71. Und das Innere ist Privatsache
°○ Maria ○°
"Wie lang musst du den Gips jetzt nochmal tragen?"
"Etwa sechs Wochen."
"Bei deiner Nase?"
"Beim Arm auch", antwortete Leon.
"Wow!", meinte ich. "Keine Ahnung, ob ich das könnte."
"Das müsstest du dann wohl", sagte Leon. "Also besser, du brichst dir gar nicht erst was!"
"Ja... da pass ich lieber auf."
Wir liefen Hand in Hand über den Weg, vorbei an einer Allee von Bäumen. Und Gräbern.
Ich erinnerte mich nicht mehr daran, wo jenes von Vater lag, ließ mich stattdessen von Leon führen. Der war bei der Beerdigung damals immerhin dabei gewesen und das wahrscheinlich noch mehr als ich.
"Da hinten müsste es irgendwo sein, oder?", fragte Leon.
Ich zuckte mit den Schultern. "Keine Ahnung."
"Ich weiß es auch nicht mehr genau. Nur, dass das irgendwie abgelegen war."
Wir liefen noch ein Stück.
Es war windig und dazu noch stechend kalt. Ich zog mir die Kapuze über und blies mir warmen Atem in den Kragen.
"Musst du jetzt eigentlich wieder arbeiten, im Tankshop?"
"Noch nicht", antwortete Leon. "Bin sozusagen krank geschrieben."
"Von Richard", meinte ich.
"Er will nicht, dass ich so hinter der Theke stehe, wie ich gerade aussehe", erklärte Leon. "Und die anderen Arbeiten gehen nicht mit dem Gips."
"Und deswegen darfst du dich jetzt ausruhen."
"Mehr oder weniger, ja."
Wir gingen noch ein paar Meter, dann unterbrach ich wieder das Schweigen: "Meinst du, es tut ihm leid?"
Leon antwortete nicht sofort, schien zu überlegen. "Ich glaube nicht", meinte er dann.
"Also wird er es wieder tun?", fragte ich.
"Was meinst du?"
"Dich schlagen."
"Ja..." Erneut geriet Leon ins Stocken. "Das passiert ja öfter."
"Aber doch nicht immer so schlimm. Oder-"
"Nee!" Leon lachte trocken. "Ins Krankenhaus war ich bis jetzt noch nicht gekommen."
°○ Leon ○°
Die Grabesstelle war mit einem hölzernen Kreuz versehen, keine Kränze und Blumen lagen mehr dort.
Maria löste sich von mir, kniete sich hin. Legte eine rote Rose auf die Platte. Und verharrte dann so.
Bente Rehberg
1971 - 2016
nunc autem manet fides spes caritas tria haec maior autem his est caritas
(1Kor 13, 13)
"Was steht da?", fragte ich.
"Nun aber bleibt Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen." Marias Stimme klang nun leise, ganz so, als spräche sie durch ein Kissen.
"Ist das Latein?"
"Ja, genau." Maria räusperte sich verhalten. "Das war-" Sie hustete, räusperte sich dann lauter. "Seine Lieblingssprache."
Natürlich, dachte ich, darauf hätte ich auch wetten können.
"Wir haben früher immer zusammen in der Bibel gelesen, als ich noch klein war."
Als du noch klein warst, wiederholte ich im Stillen, und eigentlich bist du das noch immer, weil Rehberg dir nie wirklich erlaubt hat, groß zu werden.
"Vielleicht hättet ihr auch besser mal ein paar Märchen lesen sollen."
"Das haben wir!", entgegnete Maria. "Wir haben immer viel gelesen."
"Das ist doch schön", sagte ich.
"Und vorher hatte er mich immer gebadet." Maria schniefte. "Und eingecremt, das weiß ich noch."
Ja, überlegte ich, das war vermutlich auch noch keine drei Monate her, dass er das zum letzten Mal mit dir gemacht hatte.
Das und noch mehr.
Ein Schauder des Ekels durchlief mich.
"Ich vermisse ihn."
"Ich weiß, Süße."
"Ohne ihn ist alles so leer. Als ob ich ganz alleine bin, hier."
"Du bist nicht alleine." Ich hockte mich neben meine Freundin ins matschige Gras, legte einen Arm um sie und gab ihr einen Kuss. "Ich bin-"
"Du verstehst das nicht!" Maria fing an zu weinen. "Ich l-l-liebe meinen V-V-Vater! Erisie eineilon-n-n-nir! Under f-f-fehltir so s-s-sehr!"
"Süße-"
"Esut richtig w-w-weh! Sowasapiers-s-su nich!"
"Ich seh aber, was das mit dir macht."
"Ja, schön!"
"Mari-"
"Lass mich!", schrie Maria, als ich sie noch fester in den Arm nehmen wollte. Sie stieß mich von sich, so heftig, dass es mich zu Fall brachte.
Ich kippte seitlich weg, landete mit dem Hintern im Gras und holte mir eine nasse Jeans.
"Hau ab!" Heftiges Schluchzen, das ihren Körper zum Beben brachte. Dazwischen neuerliches Husten. "Ich-ch-ch-chill jetzeinen s-s-sehen!"
"Ist gut." Ich mühte mich wieder auf die Beine. "Dann warte ich vorne auf dich."
Ich lief fort, betastete im Gehen den nassen Fleck an meiner Hose, der fühlte sich unangenehm kalt an.
Verdammt noch mal!
Wer bin ich denn?
Mich einfach so umschubsen zu lassen, als wär ich so ein Baum!
Für was für ne Prinzessin hält die sich? Als ob ich nicht verstehe, wie es ihr gerade geht! Bei mir ist es doch genauso! Halt nur nicht bezogen auf meinen Vater; was aus dem wird, ist mir scheißegal!
Soll er sich die Arme aufschlitzen oder erhängen, liebend gerne wegen mir! Aber so viel Glück hatte ich ja nicht!
Sicher würde ich an Marias Stelle gerade tanzen, vor lauter Freude auf dem Grab. Und ich würde lauthals singen: "Das Schwein ist tot! Das Schwein ist tot!"
Wer würde es mir verübeln?
Wer würde Maria da irgendeinen Vorwurf raus machen?
Dieses Monster hatte sie doch immer nur gequält! Hatte seine ganze Macht ihr gegenüber raushängen lassen und sich dann noch daran aufgegeilt!
Wie Maria wohl immer angekrochen war, sobald er nur mal kurz Luft geholt hatte. Nur um dann wieder mal nur angeranzt zu werden. Oder, ganz im Gegenteil, mit kleinen Gesten der Liebe überhäuft zu werden, wie der Erlaubnis, mal wieder etwas zu essen oder alleine auf Toilette zu gehen. Ganz zu schweigen von diesem perversen Gute-Nacht-Ritual, welches scheinbar neben dem gegenseitigen Begrapschen und allem, was da sonst noch gekommen war, auch aus vorherigem Baden und Eincremen bestanden hatte; und wer weiß, was sonst noch!
Teufel noch mal, das wollte ich mir gar nicht alles vorstellen!
So eine kranke Scheiße! Das hatte wirklich niemand verdient! Und Maria dachte, sie tat es! Sehnte sich sogar noch nach alledem zurück, anstatt es einfach-
"Eddie!" Das Wort fuhr mir unmittelbar heraus, als käme er hier gerade leibhaftig vorbeigelaufen!
Mein guter Kumpel Eddie und ehemals bester Freund.
Hey Bro! Hör mal, ich wäre gerne schon früher gekommen, fuhr ich in Gedanken fort. Bis spätestens einer Stunde nach unserem letzten Gespräch, wenn man es genau nimmt. Dann hätte ich dich sicher davon abhalten können, die Tabletten zu schlucken. Oder dir sonst irgendetwas anzutun.
Dann hätte ich dich retten können, dachte ich, und wenn du mich noch so oft angeblafft hättest, dass ich gehen soll.
Das würdest du jetzt sicher auch, ihr alle, wie ihr da liegt:
Ranja Sophia Brühning
13.08.2005 - 06.12.2007
Geliebt und unvergessen
Regina Brühning
geb. Sass
30.06.1969 - 07.12.2008
Du fehlst
Eduard Brühning
23.03.1999 - 18.02.2016
Ruhe in Frieden
"Es tut mir alles so leid!" Ein Schleier aus Tränen legte sich vor meine Augen.
Ich kniff sie zusammen, verzog das Gesicht, da liefen sie schon los. "Ich wollte das alles nicht, bitte!" Ein verzweifeltes Schluchzen entfuhr meiner Kehle. "Das ging doch alles so schnell!"
Ich weinte. Um sie alle drei. Und genauso auch um mich. Denjenigen, der dieses ganze Elend überhaupt erst ins Rollen gebracht hatte. Wo hatte meine Schuld ihren Anfang genommen?
War es meine Entscheidung gewesen, an jenem Nachmittag zu Brühnings zu gehen, obwohl ich wie immer schon gewusst, es vielmehr gespürt hatte, dass ich dort nicht willkommen war? Oder hatte das ganze Unheil doch schon viel eher seinen Weg genommen, als ich zugelassen hatte, dass Eddie in den Pausen alleine auf dem Schulhof zurückblieb, während wir anderen fröhlich hinter dem Ball herannten?
Ich wollte immer, dass wir Freunde sind, Eddie!
Ganz egal, wie sie dich alle genannt hatten.
Affenjunge.
Schleimscheißer
Oder Hackfresse.
Und was sie alles behauptet hatten, dachte ich. Zum Beispiel, dass du mit acht Jahren immer noch gestillt wirst. Oder dass du gerne Popel isst.
Das hatte mich alles einen Dreck was interessiert! Und wäre ich damals auch nur halb so selbstbewusst gewesen wie heute, glaub mir, Eddie, dann hätte ich diesen Hurenkindern von Mitschülern ganz schnell das Maul gestopft!
Aber damals hatte ich halt noch meine eigenen Probleme gehabt. Stell dir doch mal vor, wie es ist, immer in zu engen, verdreckten oder auch zerschlissenen Klamotten rumzulaufen!
Oder mit knurrendem Magen im Unterricht zu sitzen, weil dir zu Hause niemand etwas zu Essen in die Tasche gepackt hat!
Was hatte ich mir denn alles anhören müssen?
Lumpenhansel, Stinkehose oder auch Lehrers Liebling, nur weil Frau Mauser immer so nett zu mir gewesen war. Mir hin und wieder mal einen Apfel geschenkt oder auch Taschentücher zugesteckt hatte, wenn ich verschnupft gewesen war.
Was hätte ich da tun sollen, fragte ich Eddie weiter, ich war doch selber nicht viel besser dran!
Und im Gegensatz zu mir hattest du wenigstens eine heile Familie, ohne Stress und ohne Kloppe jeden Tag.
Du hattest ein Zuhause, so ein richtig kuscheliges, wo man alles hatte und nie Angst haben musste.
Darum hatte ich dich immer beneidet, dachte ich weiter an Eddie gerichtet und konnte dabei nur hoffen, dass er meine Worte hörte, von wo immer er auch war.
Ranja, meine Kleine!
Ich schickte ihr einen Luftkuss.
Du glaubst es nicht, wie lieb ich dich habe! Ich wollte nie, dass dir so etwas schlimmes passiert. Du bist doch wie eine Schwester für mich! Eine kleine niedliche Schwester, deren herzliches Lachen einem den ganzen Tag erhellte, ganz egal wie beschissen alles war.
Du hättest dich gut mit Minchen verstanden, bestimmt wärt ihr sogar Freundinnen geworden.
Mein süßer kleiner Fuchs!
Ich hätte besser auf dich aufpassen müssen. Hätte gar nicht erst zulassen dürfen, dass du mit zum See gehst. Da hätte ich lieber mal auf Eddie hören sollen, als der gemeint hatte, dass es dort zu gefährlich ist, vor allem im Winter.
Ich hätte gehen sollen, damals an der Tür, hätte euch einfach den Rücken kehren und in Ruhe lassen sollen, am besten für immer.
Dann wäre alles besser heute; ich hätte keine Famiie zerstört und ihr wärt noch am Leben.
Auch du, Regina.
Wir beide haben uns nie wirklich verstanden. Du hast mich nie wirklich gemocht. Vielleicht, weil ich so anders war, als das, was du für Eddie wolltest. Weil ich kein guter Umgang war, was auch immer das bedeutet.
Du wolltest deine Kinder schützen, vor allem was gefährlich war. Und was nicht in dein Weltbild passte.
Was hätte ich tun können, damit du mich besser leiden kannst? Hätte ich mich besser benehmen sollen? Hätte das allein schon ausgereicht? Schön mit Messer und Gabel essen und vorm Betreten des Hauses immer erstmal Schuhe putzen? Gute Manieren sind dir immer sehr wichtig gewesen, genauso wie Richard auch.
Der schöne Schein ist es, den man nach außen trägt.
Und das Innere ist Privatsache, dachte ich, wischte mir noch einmal die Tränen aus dem Gesicht, wandte mich dann ab und lief zurück in Richtung Ausgang, dort wartete Maria bereits auf mich.
"Mein Bus kommt erst so in zehn Minuten."
Ich zog die Brauen zusammen. "Dein Bus?"
"Der mich zur Wohngruppe fährt", erklärte Maria.
"Hä? Ich dachte, wir wollten noch zu Mehmet gehen."
"Ja...", druckste Maria und zuckte mit den Achseln. "Ich halt mir halt immer gerne alle Möglichkeiten offen."
Ich musterte sie, grinste dann. "Du denkst, dass ich sauer auf dich bin, Süße. Kann das sein?"
Einen Moment des Zögerns. Dann ein verlegenes Nicken, gefolgt von einem Seufzen. "Es tut mir leid, okay?"
Ich schwieg.
"Ich meine wegen der Sache vorhin, dass ich dich geschubst hab." Maria sah mich an. "Verzeihst du mir?"
"Tja...", sagte ich gedehnt und verdrehte dann die Augen. "Also, ich weiß ja nicht. Ist schon ziemlich blöd jetzt mit der nassen Hose."
"Das kommt nicht wieder vor, versprochen."
Erneut antwortete ich nicht. Erwiderte nur Marias Blick. Das schien sie nun erst richtig zu ärgern: "Ist jetzt alles gut zwischen uns?", fragte sie und stemmte ihre Hände in die Hüften. "Oder soll ich weggehen?"
Ich tat so, als würde ich darüber nachdenken, dann grinste ich wieder: "Wenn ich einen Kuss von dir bekomme..."
Abermals verdrehte Maria die Augen, kam dann aber auf mich zu. Und gab mir einen Kuss.
Auf die Wange.
"Och Mann!" Ich verzog das Gesicht, seufzte. "Na ja, besser als nichts. Das nächste Mal drücke ich mich lieber mal ein bisschen deutlicher aus."
"Ja, das solltest du." Nun war es Maria, die grinste.
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