nicht", sagte ich, stand auf und lief zu Maria. "Und sonst tut das auch keiner... außer Julia vielleicht und ihre Zickenfreunde, aber das kann dir ja egal sein. Komm mal her!" Mit einem Taschentuch wischte ich Maria das Gesicht sauber. "Du magst doch selber nicht jeden. Komm, schnaub!"
Maria schnäuzte sich. Zögerte. Und blies dann noch mal kräftiger ins Taschentuch, welches ich ihr hinhielt.
"Wir machen uns alle nur Sorgen um dich." Ich knüllte das Tuch zusammen, warf es in den Müll und suchte dann Marias Blick. "Dir geht's komplett beschissen, Süße, da musst du was dran ändern!"
"Was s-s-soll ich daran ä-ändern?"
"Mach ne Therapie!"
"Die br-r-ringt mir Vater auch nicht zur-r-rück."
"Es würde dir trotzdem helfen", beharrte ich. "Wenn du mal darüber reden kannst-"
"Ich will aber g-g-gar nicht r-r-reden!" Maria schluchzte wieder schlimmer: "Ich-ch-ch-chillur meinen Vater wieder-r-ra-ha-haben!"
"Ich weiß! Hey, schhh... ist doch gut!" So fest wie ich konnte, nahm ich sie in den Arm, zumindest in den einen, der noch heile war. Und streichelte sie, solange, bis Maria sich wieder einigermaßen gefangen hatte.
"Es-s-s-ut mir Leid! Ich... will hier g-g-gar nicht heulen."
"Dafür musst du dich nicht entschuldigen, Süße", meinte ich und küsste sie. "Heul dich ruhig aus, wenn dir das hilft. Das mach ich auch manchmal."
Nur, dass da bei mir in der Regel niemand was von mitbekommt, fügte ich in Gedanken hinzu, nur in letzter Zeit, da kam das schon mal öfter vor.
Maria nahm sich noch ein Taschentuch, wischte sich damit die Tränen ab. "Du h-h-heulst nie so v-viel wie i-ich."
"Wie nicht so viel?" Ich lachte trocken auf. "Im Moment heule ich doch die ganze Zeit!"
"Ja... ab und zu m-mal", meinte Maria, tupfte sich die Nase und schniefte. "Wegen E-E-Eddie. A-Aber das i-ist doch klar. Auch v-v-vorhin... das beim... Krankenhaus. Sowas w-w-würde jeden treffen."
"Genauso wie wenn der Vater stirbt", sagte ich.
"Er... i-i-ist nicht n-n-nur gesch-schorben."
"Ja, er hat sich umgebracht." Wie Eddie, dachte ich, und trotzdem doch ganz anders.
"W-W-Würdest du h-h-heulen, w-wenn dein Vater stirbt?"
"Das wird er auf jeden Fall irgendwann."
"U-Und? Würdest du... um i-i-ihn trau-ern?"
Ich überlegte einen Moment. "Wahrscheinlich eher nicht", antwortete ich dann.
Maria nickte. "Das... k-kann ich verstehn."
"Ja... ist jetzt nicht so, dass mir das komplett egal wäre, wenn er" An dieser Stelle seufzte ich tief auf. "Von der Welt geht. Aber, an sich... würd dann schon vieles leichter werden", endete ich stockend. Und blickte dann zur Uhr. Schon halb fünf.
"Wollen wir gleich zur Teezeit gehen? Ich würde mal gerne was trinken."
"Gehe du ruhichin."
"Und was ist mit dir?
"Ich-ch-cheib lieber hier", antwortete Maria mit belegter Stimme und räusperte sich leise. "D-Das is-s-sesser für... alle."
"Für mich mindestens nicht."
"M-M-Mindestens n-n-nicht", wiederholte Maria. Sie lachte. Und hustete dann. "Als o-ob du das so m-m-meinst!"
"Warum sollte ich lügen?"
Ein weiteres Räuspern, gefolgt von festem Schniefen. "Ich... seh auch ger-rade vielu sehr wien-n-n... Psycho aus."
"Wie sieht für dich denn ein Psycho aus?"
"So... h-hässlich halt."
"Du bist doch nicht hässlich, Süße!"
"Doch, das-"
"Du bist wunderschön."
"Wunderschön!", wiederholte Maria. Wieder stieß sie ein verächtliches Lachen aus, diesmal zusammen mit einer Blase hellgrünem Schnodder, die ihr aus dem Nasenloch platzte. Sichtlich beschämt...

°○ Maria ○°

... wischte ich es schnell weg.
"Ich-ch-chin... abstoßend."
Wie eine Vogelscheuche, dachte ich, genau darum nannten mich doch auch-
"Komm!" Ein frisches Taschentuch an meinem Gesicht. "Jetzt raus damit!"
Ich zögerte, dann schnäuzte ich mich.
"Und weiter, Süße! Vernünftig!"
Leon putzte mir die Nase, hielt mir dabei mit quälender Gründlichkeit immer erst das eine und dann das andere Loch zu, während ich schnaubte, zuletzt noch mit einem hörbaren Quietschen.
Es war erbärmlich.
Ich war erbärmlich.
"Alles gut, Süße! Los, schau mich mal an!" 
Wie ein Baby, dachte ich, ekelig und peinlich.
"Du musst dich nicht schämen. Komm, schau mal zu mir!" Mit leichtem Druck schob Leon meinen Kopf zu ihm hoch. Und hielt mir dann noch ein neues Tuch vor die Nase: "Komm schon, schnaub!"
Ich tat es, noch mehrmals und kräftig.
"So, wieder besser?" Leon suchte meinen Blick.
Ich wich ihm aus und nickte, spürte im nächsten Moment erneut seine Finger an meinem Kinn, wie sie meinen Kopf hochdrückten.
Er musterte mich, dann gab er mir einen sanften Kuss.
"Du kannst mir das ruhig glauben, wenn ich dir sag, dass du schön bist."
Ich verdrehte die Augen. "Ja, klar!"
"Es stimmt, Maria!" Noch ein zweiter Kuss, nun auf mein Ohrläppchen. "Das musst du nur selber mal so sehen!"
"Wie soll das gehen? Indem ich mir die Augen ausstech!"
"Jetzt red doch keinen Müll!", wies Leon mich zurecht. "Wir hübschen dich jetzt auf, okay? Eben mit nem coolen Pullover und ein bisschen Schwarz um die Augen." Bei diesen Worten lief er zum Kleiderschrank, zog die Türen auf und begann darin zu suchen. "Wo ist denn dieses blaue Teil... hier, guck!" Er hielt mir einen Pullover hin, einen von den besonders dünnen und zugleich noch hautengen, durch welche man meine Brustwarzen sehen konnte.
"Den nicht, bitte!" Ich verzog das Gesicht. "Da scheint doch alles durch!"
"Ja, und? Ist doch geil!"
"Ich will den so nicht tragen!"
"Dann zieh dir noch was drüber... Wow!", meinte Leon, holte eine schwarze Kapuzenstrickjacke aus dem Schrank, die kitschige, mit den großen weißen Augen darauf."
"Wo hast du die denn her?"
"Die hat Laura mir geschenkt."
"Wann das?"
"Keine Ahnung... ist schon etwas her."
"Und seitdem liegt das einfach so im Schrank? Mit sowas musst du dich doch zeigen! Da, nimm!" Er warf mir die Klamotten zu.
Ich seufzte leise auf, dann zog ich mich um.

°○ Leon ○°

"Das sieht doch komplett albern aus!"
"Was von wegen albern? Du siehst richtig cool aus, Süße! Komm, nimm noch den Kajal!"
Maria hatte sich bereits die Wimpern getuscht, sogar ein wenig Concealer hatte sie aufgetragen. Damit allein sah sie schon völlig anders aus. Kein Vergleich mehr zu dem heulenden Mädchen von vorhin, mit spröden Lippen und Rotz in der Nase. 
"Meine wunderhübsche Freundin!"
"Jetzt lass das doch mal sein! So ein Quatsch!"
"Aber es stimmt!", entgegnete ich. "Guck mal richtig-"
Es klopfte an der Tür.
"Jetzt nicht!"
"Leon?" Davids Stimme, ungewöhnlich streng. "Kommst du gleich mal bitte ins Büro?"

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top