5. Du hasst ihn!
°○ Leon ○°
"Du konntest da nichts für", wiederholte ich.
Maria schwieg.
Aber was sollte sie auch sonst tun? Wieso sollte sie mir glauben?
Dieses Schwein hatte ihr jahrelang das Gegenteil eingeredet, hatte ihr gesagt, dass sie selber schuld war, dass sie ihm nicht fleißig genug gewesen war, nicht ordentlich und nicht sauber genug.
Nicht lieb genug. Bei diesem Gedanken wurde mir wieder übel.
"Gib dir noch ein bisschen Zeit, dann lebst du dich hier schon ein", sagte ich und gab Maria ein Taschentuch. "Bist ja auch gerade erst eingezogen, da ist das ja auch alles erst neu."
"Ich werde mich hier nicht einleben", sagte Maria. "Ich werde mich hier nie einleben! Das könnt ihr vergessen!"
"Warte doch erst mal ab! Das wird schon alles", meinte ich und wollte Maria wieder umarmen, da stieß sie mich weg.
"Jetzt lass mich doch mal!"
"Okay... tut mir leid."
"Nein... schon gut. Ich... kann das nur gerade nicht."
Maria, stand auf und lief zum Fenster.
"Das ist aber nicht gegen dich", meinte sie, während sie mir den Rücken zudrehend in den Garten blickte. "Zwischen uns ist alles gut, also... ich meine, wegen mir."
"Ja... wegen mir ist auch alles gut zwischen uns."
Aber es ist anders, fügte ich in Gedanken hinzu und sah rüber zu Maria, die hatte wieder angefangen zu weinen, während sie von heftigen Schluchzern am ganzen Körper geschüttelt wurde.
Was sollte ich jetzt tun? Sollte zu ihr rüber gehen? Sollte ich hier auf dem Bett sitzen bleiben und... einfach gar nichts machen? Oder sollte ich gehen?
Was wollte sie von mir?
"Soll ich vielleicht mal einen Betreuer holen?"
"Nein."
"Aber-"
"Scheiße, jetzt lass mich einfach!"
"Hey, kommt-", begann Eileen zu reden, kaum, dass sie in den Raum geplatzt war, stockte dann aber gleich, als sie Maria erblickte. "Alter, was geht denn hier ab? Habt ihr Stress, oder-'
"Nein!", fiel ich ihr ins Wort. "Das ist jetzt auch gar nicht deine Sache!"
"Schon klar."
"Und was stehst du hier dann jetzt noch?"
"Ja... keine Ahnung." Eileen musterte Maria noch etwas, dann zuckte sie die Achseln. "Ich sollt euch halt nur sagen, dass jetzt Teezeit ist."
"Gut", sagte ich. "Wir kommen gleich."
"Gut", meinte Eileen, überlegte dann noch etwas zu sagen, ließ es dann aber bleiben und verließ den Raum.
Maria wischte sich mit dem Taschentuch die Tränen vom Gesicht. "Du kannst ruhig schon vorgehen."
"Ich warte lieber auf dich", erwiderte ich. "Oder soll ich besser gehen?"
"Ja... wenn du willst... Tut mir leid." Maria schnäuzte sich. "Ich... will dich auch nicht nerven."
"Das tust du doch auch nicht."
"Ich kann verstehen, wenn du auf sowas keinen Bock mehr hast."
"Ja... wer hat denn auch Bock auf so ne Scheiße? Hast du doch auch nicht."
"Ich kann mir das ja nur nicht aussuchen."
"Ich weiß."
"Das kommt immer einfach so."
"Ist doch okay", meinte ich. "Willst du dich jetzt mal wieder zu mir setzen?"
Maria drehte sich zu mir um, musterte mich einen Moment, kam dann langsam zum Bett zurück und setzte sich.
Sie wirkte erschöpft, dafür aber jetzt auch merklich entspannter, als vorher, als hätte sich durch das Weinen ein Knoten in ihr gelöst.
"Komm mal her!" Ich streckte den Arm nach ihr aus, daraufhin rückte Maria noch etwas näher zu mir auf, so dass ich sie in den Arm nehmen konnte.
"Wir können ja demnächst mal wieder ins Kino gehen", meinte ich dann, nachdem ich sie einen Moment lang einfach nur so gehalten hatte. "Oder ins BEZ, ein bisschen durch die Läden gucken." Ich küsste sie. "Dann kommst du mal auf andere Gedanken."
"Ja", meinte Maria. "Das wäre schön."
"Und bis Silvester dauert es ja auch nicht mehr lange."
"Ja, hoffentlich klappt das auch, dass ich dann mitfeiern darf."
"Bestimmt." Ich löste meine Umarmung und sah Maria an. "Wollen wir jetzt mal zu den anderen gehen?"
°○°
Die Küche war groß und sah sehr freundlich aus mit einer hellen Kochnische in der einen Ecke sowie ein farblich darauf abgestimmter langen Esstisch mit vielen Stühlen drum herum.
Der Koch- und der Essbereich waren durch eine große Arbeitsfläche mit Schubladen darunter voneinander getrennt. Und während die eine Wand fast völlig aus großen Fenstern bestand, wurden die anderen von kleinen Schränken eingenommen, darüber hingen Bilder.
Eins davon zeigte einen kleinen weißen Hund mit Sonnenbrille auf der Hängematte, ein anderes war eine Collage, ähnlich derer aus dem Flur, wobei diese aus Fotos bestand, auf denen alle Kinder und Betreuer verkleidet waren und albern in die Kamera grinsten. Auf einem dritten Bild stand ein Spruch geschrieben:
Auch aus Steinen, die einem in den Weg gelegt werden, kann man Schönes bauen.
- Johann Wolfgang von Goethe
"Da seid ihr ja!", begrüßte uns Susanne, kaum, dass wir den Raum betreten hatten. "Dann setzt euch mal!"
"Hast du geheult?" Ein Junge, etwa in meinem Alter, auffallend dünn, mit millimeterkurz geschnittenen schwarzen Haaren und stechenden braunen Augen, sah Maria an, das Gesicht zu einem belustigten Grinsen verzogen.
Maria antwortete nicht.
"Was war denn los?", fragte Lea.
"Die beiden haben sich gezofft", sagte Eileen.
"Nein, haben wir nicht!", entgegnete ich.
"Und warum hast du dann geheult?", fragte die schwarzhaarige Bohnenstange wieder an Maria gewandt.
"Wann heult sie denn mal nicht?" Eileen verdrehte die Augen. "Hat sie gestern ja auch schon die ganze Nacht."
"Das stimmt doch gar nicht!", meinte Maria.
"Ja, nee, ist klar! Ich bin ja auch nur im Zimmer neben dir und hab mir das die ganze Zeit mit anhören müssen!"
"Und warum hast du dann nicht Stella geholt?", fragte Lea.
"Du hättest mich doch auch anrufen können, Süße", flüsterte ich Maria zu, doch die schien das jetzt gar nicht hören zu wollen.
"Ich würde sagen, wir lassen das Thema an dieser Stelle mal", mischte sich nun auch Susanne ins Gespräch. "Später möchte ich darüber aber gerne noch mal mit dir sprechen, Maria."
"Komm!" Ich führte Maria zu dem freien Stuhl zwischen Eileen und einem jüngeren kleinen Mädchen mit langen schwarzen Locken und einem freundlichen Lächeln im Gesicht. "Setz dich!"
Maria zögerte.
"Oder willst du den Platz?", fragte ich und nickte zu dem Stuhl gegenüber zwischen der Bohnenstange und einem anderen noch sehr kindlich aussehenden blonden Jungen mit blauen Augen, der einen hässlichen roten Strickpullover mit dem Bild eines Rentiers darauf trug.
"Lieber nicht", sagte Maria, so leise, dass ich sie kaum hören konnte, auch wenn ich direkt neben ihr stand.
"Meine Fresse! Jetzt stell dich nicht so an! Setz dich irgendwo hin, oder hau ab!", fuhr Eileen sie an.
"Kannst du dich vielleicht mal da rüber setzen?", fragte ich sie.
"Warum sollte ich?"
"Warum nicht?" Ich sah sie an.
Eileen erwiderte meinen Blick, sah als nächstes rüber zu Maria und seufzte schließlich.
"Na schön!", meinte sie. "Aber nur, weil ich keine Lust hab, hier neben der ollen Heulsuse zu sitzen."
"Nenn sie nicht so!", sagte ich.
"Ich kann sie nennen, wie ich will!", erwiderte Eileen.
"Nein, kannst du nicht!", fuhr Lea sie an. "Und wenn du jetzt noch weiter so frech bist, kannst gleich auch auf dein Zimmer gehen!"
"Das juckt mich einen Scheiß!", gab Eileen zurück, rückte dann mit einem übertrieben lauten Schaben der Stuhlbeine über dem Laminatboden vom Tisch zurück, schnappte sich ihre Tasse Tee und ihren Teller mit Kuchen, stand auf und bedachte Maria mit einem breiten falschen Lächeln.
"Bitteschön!"
"Danke", sagte Maria, was Eileen wiederum mit einem hämischen Schnauben quittierte, als sie sich endlich auf den freien Platz gegenübersetzte.
"Möchtet ihr auch jeder ein Stück Kuchen?", fragte Susanne uns.
"Ja, gerne", sagte ich.
"Dann gib mir mal deinen Teller rüber!"
Ich tat es.
"Und was ist mit dir?", wandte sie sich an Maria.
"Ja, ich... ähm..." Maria sah rüber zu Eileen, die nahm daraufhin den für sie bestimmten leeren Teller vom Tisch, tat dann so, als würde sie einmal mit der Zunge drüber lecken und hielt ihn ihr dann hin.
Maria reagierte nicht.
"Was ist? Willst du nicht?", fragte Eileen. "Jetzt nimm schon! Sonst kann ich ihn dir auch gleich in die Fresse schleudern!"
"Eileen!", ermahnte Lea sie.
"Das ist jetzt die letzte Verwarnung. Noch so eine Nummer und du gehst auf dein Zimmer!", donnerte Susannes Stimme durch den Raum, während ich Eileen gleichzeitig den Teller abnahm und ihn dann weiter an Susanne reichte.
"Kann ich später noch raus?", fragte der kleine blonde Junge.
"Hast du dein Zimmer denn schon aufgeräumt?", erkundigte sich Susanne. "Und das Badezimmer geputzt?"
"Noch nicht", sagte der Blonde.
"Dann machst du das zuerst noch."
"Warum? Das kann ich doch auch später noch machen."
"Ich möchte aber gerne, dass du das vorher machst."
"Ja, aber gestern wurde das Badezimmer doch auch nicht geputzt!"
"Lüg doch nicht!", mischte sich die Bohnenstange ein. "Ich hab das gestern erst noch gemacht."
"Hab ich aber nichts von mitgekriegt."
"Ja, ich kann dich das nächste Mal auch als Klobürste benutzen. Dann kriegst du es vielleicht mal mit."
"Das reicht jetzt!", sagte Lea.
"Was wollen wir denn heute Abend schönes machen?", fragte Susanne.
"Wie wäre es wieder mit einem Filmabend?", fragte der Junge neben mir, der hatte sich bisher noch gar nicht zu Wort gemeldet.
Er war ebenfalls etwa in meinem Alter, war fett und trug dunkelblonde kurz geschnittene Haare, die eher nach Stromschlag als nach Frisur aussahen.
"Doch nicht schon wieder!", jammerte Eileen. "Das hatten wir doch gestern schon."
"Ja, was willst du denn sonst machen?", fragte der Dicke.
"Der Kuchen ist gut", flüsterte ich Maria zu, die verzog ihr Gesicht daraufhin zu einem schwachen Lächeln. "Danke."
"Willst du nicht auch mal probieren?", fragte ich und deutete auf das Stück Schokoladenkuchen, welches immer noch unangerührt auf ihrem Teller lag.
"Wir könnten doch mal ein bisschen länger Ausgang kriegen", schlug Eileen in diesem Moment vor.
"Ja, am besten noch bis Mitternacht!", sagte Lea mit hörbarer Ironie in der Stimme.
"Ja, mindestens", sagte der Junge neben Eileen, die schienen hier beide wohl die Wortführer unter den Bewohnern zu sein.
Ich sah wieder zu Maria, da fiel mir etwas auf. "Hast du keine Gabel?"
"Nein", antwortete Maria.
"Dann sag doch was!" Ich seufzte.
"Soll ich dir eine holen?", fragte der Junge neben mir.
"Nein, danke! Ich geh schon", sagte Maria, stand auf und lief zur Schublade.
"Ich bin übrigens Daniel", sagte der Junge an mich gewandt.
"Ich bin Leon", meinte ich und lächelte ihn an. "Nett von dir, das gerade."
"Ja... muss sich hier ja nicht jeder wie der letzte Assi benehmen."
"Das musst du gerade sagen!", höhnte die Bohnenstange mir gegenüber.
"Und wie heißt du?", fragte ich ihn.
"Luca", antwortete der Junge, nahm sich zwei Stück Kandiszucker aus der Schüssel zwischen uns und ließ sie nacheinander in seine mit Tee gefüllte Tasse fallen. Es knisterte.
"Sag mal, wie bist du eigentlich bei der gelandet?" Luca nickte zu Maria. "Ich meine, die ist doch voll komisch und... du scheinst ja ganz cool zu sein, also... normal."
Ich folgte Lucas Blick, dann sah ich wieder zu ihm.
"Ich würde dir mal raten, etwas netter über meine Freundin zu reden." Ein weiterer Blick zur Linken, wo Lea Ricarda mit einem Blatt Küchenrolle den mit Schokolade verschmierten Mund abwischte, zur Rechten, wo Susanne gerade dabei war, den blonden Jungen dazu aufzufordern, beim Essen die Gabel zu benutzen, dann senkte ich die Stimme. "Ansonsten kannst du auch besser ganz die Schnauze halten, wenn du keinen Ärger mit mir willst."
Maria setzte sich wieder und begann zu essen.
"Soll ich dir Tee einschenken?", fragte ich.
"Ja, danke", antwortete Maria.
Ich gab ihr zwei Kandiszucker in die Tasse und wollte dann gerade nach der Teekanne fragen, als Daniel sie mir schon hinhielt.
"Danke", meinte ich.
"Kein Ding! Ist doch viel besser, wenn man nett zueinander ist."
"Isso", pflichtete ich ihm bei und warf Luca einen vielsagenden Blick zu, der schob sich daraufhin ein extra großes Stück Kuchen rein und zerkaute es mit offenem Mund, wohl um mich zu provozieren.
Doch ich grinste nur, nahm meinerseits eine Gabel voll, kaute und schluckte mit geschlossenem Mund und trank dann gleich noch einen Schluck Tee hinterher, ohne den Blick dabei von ihm abzuwenden.
"Wir können heute Abend ja auch zusammen zocken", sagte der kleine Blonde.
"Was meinst du mit Zocken?", fragte Susanne.
"Ja, Wii oder so."
"Das ist doch eine gute Idee."
"Aber ist ja klar, dass Fabian wieder nur am Computer daddeln will", sagte Eileen.
"Dann mach einen anderen Vorschlag!", forderte Susanne sie auf.
"Ja... wir können ja auch normale Spiele spielen. So... Activity, oder..."
"Dixit", schlug Luca vor.
"Ganz bestimmt nicht!", rief Daniel. "Dann kommst du bloß wieder dauernd mit deinen perversen Anspielungen!"
"Laber doch nicht!"
"Wieso, darum geht's dir dabei doch nur! Bei jedem Bild, was du in die Finger kriegst. Da geht's dann immer nur um Sex! Von was anderem redest du dann doch gar nicht!"
"Ja, aber du immer mit deinen Horrorfilmen!", verteidigte sich Luca. "Das ist noch nicht mal witzig!"
"Deine Themen sind noch viel unwitziger!"
"Das heißt unlustig, du Pimmel!"
"Halt du doch dein Maul!", schnauzte Daniel zurück. "Das-"
"Nein, Stop jetzt!", ging Susanne dazwischen. "So reden wir hier nicht miteinander! Maria... von dir hab ich noch gar nichts gehört. Was würdest du denn heute Abend gerne machen?"
"Ich weiß nicht", sagte Maria.
"Möchtest du einen bestimmten Film gucken oder etwas spielen?"
"Mir egal."
"Überleg doch mal!"
Maria antwortete nicht, verzog stattdessen das Gesicht und nieste.
"Vielleicht fällt dir ja irgendetwas ein."
"Jetzt lass sie doch!", sagte Eileen. "Die wird sich doch eh wieder in ihrem Zimmer verkriechen!"
"Woher willst du das wissen?", fragte Lea.
"Ja, ich weiß es halt", meinte Eileen. "Guckt die euch doch an! Die hat doch jetzt schon keinen Bock auf uns", sagte Eileen und warf Maria einen abschätzigen Blick zu, gerade als diese ein weiteres Mal niesen musste und kurz darauf einen Ärmel ans Gesicht hob, um sich die Nase daran abzuwischen.
"Nicht!", sagte ich leise und packte sie schnell am Arm, um sie davon abzuhalten.
"Du bist ja abartig!", rief Eileen aus.
"Tut mir leid!" Maria schniefte.
"Widerlich, ey!", meinte jetzt auch Luca. "Wie son kleines Kind!"
"Aber echt! Jetzt geh dir mal die Nase putzen!", forderte Eileen Maria auf. "Oder bist du behindert?"
"So, jetzt ist's aber Schluss!", schimpfte Susanne. "In dein Zimmer! Fünfzehn Minuten Auszeit! Und währenddessen kannst du dir mal überlegen, was du hier so von dir gibst!"
Eileen verzog beleidigt das Gesicht, stand dann jedoch auf und verließ ohne ein weiteres Wort den Raum. "Und Luca, für dich ist das jetzt hier die letzte Verwarnung", fuhr Susanne fort! "Nun steh mal auf und bring Maria ein Küchentuch!"
"Und wa-"
"Sofort!", fiel die Betreuerin Luca ins Wort, der erhob sich sichtlich genervt von seinem Platz, lief zur Kochnische, nahm die Küchenrolle vom Kühlschrank, riss ein Blatt davon ab und brachte es Maria.
"Danke", murmelte die, hielt sich das Tuch vor die Nase und schnäuzte sich.
"Ich würde mich freuen, wenn du uns heute Abend mal Gesellschaft leistet", meinte Susanne. "Zwingen tut dich aber natürlich keiner."
"Ich würde mich auch freuen", sagte Daniel.
"Ich mich nicht", meinte Fabian, sah Maria an und zog eine Grimasse.
"Dann ist's ja gut, dass dich keiner fragt", entgegnete Lea.
"Ich bin immer noch für einen Film", sagte Daniel. "Da kann Maria sich auch ruhig einen aussuchen."
"Oder sie sucht sich ein Spiel aus", schlug Fabian vor und sah rüber zu Lea, die nickte ihm anerkennend zu.
°○ Maria ○°
"Das war doch ganz nett", meinte Leon, als wir uns kurze Zeit später wieder in meinem Zimmer nebeneinander aufs Bett setzten.
"Oder?" Er sah mich an.
Ich zuckte mit den Achseln. "Na ja..."
"Diese Eileen und du, ihr werdet bestimmt noch richtig dicke miteinander."
"Ja... so wie du und Eddie, meinst du."
"Okay." Leon lachte. "Der Punkt geht an dich."
"Ich hab noch nie jemanden kennen gelernt, der so zickig ist."
"Aber eigentlich ist sie, glaub ich, eine ganz Liebe", meinte Leon.
"Mir gegenüber ist sie bis jetzt nur gemein gewesen."
"Ja... stimmt. Manche von ihren Sprüchen sind schon echt daneben", sagte Leon. "Aber dann darfst du dir das halt nicht gefallen lassen."
"Ich versteh überhaupt nicht, was sie gegen mich hat. Ich hab ihr nichts getan. Und diesem Luca auch nicht."
"Darum geht's ja auch gar nicht." Leon rückte noch ein Stück weiter zu mir auf und nahm meine Hände in seine. "Die testen dich jetzt halt nur ein bisschen. Um zu gucken, was du für eine bist."
"Ja toll!" Ich lachte. "Ist doch immer die gleiche Scheiße! Egal, wo ich bin. Gibt immer irgendwelche Arschlöcher, die mich fertigmachen wollen."
"Meinst du die aus deiner Klasse?"
"Nicht nur die."
"Wer denn noch?"
Ich antwortete nicht.
"Komm, jetzt erzähl!"
Ich biss mir auf die Unterlippe.
"Hey! Lass das!", sagte Leon und rüttelte mich leicht an der Schulter, da hörte ich gleich damit auf.
"Tut mir leid."
"Süße..." Leon hob meinen Kopf zu ihm hoch, so dass ich ihm in die Augen sehen musste. "Wenn es da jemanden gibt, der dich schlecht behandelt, musst du mir das sagen."
"Ich glaub aber nicht, dass du das wirklich hören willst."
"Warum?"
"Ja, es ist..." Ich stockte. "Wegen Ali und... deiner Schwester."
"Das zwischen Minchen und dir ist aber doch geklärt."
Ich schwieg
"Sie hat sich bei dir entschuldigt!", sagte Leon.
"Ja... weil du sie dazu überredet hast."
"Na und? Was glaubst du denn?" Leon lachte. "Minchen ist mal gerade vier! Meinst du in dem Alter ist die soweit, dass sie sich von selber entschuldigen kann?"
"Ich konnte das in dem Alter."
"Ja, du bestimmt!", meinte Leon und verdrehte die Augen. "War wahrscheinlich auch der erste Satz, den dieses Dreckschwein von Vater dir beigebracht hat: Tut mir leid, tut mir leid, tut mir leid!"
"Hör auf!", fuhr ich ihn an.
"Aber es stimmt doch!"
"Ich hasse das, wenn du so über ihn sprichst."
"Ja, scheiße! Wie soll ich denn sonst über ihn sprechen?"
"Siehst du? Genau das meine ich. Egal, wo ich bin, immer muss ich mir solche Sprüche anhören! Und von dir sind die noch am schlimmsten!"
"Ja, ich bin halt ehrlich, was soll ich machen?"
"Du könntest zum Beispiel mal ein bisschen mehr Rücksicht auf mich nehmen!"
"Ja, wie jetzt? Soll ich das nun alles schön reden, oder was?"
"Du verstehst das nicht!"
"Maria?" Susanne an der Tür. "Magst du mal eben mit ins Büro kommen?"
Ich verdrehte die Augen. "Ja... Okay."
"Soll ich hier auf dich warten?", fragte Leon.
"Kannst du machen", antwortete ich.
"Deinen Freund kannst du auch gleich mitbringen", fügte Susanne fast im selben Moment noch hinzu, als hätte sie unser Gespräch belauscht. Aber an fremden Türen zu horchen schien hier ja ganz selbstverständlich dazu zu gehören.
"Was denn jetzt?", fragte Leon.
Ich zuckte mit den Achseln. "Mir egal! Dann komm halt mit!"
°○°
Im Büro hatten sie das Fenster geöffnet, wodurch ich gleich von einem kalten Schauder erfasst wurde, kaum, dass ich den Raum betreten hatte.
"Wie schön, dann können wir uns jetzt ja mal in Ruhe unterhalten", sagte Susanne und wies zu den Stühlen am Tisch. "Lea ist mit Eileen spazieren. Und die anderen sind denk ich auch erst einmal beschäftigt."
Leon und ich setzten uns nebeneinander an dem Tisch.
Was blieb uns auch für eine Wahl? Diese Susanne schien ja irgendetwas überaus wichtiges mit mir besprechen zu wollen, sonst würde sie jetzt ja nicht so ein Aufhebens daraus machen.
Ich sah Leon an. Der schien mindestens genauso gespannt zu sein, wie ich, zeigte dabei jedoch keine Spur von Nervösität. Warum sollte er auch? Ging hier ja nicht um ihn.
"Ich habe in der Übergabe von Stella gehört, dass es dir gestern nicht so gut ging", sagte Susanne. "Und Eileen meinte ja auch vorhin, du hättest gestern Nacht noch lange geweint."
Ich schwieg.
"Und vor der Teezeit schon wieder", sagte die Betreuerin.
Ich spürte ihren Blick auf mir, genauso wie den von Leon, der seine Hand sanft auf meine legte.
"Magst du mir erzählen, was genau dich so traurig macht?"
Erneut sagte ich nichts.
Was war das auch für eine bescheuerte Frage!
Was sollte mich schon traurig machen?
Der Betreuer des besten Kumpels meines Freundes, den man seinem verlodderten Aussehen nach leicht mit einem Penner verwechseln konnte, hatte gestern ja auch nur gemeint, mich in ein Kreuzverhör verwickeln zu müssen, mit dem Ergebnis, dass ich jetzt in diesem Gefängnis hier fest saß und allem, was mein bisheriges Leben ausgemacht hatte, den Rücken hatte kehren müssen!
Ach ja, und derjenige, der diese ganze Geschichte ins Rollen gebracht hatte, war ausgerechnet die Person, der ich von allen Menschen - abgesehen von Eddie - noch am meisten vertraute. Die Person, welche ich noch mehr als jeden anderen an mich herangelassen hatte.
Die Person, welche jetzt gerade neben mir saß, meine Hand in seiner hielt und seinen Finger dabei behutsam über deren Haut kreisen ließ.
Leon hatte es bemerkt.
Diese Sache zwischen Vater und mir. Ich hatte nie darüber geredet, einfach, weil es niemanden etwas anging. Auch Leon nicht.
Aber er hatte es bemerkt, egal wie sehr ich auch versucht hatte, es vor ihm zu verbergen, wie oft ich geschwiegen hatte.
Er hatte es bemerkt.
Und dann hatte er begonnen darüber zu reden. Mit dem Arzt. Mit Mehmet. Mit Niko. Und mit was weiß ich wie vielen noch.
Leon hatte mein Geheimnis verraten. Und damit dann alles verändert.
Ich sollte wütend auf ihn sein.
Ich sollte ihn anschreien. Ihm klar machen, dass er zu weit gegangen war. Dass er verschwinden sollte. Und dass ich ihn nie wiedersehen wollte.
Aber ich war nicht wütend, konnte es nicht sein.
Ich wusste, dass Leon nicht anders hatte handeln können. Weil er sich Sorgen um mich machte. Und weil er mich liebte - aus welchem Grund auch immer, ich verstand es nicht.
"Darf Leon mir die Frage beantworten?"
Ich zuckte mit den Achseln.
Meinetwegen, sollte er reden! Sollte er mal schön erklären, was mit mir nicht stimmte! Das tat er doch sowieso jedes Mal!
"Was bedrückt deine Freundin, Leon? Hast du eine Idee?"
"Ja... das... ist glaub ich alles gerade schwierig für sie. Dass sie jetzt hier ist und so..."
"Also hat sie Heimweh?"
"Kann man so sagen."
"Hat er recht?", fragte Susanne weiter.
Ich nickte, ohne die Augen dabei von den Händen in meinem Schoß zu nehmen.
"Und was kannst du tun, damit es dir wieder besser geht?"
"Ich weiß nicht."
"Wie wäre es mit einem Spaziergang?", schlug Susanne vor. "So ein bisschen Bewegung an der frischen Luft würde dir bestimmt guttun."
"Ja... ich... eigentlich... darf ich vielleicht mal kurz mit meinem Vater telefonieren?" Nur ein paar Worte von ihm. Nur einmal hören, dass er mir verzeiht, dass er mich liebhat. Und dass alles wieder gut wird.
Dann würde es mir besser gehen.
Und danach würde ich auch meinetwegen noch einen Spaziergang machen, oder... was auch immer diese nervige Betreuerin meinte, was mir guttat. Die hatte doch keine Ahnung!
"Es tut mir leid. Das kann ich dir leider nicht erlauben."
"Warum denn nicht?", fragte ich. "Ich meine... ja, ich darf meinen Vater nicht treffen. Das hat man mir schon erklärt, aber... Es ist doch nur ein Telefonat. Das... müsste doch gehen."
"Nein, das tut es aber nicht."
"Auch nicht, wenn du dabei bist?"
"Nein." Susanne seufzte. "Maria... ich verstehe ja, dass du gerne mit deinem Vater sprechen möchtest. Ihr seid das letzte Mal ja auch im Streit auseinander gegangen, wenn ich das-."
"Maria ist von Zuhause weggerannt", warf Leon ein - war ja klar, dass der sich wieder einmischen musste.
"Genau. Jedenfalls... die Vorgabe vom Familiengericht lautet eindeutig: Kein Kontakt zwischen dir und deinem Vater, weder persönlich, noch telefonisch, noch sonst irgendwie."
"Aber... was soll das denn? Ich kann doch wenigstens mit meinem Vater telefonieren! Wieso wird mir das verboten?"
"Weil es dir nicht guttun würde", sagte Susanne.
"Woher wollt ihr das wissen?", fragte ich und spürte, wie mir die Hitze ins Gesicht stieg. So langsam reichte mir das hier! "Scheiße, wieso meinen immer alle zu wissen, was mir guttut? Das weiß ich doch selber immer noch am besten!"
"Maria... ich weiß, du bist jetzt gerade in einer schwierigen Lage und... da ist das ganz natürlich, dass du dich nach etwas Gewohntem sehnst. Nach etwas, was dir Halt gibt, aber... Dein Vater kann dir das leider nicht geben. Da müssen wir-'"
"Wer sagt das?", fiel ich Susanne ins Wort. Zum Teufel, was sollte das hier jetzt auch noch mit den Höflichkeiten?
"Wer behauptet das, dass Vater mir keinen Halt geben kann?" Ich lachte und spürte gleichzeitig, wie mir die Tränen an den Wangen hinunter zu laufen begannen. "Vater gibt mir immer alles, was ich brauche!"
"So hast du das empfunden, ja-"
"Es ist so!"
"Aber-"
"Er ist immer für mich da!", schluchzte ich. "Er liebt mich!"
"Aber es gab da auch andere Dinge... die zwischen euch passiert sind. Und das war nicht in Ordnung. Das weißt du."
"Ja toll!", meinte ich und fuhr mir mit dem Ärmel über die nassen Wangen. "Und wie lang soll das jetzt so gehen? Wann darf ich wieder mit Vater sprechen? Wann darf ich ihn sehen?"
"Das wird die Zeit zeigen."
"Was soll das heißen?", fragte ich. "Wann darf ich ihn wiedersehen? Verdammt noch mal, das ist doch eine ganz normale Frage! Warum krieg ich darauf jetzt keine Antwort?"
"Süße... Komm, nun be-", begann Leon und wollte einen Arm um mich legen, da schlug ich ihn fort.
"Halt du dich doch mal daraus! Immer musst du dich überall einmischen! Deswegen ist das doch jetzt alles überhaupt so!" Ich stand auf. "Nur darum bin ich jetzt doch überhaupt hier in diesem Gefängnis, wo diese ganzen Bekloppten leben! Wo man wegen jedem Scheiß immer erst fragen muss! Und wo einem ständig auf die Finger geglotzt wird! Das hab ich doch jetzt alles nur so, weil du deine Schnauze nicht halten konntest!", sagte ich und wollte den Raum verlassen, da hatte Leon sich mir schon in den Weg gestellt.
"Das hast du jetzt nicht wirklich gesagt, oder?" Er sah mich an. Ungläubig. Wütend. Und verletzt.
"Glaubst du ernsthaft, ich wollte das alles so?"
"Ja, was soll ich denn sonst glauben?", fragte ich und wischte mir abermals mit dem Ärmel übers Gesicht. "Du konntest meinen Vater doch noch nie leiden! Du hasst ihn! Da passt dir das doch jetzt ganz wunderbar, dass ich nicht mehr bei ihm sein darf... nicht mal mehr telefonieren, gar nichts mehr! Das ist doch alles, was du wolltest!"
"Ich wollte dir helfen, sonst gar nichts!"
"Ja, vielen Dank auch!", brüllte ich ihn an.
"Maria, ich-"
"Nein, komm!", unterbrach ich ihn. "Verpiss dich einfach! Und nimm dein beschissenes Handy mit!"
Vater durfte ich damit ja eh nicht anrufen! Da könnte ich mir noch eher, sobald man mich in die Stadt ließ, irgendeine Telefonzelle suchen und von da aus Zuhause anrufen. Wobei man hier ja wegen jedem Cent, den man ausgegeben hatte, einen Kassenbon vorlegen musste.
Aber wie auch immer, dann würde ich halt behaupten, ich hätte vergessen, einen mitzubringen. Damit käme ich immer noch besser davon, als mit Leons Handy bei Vater anzurufen und dafür fortan immer jemanden meiner Seite kleben zu haben, selbst wenn ich nur mal kurz eine SMS verschicken wollte!
Aber mit wem wollte ich denn jetzt überhaupt etwas schreiben? Oder telefonieren? An sich doch mit niemanden, außer natürlich mit Vater.
Aber der wollte im Moment wahrscheinlich sowieso nichts mit mir zu tun haben. Würde wahrscheinlich direkt wieder auflegen, sobald er meine Stimme hörte.
Von wegen alles wird wieder gut, dachte ich. Das war Wunschdenken und sonst gar nichts!
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