66. Wenn du denkst, dass du schuld daran bist

°○ Maria ○°

Ich saß im Wohnzimmer, die Skiboo-Karten vor mir ausgebreitet und sortierte sie, einfach nur, um irgendwas zu tun. Zeichnen würde ich hier sicher nicht, wo mir dabei jeder, der Bock drauf hatte, über die Schulter glotzen oder mir das Blatt auch einfach wegnehmen konnte.
Natürlich, wäre ich alleine hier, würde ich mich erst mal direkt vor den Fernseher setzen, um dort ein paar Folgen Charmed durchzusuchten. Aber ich war hier nicht alleine und so würde früher oder später irgendjemand kommentieren, was ich guckte, so wie immer jeder alles kommentieren musste, was ich tat und wenn ich nur existierte!
Sowas wäre den meisten natürlich egal. Lass die anderen denken, was sie wollen und wenn sie auch das Maul aufreißen, das kann einem genauso gut am Arsch vorbeigehen! So und so ähnlich hatte Leon es zu mir gesagt, immer mal wieder und er würde es bestimmt auch öfter noch sagen, auch wenn es mir rein gar nichts brachte, höchstens ihm vielleicht Befriedigung schenkte, wenn er sich mir gegenüber als Möchtegern-
"Wie traurig ist das denn?"
Ich schreckte auf.
"Hast du keine Freunde, dass du schon gegen dich selber spielst?", fragte mein ach-so-netter-Mitbewohner und setzte sich mir gegenüber an den Tisch.
"Ich will das so", sagte ich.
Luca stieß ein belustigtes Grunzen aus. "Was stimmt nicht mit dir?"
Ich antwortete ihm nicht, hielt den Blick weiterhin stur auf die Karten vor mir gerichtet.
"Wollen wir zusammen ne Runde spielen?" Noch bevor ich reagieren konnte, glitten Lucas spinnenartige Hände über den Tisch, schoben die Kartenstöße zusammen und begannen sie zu mischen.
Ich verdrehte die Augen, sagte jedoch weiter nichts. Das würde Luca nur wütend machen. Und ein Luca, der wütend auf mich war, war nun wirklich das letzte, was ich heute noch erleben wollte.
"Wie geht's deinem Freund?"
Ich blickte auf, sah in Lucas scheinheilig lächelndes Gesicht: "Warum willst du das wissen?"
Luca tat so, als dächte er nach, ließ dann die Achseln zucken: "Ich glaube, das nennt man: Interesse zeigen."
"Haha!"
"Ist schon klar, dass du sowas nicht kennst."
"Ich interessiere mich für meine Mitmenschen!"
"Ach ja?" Luca lachte. "Das wäre mir jetzt neu."
"Frag mich was!"
"Na schön... wie alt bin ich?"
"Sechzehn", sagte ich sofort.
"Richtig geraten!"
"Ich hab das nicht-"
"Wie ist mein Nachname?"
"Keine Ahnung... irgendwas mit T, glaub ich."
"Tjaden."
"Achso, okay..."
"Und weißt du, warum ich hier bin?"
"Nein, ich... frag sowas nicht."
"Weil es dich nicht interessiert."
"Doch, schon. Aber-"
"Du brauchst das jetzt auch gar nicht abstreiten", fiel Luca mir wieder ins Wort. "Du bist selbstsüchtig, Nuckelchen."
"Das stimmt nicht!"
Lucas dünner Mund verzog sich zu einem Grinsen.
"Ich bin nicht selbstsüchtig!", beharrte ich weiter, daraufhin lachte er wieder.
"Ich kümmere mich immer drum, was andere für Probleme haben!"
"Wenn du denkst, dass du schuld daran bist."
"Du bist gemein!"
Luca begann die Karten zu verteilen: "Wie geht's jetzt deinem Freund?", knüpfte er an seine vorherige Frage an. "Du warst doch bei ihm, als du abgängig warst."
"Leon geht es gut."
"Und warum liegt er dann im Krankenhaus?"
"Woher weißt du das?"
"Nuckelchen!" Wieder dieses widerlich selbstzufriedene Lachen. "Wir sind hier in ner Wohngruppe! Da haben die Wände Ohren! Also, was war da los bei deinem Bodyguard?"
Abermals verdrehte ich die Augen. "Er hatte Ärger."
"Mit wem?"
Ich schwieg.
"Hatte es was mit diesem Edward zu tun, der sich umgebracht hat?"
Diese Frage, wie ein Stich ins Herz.
"Wie hieß er noch mal wirklich?"
Ich biss mir auf die Lippe.
"Sag schon!"
"Eduard" Ein Kloß in meinem Hals. Ich räusperte mich leise. "Eduard Brühning."
"Hatte es was mit ihm zu tun?", fragte Luca weiter. "Leon war doch der letzte Mensch, der diesen Psycho lebend gesehen hat."
Ich antwortete nicht.
"Die beiden waren ja nicht gerade die besten Freunde, nachdem, was Eileen so erzählt. Da kann ich mir gut vorstellen, dass Leon was mit seinem Tod zu tun hat."
"Als ob! Das ist doch Quatsch!"
"Ist es das?"
"So eine Scheiße macht Leon nicht!"
Luca sah mich vielsagend an, gleichzeitig lag etwas erschreckend Leeres in seinem Blick und sandte mir einen kalten Schauder über den Rücken. "Er hat es schon getan."

°○ Leon ○°

Ich wollte nicht schlafen, auch wenn ich müde war. Stattdessen lag ich nur da, starrte an die Decke und horchte auf das regelmäßig leise Schnaufen, welches Willi von sich gab, der war vor gut zwei Stunden schon weggenickt, inmitten einer Tatort-Folge.
Mein Kopf fühlte sich trotz der Schmerzmittel, die ich intus hatte, immer noch gut zwei Nummern zu groß an, meine Nase lief wie ein undichter Wasserschlauch und auch die Übelkeit hielt noch an, war mittlerweile jedoch zu einem unangenehm flauen Gefühl abgeschrumpft .
Wie gerne würde ich jetzt auch noch etwas gucken, am besten etwas brutales, sowas wie Hostel oder Green Inferno. Blutiges Gemetzel, abgetrennte Körperteile, auch Kannibalismus wäre mir alles noch lieber, als das, wovon ich träumte.
Allerdings war der Akku meines Handys inzwischen leer und das hier im Krankenhaus erhältliche Unterhaltungsset bestehend aus einer Fernbedienung und einen Paar schmuckloser Kopfhörer bekam ich nicht.
Ich hatte die blonde Schwester danach gefragt. Sie hieß Tanya, das hatte ich auf dem Namensschild über ihrer Brust gelesen, und hatte hier an diesem Abend Nachtdienst.
"Mit deiner Gehirnerschütterung musst du dich ausruhen, Leon, da lässt du den Fernseher besser erst mal aus", hatte Tanya gemeint, während sie mir noch eine weitere Dosis Nasentropfen verabreicht hatte. "Genauso wie dein Handy. Das sind sonst zu viele Reize für deinen Kopf."
Zu viele Reize für meinen Kopf, dachte ich und stieß ein frustriertes Knurren aus.
Die hatte doch keine Ahnung!

°○ Maria ○°

"Maria!"
"Lass mich in Ruhe!" Ich zog mir die Decke über den Kopf.
"Du hast jetzt noch ne Viertelstunde, dann kommt der Bus." Leas Stimme neben meinem Bett. "Schau mich wenigstens mal an!"
"Geh weg!"
"Wenn du nicht zur Schule gehst, bekommst du Krankenstand", redete die Betreuerin weiter.
"Das wäre auch vielleicht das Beste", meldete sich Tammo, neben Susanne einer der älteren Betreuer in der Wohngruppe, zu Wort. "Nachdem, was das Mädchen gestern wieder gebracht hat."
"Selbstverletzung ist keine Entschuldigung dafür, in der Schule zu fehlen! Dafür muss man schon tiefer schneiden!"
Vielleicht mach ich das das nächste Mal auch, dachte ich und vergrub mich noch enger in der Decke, kurz darauf wurde sie mir fortgerissen!"
"Scheiße, Alter! Spinnst du?"
Frostige Luft wehte durchs Fenster herein und bescherte mir eine Gänsehaut.
Tammo legte die Decke auf meinem Schreibtischstuhl ab. "Sieh mal zu, dass du fertig wirst, Prinzessin!"
Die Erzieher verließen mein Zimmer.
Ich biss mir auf die Lippe, so fest, dass es brannte. Verdammte Scheiße!
Wie sollte ich so zur Schule gehen? Ich fühlte mich wie ausgekotzt! Mein Schädel schien wie kurz vorm Platzen, in meinem Bauch loderten die Flammen der Hölle und wie ich gerade aussah, wollte ich heute sogar noch weniger wissen als sonst.
Trotzdem.
Krankenstand entsprach jetzt auch nicht dem, wie ich mir den Tag vorstellte. Klar, zur Schule wollte ich nicht gehen. Aber in diesem verfickten Irrenhaus hier hielt ich es auch nicht länger aus. Ich musste raus. Weg. Ganz woanders hin. Das wäre noch das Beste. Ging aber leider nicht, dachte ich, seufzte und setzte mich um Bett auf, etwas zu schnell, als ich sollte. Das Bild drehte sich. Eine Weile lang, versuchte ich es festzuhalten, dann gab ich es auf, presste die Lippen zusammen und hoffte einfach, mich nicht übergeben zu müssen.

°○°

Ich hatte noch nie die Schule geschwänzt, zumindest nicht von der ersten Stunde an. Aber heute ging es nicht anders. Da würde ich es tun.
Allein die Vorstellung, da gleich ganz alleine hinzugehen, mich in diesen verflucht bekackten Klassenraum zu setzen und mich dort von allen anglubschen zu lassen, verursachte mir Übelkeit. Besser, ich suchte mir stattdessen irgendein ruhiges Plätzchen. Nur wo sollte sowas sein, überlegte ich und bog am Tannenweg auf Höhe des Schwimmbads rechts ab in die Leukum-Kloster-Straße.
Ich könnte mich jetzt ja wohl schlecht in irgendein Café setzen. Da würden auf jeden Fall Fragen aufkommen. Am liebsten wäre ich sowieso gerade draußen, nur dass es dort sehr kalt war, die Temperatur mindestens um den Gefrierpunkt herum lag, wenn nicht sogar...

°○ Leon ○°

"...drunter und drüber gerade auf der Station, da muss ich mich entschuldigen. Aber solange die auf der pädiatrischen noch kein Bett frei haben, musst du leider noch hier bleiben."
"Ist doch kein Problem", sagte ich, griff mir das Mamerladenbrot vom Teller und nahm einen Bissen.
"Die Visite beginnt dann in spätestens einer halben Stunde."
"Und dann erfahr ich, ob ich gehen darf."
"Ich geh erst mal davon aus, dass du noch bleiben musst, ", sagte die Krankenschwester, Madeleine laut Namensschild - klein, dick, mit kurzen braunen Haaren und einer silbergerahmten Brille auf der Nase. "Auf jeden Fall noch eine Nacht."
"Mir geht's aber wieder gut", entgegnete ich. Das war natürlich gelogen.
In Wahrheit fühlte ich mich noch ziemlich beschissen. Und außerdem auch mehr als müde, was natürlich kein Wunder war. Immerhin hatte ich die ganze letzte Nacht kein Auge zugetan.
"Du musst dich erholen", meinte Madeleine "Mit solchen Verletzungen am Kopf. Damit ist nicht zu spaßen."
"Das weiß ich", seufzte ich, rührte mir Zucker in den Tee und trank etwas davon. "Ist ja auch ganz nett hier."
Nur Minchen fehlte mir, fügte ich im Stillen noch hinzu, ich wollte sie bei mir haben, sie im Arm halten und sicher sein, dass ihr nichts passierte.
"Kriegst du heute noch Besuch?"
"Mein Kumpel kommt vorbei", erzählte ich. Zumindest hatte Mehmet das so gesagt und falls ihm mal nicht wirklich was dazwischenkam, hielt der grundsätzlich sein Wort.
"Was ist mit deinen Eltern?"
"Die haben keine Zeit. Also..." Absichtlich nahm ich an dieser Stelle noch einen ausgiebigen Schluck Tee. "Weil die müssen beide den ganzen Tag lang arbeiten. Mein Vater hat ne eigene Tankstelle."
"Und deine Mutter?"
"Die arbeitet im Haus", antwortete ich. "Kochen und Wäsche machen. Da braucht sie schon was für."
Madeleine lächelte. "Das glaub ich gern." Sie tätschelte mir die Schulter. "Jetzt iss erst mal ordentlich!"

°○ Maria ○°

Ich hatte überhaupt nicht darauf geachtet, wo ich hingelaufen war. Hatte stattdessen einfach nur weiter einen Fuß vor den anderen gesetzt. Und war dann schließlich hier angekommen.
Das große Gebäude, mit schwarzem Dach und hellgelben Klinkern.
Ein blank poliertes Schild über dem Haupteingang, darauf stand: Städtisches Zentrum zur Gesundheit und Vorsorge Berneburg.
Was wollte ich hier? Für einen Besuch bei Leon war es noch viel zu früh, gerade mal halb zwölf! Um diese Zeit sollte ich noch in der Schule sein!
Wie sollte ich ihm das erklären, wenn ich gleich vor seinem Bett stand?
Sollte ich sagen, dass ich eher freibekommen hatte? Weil ich mich nicht gut fühlte?
Was würde Leon darauf sagen? Würde er sich Sorgen machen? Doch wohl bestimmt. Und mir dabei dann gut hunderte an Fragen stellen. Genauso würde es...

°○ Leon ○°

"Kommen die jetzt mal endlich?" So langsam reichte es, verdammt noch mal! "Das kann doch nicht sein, dass man ewig hier auf diese Lutscher warten muss!", schimpfte ich in den Raum hinein, ohne dabei wirklich jemand direktes anzusprechen.
Willi antwortete natürlich trotzdem: "Mein lieber Junge, manchmal dauert es seine Zeit, bis die Ärzte zur Stelle sind, da muss man eben geduldig sein."
"Ja..."
"Wenn da zum Beispiel gerade ein Notfall ist", fuhr mein Zimmernachbar fort. "Irgendein Familienvater mit nem Herzinfarkt, dann hat das erst mal Priorität."
"Ja, ich weiß", meinte ich. Es sei denn natürlich, es handelt sich dabei um meinen Erzeuger, ergänzte ich im Stillen, dann lasst den mal ruhig abratzen! "Tut mir leid!"
"Alles gut!" Willi lächelte.
Neben ihm hatte ich inzwischen auch noch einen weiteren Zimmergenossen: Rainer, großgewachsen, kahlköpfig und an beiden Armen mit Tattoos beladen; Sein Alter schätzte ich auf irgendwas zwischen Mitte dreißig und Anfang Vierzig. Sie hatten ihn heute im Verlauf des Vormittages hier zu uns hineingeschoben, seitdem schlief er die meiste Zeit.
"Wärst du vielleicht mal so nett, mir eine neue Flasche Wasser zu holen?"
"Ja, klar!" Ich stand gleich auf und besorgte Willi eine.
"Vielen Dank!" Wieder lächelte er. "Du bist ein guter Junge!"
Ich erwiderte sein Lächeln, spürte, wie mir dabei die Tränen kamen. Und drängte sie schnell zurück.
Es klopfte an der Tür.
"Ja, bitte?"
Maria kam herein.

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