74. Schau mich an!

°○ Leon ○°

Minchen schlief gerade wieder, war im Laufe der letzten paar Stunden aber immer wieder aufgewacht.
Ich hielt sie im Arm.
Selbst hatte ich noch gar kein Auge zugetan, den Kopf nur voller Gedanken. Gedanken an meine Schwester und daran, wie das alles weitergehen sollte. Gedanken an Eddie. An den Besuch auf dem Friedhof. Und wie schlecht es uns jetzt deswegen ging.
Ich war selber Schuld daran. Im Gegensatz zu Maria. Die konnte nichts dafür.
Sie war im Grunde krank, zerbrochen sozusagen.
Wegen ihrem Vater.
Und ich kann ihr nicht helfen, dachte ich, egal wie sehr ich es auch will.
Rechts von mir drehte sich Manuel im Schlaf, grunzte leise und schluckte dann.
Verdammter Ficker, dachte ich. Du schläfst natürlich tief und fest. Als gäbe es nichts böses in der Welt.
Er hätte Maria beschützen müssen. Schon vor Jahren hätte Manuel der ganzen Scheiße ein Ende setzen, sich diesem Schwein entgegen stellen müssen.
Stattdessen hatte er weggesehen.
Und tat es heut noch immer.
Ich stand vom Sofa auf, nahm mir meine Zigaretten vom Tisch, schnappte mir meine Jacke von der Lehne und lief hinaus auf den Balkon.
Wie sollte das alles nur weitergehen? Das war doch jetzt schon viel zu krass!
Und für Minchen gab es auch keinen Welpenschutz mehr.
Ich durfte das nicht zulassen, dass Richard ihr was tat! Auf keinen Fall nochmal!
Ab jetzt müsste ich noch besser auf meine Schwester aufpassen. Am besten immer bei ihr sein. Und möglichst selten Zuhause.
Ich schaute hoch zum Himmel, der war...

°○ Maria ○°

... von Sternen übersät. Auch der Mond war zu sehen, so weiß und klar, wie nur er selber scheinen konnte.
Es war als hätt der Himmel die Erde still geküsst. Der Anfang eines Gedichts, dessen Rest ich nicht mehr wusste.
Irgendwann letztes Jahr hatte ich es mal interpretieren müssen, zuhause für Vater. Allerdings hatte ich es nicht hinbekommen, zumindest nicht so, dass es ihm gefallen hätte.
Ich habe Vater so gut wie immer nur enttäuscht, dachte ich, stand auf und lief zum Bett, an dessen gegenüberliegenden Wand hing ein neuer Spiegel, daneben ein Plakat. Es zeigte eine Sonne, auf deren Mitte stand: Ich kann gut... und drum herum Strahlen aus gelber Pappe.
Bisher waren es lediglich drei. Aber nach und nach sollten es auf jeden Fall noch mehr werden, wenn es nach Susanne ging.
Kochen.
Zeichnen.
Und Putzen.
Ich las die Worte mehrmals durch. Und schämte mich dafür. Was für einen Eindruck machte das? Als ob ich so ein altes Mütterchen wär! Fehlte nur noch das Strickzeug dabei!
Es klopfte an der Tür, kurz darauf kam Luca herein: "Was machst du so?"
"Nichts."
"Wirklich nichts?"
"Ich wollte gleich schlafen."
Mein Mitbewohner musterte mich. Dann grinste er. "Das glaub ich dir nicht."
"Wie schön für dich!", entgegnete ich und biss mir dann gleich auf die Zuge, als ob das wirklich noch was gut machen, im besten Fall die eben geäußerten Worte einfach so wieder auslöschen konnte. Doch Luca scherte sich gar nicht um sie. Stattdessen betrachtete er die Sonne an der Wand, woraufhin sein Grinsen noch breiter wurde: "Kochen und Putzen. Was besseres ist dir wohl nicht eingefallen?"
Ich antwortete nicht.
"Als ob du son altes Waschweib bist!" Luca gluckste. Gib mal einen Edding!"
"Was willst-"
"Und so ein gelbes Papier! Jetzt, schnell!"
Ich stieß ein genervtes Seufzen aus. Lief an den Schreibtisch und suchte beides raus.
"Geh mal weg da!", bestimmte Luca, zerrte mich vom Stuhl und setzte sich selber drauf. "Wollen wir mal sehen, was wir noch so alles ergänzen können." Er griff nach dem Edding, überlegte kurz und schrieb dann auf das gelbe Papier:
andere zum Lachen bringen
nerven
träumen
Drama machen
Aufmerksamkeit erzwingen
hübsch aussehen
in der Schule lernen
Mitleid mit mir haben
mich verstecken
lange im Bett liegen
"So", meinte Luca. "Mehr weiß ich erst mal nicht." Er schnitt die Worte in langen Streifen aus. "Aber da kommt bestimmt noch was", fügte er dann noch augenzwinkernd hinzu, stand auf und klebte die Streifen an die Sonne.
"Sieht jetzt wenigstens schon mal nach was aus." Er klopfte mir auf die Schulter, grinste nun wieder. "Gern geschehen!"

°○ Leon ○°

Der Wind auf meiner Haut. Er war kalt, stach mir wie tausend Nadeln ins Gesicht.
"Kannst doch zu deinen anderen Freunden gehen, wenn dir langweilig ist."
Eddie.
Mein bester Freund von früher.
Jetzt war er wieder acht Jahre alt, so gut wie jede Nacht seit seinem Tod.
"Eddie, hör-"
"Da steh ich dann immer nur-"
"Hör mir-"
"am Rand und-"
"zu, bitte! Ich-"
"Aber meinen neuen Ball, den leiht ihr euch dann trotzdem gerne aus!", fuhr mein Freund fort zu schimpfen und er tat es ja zu recht.
"Ich wollte immer gerne, dass du mitspielst", sagte ich.
Eddie lachte laut auf. "Das glaub ich dir nicht."
"Kannst du aber", betonte ich.
"Mit mir will niemand was zu tun haben!"
"Doch! Eddie-"
"Nein!"
"Die anderen finden dich halt komisch."
"Genauso sehr wie du!"
"Nein, das-"
"Leon schießen!"
"Jetzt lass uns mal in Ruhe!", fuhr Eddie seine Schwester an, natürlich war sie auch wieder dabei, mit grüner Jacke und dazu passendem Mützchen.
"Will schießen!" Ranja sah mich an, kickte den Ball noch weiter in meine Richtung. Ich ließ ihn rollen, hob sie in meine Arme und küsste sie. "Mein kleines Füchschin! Wir gehen jetzt besser wieder nach Hause."
"Nicht Hause! Will spielen."
"Aber hier ist es zu gefährlich für dich", erklärte ich und wandte mich dann wieder an meinen Freund: "Komm Eddie-"
Aber er war nicht mehr da, zumindest nicht dort, bei der schiefen Tanne, wo er vorher noch gestanden hatte.
"Eddie? Wo bist du?" Ich schaute mich um. "Eddie!"
"Du hast mir immer nur alles genommen!"
Hinten auf dem See.
Wo das Eis dünn war.
"Alles musstest du haben! Meine Autos! Meine Comics! Sogar meine Schwester!", schluchzte Eddie. "Wegen dir hab ich gar nichts mehr! Niemanden! Weißt du, wie das ist?"
Ich schreckte aus dem Schlaf.

°○ Maria ○°

"Bist du müde?", fragte ich Leon, der wischte sich über die tränenden Augen.
"Schon, ja", antwortete Leon und räusperte sich. "Ich schlaf in letzter Zeit nicht so gut.
"Ich auch nicht."
Wegen meinem Vater, fügte ich in Gedanken hinzu.
Leon legte seinen Arm um mich. Und gab mir einen Kuss.
"Keine leichte Zeit gerade."
"Das war sie nie", sagte ich.
"Stimmt." Leon seufzte. "Komm, lass-"
"Da seid ihr ja!", rief Ali, der kam Händchen haltend mit Verena angelaufen, gefolgt von Mehmet; dessen Augen klebten natürlich mal wieder auf seinem Handy. "Wir waren gerade in der Cafeteria." Wie zum Beweis seiner Aussage hob er eine Brötchentüte hoch.
"Hast du auch was für mich dabei?"
"Was glaubst du?", fragte Ali zurück und drückte Leon die Brötchentüte in die Hand. Der öffnete sie gleich und suchte sich ein mit Salami belegtes Brötchen heraus.
"Perfekt!" Er biss hinein, sah dann mich an. "Willst du auch was, Süße?"
"Babybrei hab ich leider nicht dabei."
"Ich will nichts, danke!", zischte ich.
"Soll ich dir vielleicht mal ein Fläschen mit Milch warm machen?"
"Lass mich in Ruhe!"
"Mee meehh!", äffte Ali mich nach.
"Das darfst du dir nicht gefallen lassen, Süße!" Leons Stimme nah an meinem Ohr, gefolgt von einem Kuss. "Wehr dich mal!"
"Das will ich nicht!"
"Das willst du nicht?" Ali lachte.
"Los, klatsch ihm mal eine!", forderte Leon.
"So ne Scheiße mach ich nicht!"
"Doch, komm! Einfach drauf!" Bei diesen Worten nahm Leon meine Hand und formte sie zur Faust. "Das hat er sich verdient."
"Jetzt lass mich einfach!" Ich riss mich von ihm los. "Du Penner!"
"Natürlich bin ich jetzt wieder der Penner!" Leon lachte hämisch auf. "Und bei ihm traust du dich nichts!"
"Was heißt hier, nichts trauen? Ich hab da keinen Bock drauf!"
"Süße, komm! Nur einen Schlag!", drängte Leon weiter. "Und wenn's nur gegen die Schulter ist! Da merkt er doch nichts von!"
"Ich will das nicht und-"
"Hey Vogelscheuche!"
"Halt dein Maul, sonst stopf ich's dir!", fuhr ich Julia an, als diese gerade mit Sabrina und Monika um die Ecke kam.
"Wie bitte, was?"
Die Mädchen brachen in überraschtes Lachen aus, Julia aber nicht. Die kam dafür auf mich zugestürmt. Und landete im nächsten Moment auf dem Boden, zwischen weggeworfenen Zigarettenstummeln und Energy-Dosen, als Leon sie zu Boden warf und das bekam er auch trotz Gips noch ganz gut hin.
"Bist du bescheuert?", fragte Julia und wollte sich wieder aufrappeln, da trat er ihr auf die Hand.
"Wer ist hier die Vogelscheuche?"
"Lass mich los! Du Arsch-aaahh!"
"Wie war das? Wiederhole das noch mal, bitte!", forderte Leon, im nächsten Moment stieß Julia einen weiteren qualvollen Schrei aus: "Auaah Mann!"
"Sag mal, geht's dir gerad zu gut?", meldete Monika sich zu Wort.
Du spinnst doch!" Julia begann zu heulen. "Verfickter Schwan-" Mehr bekam sie nicht heraus, da hatte Leon ihr schon in den Bauch getreten.
"Pass mal besser auf, was du sagst!"
"Leon, jetzt lass sie doch, bitte!", mischte sich jetzt auch Verena ein. "Das ist doch dumm, was du jetzt machst."
"Ich geb ihr nur das, was sie verdient", erwiderte Leon, gefolgt von einem weiteren Tritt, diesmal in Julias Rücken. Sie stürzte nach vorne, konnte sich dabei gerade noch abfangen, sonst wäre sie mit dem Gesicht voran im Dreck gelandet.
Ich lief an ihre Seite, hockte mich hin, so dass sie mich sehen konnte. Sie wollte es aber nicht, drehte den Kopf direkt zur Seite und gab dann ein erstickes Husten von sich.
"Schau mich an!", forderte ich.
"Hau ab!"
"Schau mich an!" Ich packte ihre Hand.
"Du hässliche kleine Drecks- aahh!", schrie Julia auf, als ich ihr das Handgelenk verdrehte.
"Was wird das jetzt, Süße?", fragte Leon, mit hörbarer Überraschung in der Stimme. Und einem vergnügten Lachen.
Ich ignorierte ihn, setzte mich dafür nun auf Julias Rücken und drückte sie zu Boden, ihre Hand dabei immer noch fest im Griff.
"Tust du jetzt, was ich dir sage?" Mein Gesicht ganz nah an ihrem Ohr. "Sonst hast du gleich noch mehr Schmerzen, du Drecksfotze! Das war doch das Wort, was du gerade benutzen wolltest."
"Ich hasse dich, du däml-ihhhaauuhhh! Lassiiich auuuhh!"
"Wie bitte?" Ich ließ wieder locker. "Ich versteh dich nicht, wenn du so schreist."
"Du scheißverdamm-iihh! Auaah!", verfiel Julia gleich in noch heftigeres Schluchzen, als ich noch mal fester drehte.
"Wolltest du sagen, dass es dir leid tut, Schlampe? Wie du mich immer behandelt hast?"
"Ich wollte gar nichts-"
"Das nennst du alles gar nichts?", fiel ich ihr ins Wort. "Die Sache auf der Party bei dir? Das Video? Oder bei Verena auf dem Geburtstag? Und auch sowieso!", brüllte ich weiter. "Du hast mich doch immer nur verarscht!"
"Daran bist du selber schuld!", zischte Julia. "So dumm wie du immer bist!" Endlich sah sie mich an, voller Wut in den Augen, vermischt mit Tränen und Rotz, der ihr aus der Nase lief. "Ich wollte nie was mit dir zu tun haben!"
"Du bist das letzte!", sagte ich, kurz darauf wurde ich grob an den Armen gegriffen. Und von Julia heruntergezogen.
"Ihr seid hier jetzt fertig."
Mein Bruder. Er schob mich zu Leon, der nahm mich direkt in den Arm, so gut, wie es eben ging mit seinem Gips.
"Komm mit, wir haben zu reden!"
"Lass dir nichts von ihr erzählen!", rief Leon. "Julia hat's selber drauf angelegt."
"Stimmt doch überhaupt nicht-"
"Du hältst dich daraus!""
"Leon war-"
"Halt die Fresse, du Moppel! Sonst knallt's gleich!"
"Ach ja, du-"
"Lass gut sein, Monika!"
"Ist ja klar, dass du dich wieder auf deren Seite stellst!", schimpfte Sabrina. "Weiß du was? Wir scheißen auf dich!"
"Bleib du mal schön bei deinem Assi-"
"Kommt jetzt mit!", bellte Manuel Monika dazwischen. "Alle drei!"
Stille, abgesehen von Julias ersticktem Schluchzen; kurz darauf mehrere sich entfernende Schritte.
Leon streichelte mir den Rücken, suchte als nächstes meinen Blick: "Alles okay?"
"Nicht wirklich", antwortete ich und schniefte.
"Du hast das gut gemacht, Süße!", meinte Leon und küsste mich. "Das musste sie mal hören, von dir."
"Ja... ich weiß."
"Und warum weinst du dann?"
"Keine Ahnung!", sagte ich, musste dabei jetzt etwas lachen und zog dann wieder die Nase hoch.
"Das war aber wirklich krass von dir, Maria", meldete sich nun auch Ali zu Wort. "Ehrlich, sowas hätte ich dir nie zugetraut!"
"Ja, toll!", schluchzte ich. "Dafür bin ich jetzt die Böse!"
"Wer sagt das?"
"Manuel denkt das, das weiß ich!"
"Wir wissen hier alle, dass Julia diejenige war, die-"
"Was hat sie denn gemacht?", fiel ich Leon ins Wort. "Sie hat mich Vogelscheuche genannt! Das hat sie schon oft getan! Und deswegen bin ich noch nie so ausgeflippt!"
"Dann wurde es jetzt mal Zeit", meinte Mehmet. "Du hast dich lange genug rumschubsen lassen."
"Genau!" Wieder Leons Hand. Diesmal rieb sie mir fest über den Arm. "Und deswegen brauchst du dir jetzt auch gar kein schlechtes Gewissen machen, Süße. Hat mal jemand ein Taschentuch?"
Ali gab mir eins.
"Danke!" Ich nahm es und wischte mir damit die Tränen ab. Zögerte. Und putzte mir dann noch die Nase.
"Ich bin auf jeden Fall stolz auf dich", sagte Leon. "So langsam wird das echt noch was mit dir, was Selbstbewusstsein angeht." Er gab mir einen Kuss aufs Haar. "So legt sich bald keiner mehr mit dir an!"

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top