45. Wo ist Maria?

°○ Maria ○°

Ich musste hier raus! Ich konnte das nicht mehr!
Dieses Arschloch immer mit seinen ganzen Sprüchen!
"Soll ich dir vielleicht mal einen Tisch suchen?"
Als ob das immer so witzig war!
"Die ist schon wieder ohne Karten, heute..."
Tränen begannen hinter meinen Lidern zu brennen. Ich drängte sie zurück.
"So verquollen wie die gerade aussieht..."
Wer war ich denn für ihn? Doch wohl nicht mehr als hässlich!
"Jetzt mach dich mal locker, Süße!"
Hässlich und verklemmt fand Leon mich, ganz egal, was er sonst noch sagte!
Ich verstand es nicht! Was wollte er überhaupt noch von mir? Was hatte er jemals von mir gewollt?
War es wirklich so, wie Eddie immer meinte? War ich seine Puppe? Ein angegribbeltes hässliches kleines Püppchen, womit er eine Weile spielte? Und danach, wenn er keine Lust mehr darauf hatte, warf er es weg. Oder er zerstörte es.
Ein Windzug fuhr mir in den Kragen. Ich schauderte.
Verfickte Scheiße noch mal! Wo sollte ich jetzt hin?
Ich hatte keinen Platz mehr hier.
Ich hatte noch nie irgendwo einen Platz gehabt!
Einen Ort, wo ich hingehörte. Ich störte immer nur alle. Musste immer nur mitlaufen, ob ich wollte, oder nicht. Musste mich hübsch machen. Lächeln. Und die Schnauze halten. Mehr sollte ich nicht, überlegte ich, drängte mich noch an einer Gruppe aufgetakelter Superschlampen vorbei zur Ausgangstür und trat dann in die kalte Nacht hinaus. Hier war es ruhig, endlich, und mein Herz beruhigte sich allmählich wieder, während ich an einer langen Schlange geparkter Autos entlang lief, als nächstes in einen schmalen Pfad zwischen dort angrenzenden Hecken bog und diesen bis zu dessen Ende passierte, woraufhin ich eine Wegkreuzung erreichte. Und ein Bushaltehäuschen, an welchem seinem verlodderten Aussehen nach wohl schon seit Jahren kein einziger Bus mehr gehalten hatte.
Es war dunkler hier als noch vorne auf dem Parkplatz, lediglich eine Straßenlaterne spendete der Umgebung ein wenig Licht.
Irgendwo aus der Ferne ertönte ein schrilles Trillern, wie von der Sirene eines Polizeiautos, aber doch noch ein wenig anders.
Ich war allein, jetzt wirklich mal und irgendwie freute mich das. Es fühlte sich besser an, nun hier alleine im Dunklen zu sitzen als eben noch alleine in dem ganzen Gedränge von Menschen zu stehen und sich dabei wie das letzte Stück Scheiße zu fühlen.
Fast kam es mir hier so vor, wie in einem dieser Horrorfilme, welche ich mir immer mit Leon ansehen musste, in denen irgendwelche dämlichen Jugendliche auf dem Weg zu einer Party vom richtigen Weg abkamen und dann in eben genaus einer Einöde landeten, wo dann bereits irgendwelche Monster auf sie warteten, um sie bei lebendigem Leib in Stücke zu schneiden.
Aber ich hatte keine Angst.
Sollte doch kommen, wer wollte!
War mir ganz egal, was mir dann passierte. Selbst wenn ich sterben müsste.
Was sollte das schon schlimmer machen?
Es war doch so schon schlimm genug mit mir.
Dieses verkackte Leben, in dem ich gefangen war!
Ich hatte die Schnauze voll davon!
"Was machst du hier?"
Ich zuckte zusammen, im selben Moment trat Luca in den Lichtkegel der Straßenlaterne, eine Flasche in der Hand.
"Wo ist dein Freund?"
"Weiß ich nicht", antwortete ich.
Luca kam näher, musterte mich jetzt genauer. Dann grinste er. "Hast du schon wieder geheult?"
"Nein!"
"Siehst aber so aus", meinte Luca und deutete dann auf den Platz neben mir auf der Bank. "Darf ich?"
Was fragte er das jetzt? Ansonsten tat er doch auch einfach immer alles, was er wollte, überlegte ich, nickte dann aber.
"Habt ihr euch gestritten?"
"Nein", sagte ich.
"Also ja." Luca setzte sich. "Worum ging's?"
"Wir haben uns nicht gestritten."
"Hat er fremdgevögelt?"
"Nein!"
"Aber du bist sauer auf ihn, hab ich Recht?"
Ich starrte Luca an. Woher wusste er das?
"Ja, Nuckelchen, du hältst dich vielleicht für geheimnisvoll oder so, aber für mich bist du ein offenes Buch."
"Ich halte mich nicht für geheimnisvoll."
"Das bist du auch nicht", meinte Luca.
Ich fröstelte wieder, auch meine Zähne begannen nun zu klappern. Das ärgerte mich.
"Ist dir kalt?"
Ich antwortete nicht.
"Hier, trink mal einen Schluck!" Luca hielt mir die Flasche hin. "Das wärmt dich auf."
"Was ist das?", fragte ich.
"Rum.", antwortete Luca, schraubte die Flasche auf, nahm einen Schluck daraus und reichte sie mir wieder. "Los, probier mal!"
"Ich möchte nichts, danke."
"Nur einen Schluck, komm schon!"
"Nein, danke."
"Danke, danke, danke!" Luca stieß ein gereiztes Stöhnen aus. "Das ist doch für'n Arsch!"
Ich biss mir auf die Lippe.
"Bist du immer so ein braves Mädchen?"
"Nein."
"Ich glaube wohl", entgegnete Luca, setzte noch einmal die Flasche an und atmete dann geräuschvoll aus.
"Ich hab mich schon mal bewusstlos getrunken."
"Bewusstlos getrunken?" Luca lachte. "Du meinst, du hast gesoffen."
"Ja", meinte ich. "Bis ich bewusstlos war."
"Wow!", sagte Luca, klang dabei allerdings alles andere als beeindruckt. "Das ist ja heftig!"
Er verarscht mich, dachte ich, verschränkte die Arme vor der Brust und versuchte mich warm zu reiben, jedoch ohne, dass es wirklich etwas brachte.
"Die Polizei ist auch schon mal wegen mir gekommen."
"Ja, weil dein Vater sich umgebracht hat."
"Ich meine letztens beim Filmabend, als ich abgehauen war."
"Ja, stimmt." Luca lachte. "Warum war das noch mal?"
"Ich mag diese Frozen-Scheiße nicht", antwortete ich.
"Was magst du dann für Filme?", wollte Luca wissen.
"Keine Ahnung."
"Horror?"
"Nein! Sowas hasse ich!"
"Aber Liebesfilme magst du."
"Nur die guten", sagte ich.
"Und wie hat dein Vater sich umgebracht?" Der plötzliche Themenwechsel erschreckte mich.
"Hat er sich in den Kopf geschossen?"
Ich schüttelte den Kopf.
"Wie hat er es dann gemacht?", wollte Luca wissen.
"Er... hat sich die Arme aufgeschnitten", erzählte ich nach einigem Zögern. "In der Badewanne."
"Und Leon hat ihn gefunden?"
"Ja." Ein Kloß bildete sich in meinem Hals. "Mit meinem Bruder zusammen."
"Scheiße!" Luca nahm noch einen Schluck, bot mir dann erneut die Flasche an. "Darauf würde ich jetzt mal einen trinken, an deiner Stelle."
Ich zögerte etwas, dann nahm ich die Flasche. Nippte kurz daran. Und begann zu husten.
"Nimm gleich noch einen Schluck!", forderte Luca. "Dann wird's besser!"
"Lieber nicht", sagte ich und wollte ihm den Rum zurückgeben, doch Luca nahm ihn nicht an, schob die Flasche stattdessen zurück in meine Richtung. "Vertrau mir ruhig, Nuckelchen! Wenigstens wenn's ums Saufen geht. Da kenne ich mich aus."

°○ Leon ○°

"Die nächste Runde geht auf mich." Ali stieß mit mir an. "Und dann gibt's Tequila."
"Nee... ich glaub, nach dem hier mach ich erst mal Pause", sagte ich und nahm einen Schluck von meinem Wodka-E, den Mehmet mir gerade gebracht hatte.
"Wie was jetzt Pause?", fragte Ali und boxte mir in die Schulter, da schwappte mir schon fast das Getränk über.
"Pass doch auf, du Idiot!", fuhr ich ihn an.
"Jetzt sei mal nicht son Spießer, hier!"
"Bin ich auch nicht!"
"Einen kannst du wenigstens mittrinken!"
"Ich muss ein bisschen aufpassen, heute."
"Ja, wegen deiner Süßen, schon klar!"
"Wo bleibt die eigentlich?", warf Mehmet ein.
"Gute Frage!", meinte ich. Die stellte ich mir auch schon die ganze Zeit. Seit wann war Maria jetzt weg? Fünfzehn Minuten? Oder wohl doch schon länger, überlegte ich und warf noch mal einen Blick auf mein Handydisplay.
Null Uhr dreiundvierzig.
Verdammt! Die Zeit beim Feiern verflog immer so schnell, da kam ich gar nicht hinterher.
"Ich schau mal nach ihr."
"Wollte sie nicht auf Toilette?", fragte Mehmet.
"Vielleicht ist sie danach ja noch raus an die frische Luft", überlegte ich.
Das hoffte ich natürlich nicht für sie!
Aber es würde Maria ähnlich sehen, einfach so abzuhauen, wenn ihr gerade danach war, das wusste ich leider nur zu gut. Umso dämlicher, dass ich gerade jetzt die Zeit hatte vergessen müssen!
"Ich geh mal besser nach ihr gucken."
"Auf der Toilette kann ich ja eben schauen", bot Verena sich an. "Da wollt ich sowieso gerade hin."
Ich schenkte ihr ein Lächeln. "Nett von dir, danke!"
"Kein Problem!"
Schnell leerte ich den Rest meines Glases, dann stellte ich es vor mir auf dem Tisch. "Kommt ihr mit?"
"Klar", meinte Mehmet sofort.
"Wo ist denn Manuel?", fragte Ali.
"Bestimmt in der Wundertüte", antwortete ich.
"Dann solltest du ihm vielleicht besser mal schreiben, oder?"
"Lieber nicht", meinte ich. "Der flippt nur aus, weil ich Maria hab weglaufen lassen."
"Wieso? Ist doch ihre Sache, wo sie hingeht."
"Eigentlich schon", sagte ich.
"Ja, eben! Dann mach dich locker!"
So einfach war das leider nicht, wenn es um Maria geht, dachte ich und entsperrte wieder mein Handy.
Warum hatte ich Dummkopf sie auch einfach so gehen lassen?
Die war doch schon den ganzen Abend so komisch drauf! Da könnte jetzt sonst was passieren!

LEON
Süße?
Wo bist du?
Alles gut bei dir?

Ich schicke die Nachricht ab, zögerte einen Moment und rief sie dann an. Das hätte ich auch mal genauso gut als erstes machen können!
Die Verbindung wurde aufgebaut, daraufhin ging direkt die Mailbox ran.
Na, super!
"Hat sie ihr Handy aus?", fragte Mehmet.
"Natürlich hat sie ihr Handy aus!", antwortete ich, genauso patzig, wie ich ihm jetzt geantwortet hätte, dass ich natürlich schon längst auf dem Weg zur Wohnung wäre, hätte Melanie auch nur einen Pieps von sich gegeben, von wegen Minchen ginge es nicht gut.
Aber Minchen war gerade nicht das Problem.
Die schlief schon längst, eingewickelt in einer Decke, in welcher sie sich wie üblich im Laufe der Nacht so tief drin vergraben würde, dass am Ende nur noch ein Büschel ihrer blonden Haare dort rausgucken würde.
Jedoch Maria machte mir Sorgen.
Wo war sie hingelaufen? Oder war sie immer noch auf der Toilette? Gab es irgendein Problem? War sie Julia begegnet?
Wir durchsuchten die Techno-Area, überprüften als nächstes die Blackbox, schließlich die Wundertüte.
Dort trafen wir auf Manuel.
"Wir gehen eben raus, eine rauchen", schrie ich ihm ins Ohr.
"Macht das!", sagte Manuel, dann sah er sich um. "Wo ist Maria?"
"Auf Toilette", antwortete ich. Vielleicht stimmte das sogar und-
"Auf dem Mädchenklo ist sie nicht", durchbrach Ali meine Gedanken. "Hat Verena gerade geschrieben."
"Alles klar", meinte ich. "Dann lass uns-"
"Sie kann ja auch aufs Jungsklo gegangen sein", fiel Ali mir ins Wort."
"Warum sollte sie das tun?", fragte Manuel ihn.
"Bei Mädchen weiß man nie", sagte Ali. "Vor allem nicht bei solchen, mit denen Leon was anfängt. Die haben doch alle einen an der Marmel."
Ich ignorierte seine Bemerkung und hörte wegen dem lauten Remix von Modern Talking auch schon gar nicht mehr, was Ali sonst noch alles zu Manuel sagte.
"Kommt, lasst uns rausgehen!", bestimmte ich und wollte mich schon in Bewegung setzen, als Manuel mich am Arm packte.
"Sag mal, was ist hier eigentlich los? Ist Maria schon wieder abgehauen?"
"Nein", antwortete ich. "Sie wollte nur mal kurz weg."
"Wohin?"
"Auf die Toilette. Und anschließend noch kurz vor die Tür."
"Und jetzt weißt du nicht mehr, wo sie ist."
"Doch, klar!" Ich lachte. "Was meinst du denn, wie weit sie gelaufen ist?"
"Frag nicht so blöd!", blaffte Manuel mich an. "Du hättest mal besser auf meine Schwester aufpassen sollen!"
"Ja, super!", höhnte ich. "Jetzt ist sie natürlich wieder deine Schwester! Ansonsten geht sie dir doch am Arsch vorbei!"
"Halt mal bloß die Fresse, du Spacken!"
"Fick dich, Bastard!"
Manuel rammte mir die Faust ins Gesicht. Ich taumelte, da packte er mich schon wieder. Zog mich an sich ran, so nah dass ich seinen Atem spürte. "Weißt du überhaupt, was ein Bastard ist, du Affe?"
"Dir hat man doch ins Gehirn geschissen!"
"Pass mal bloß auf!", drohte Manuel, die Augen zu Schlitzen gekniffen. "Sonst erlebst du gleich noch richtig was!"
"Ja, wirklich?"
"Leon-"
"Was willst du denn machen?"
"Ich warne dich!"
"Willst du mich zusammenschlagen?"
"Nun hört doch auf mit der Scheiße!", rief Mehmet und drängte sich zwischen uns. "Das geht mir echt auf den Sack mit euch! Wollt ihr nicht nach Maria suchen?"
"Hast du sie schon angerufen?"
"Ja, aber da ging dann gleich die Mailbox ran", erzählte ich.
"Super!", schimpfte Manuel. "Das ist ja wieder typisch Maria!"

°○°

Draußen regnete es Eiszapfen, oder... ja, Wattebäuschen waren das auf jeden Fall nicht, die da vom Himmel fielen. Gegenüber bei der Tankstelle standen mehrere Autos, darunter ein Polizeiwagen, dessen Blaulicht war angeschaltet, die Sirene zum Glück aber nicht.
"Was ist da passiert?", fragte ich, mehr in die kalte Nacht hinein, als irgendjemanden dabei direkt anzusprechen.
Eine junge Frau, moppelig mit kurzen lila gefärbten Haaren, Piercing in der Lippe und einer Zigarette in der Hand, antwortete mir trotzdem. "Da ist vorhin jemand eingebrochen. Hat einfach so das Fenster eingeschlagen und ist rein."
"Ich glaub, ich weiß auch wer", meinte das Mädchen neben ihr.
Ich erkannte sie wieder. Es war Marias Mitbewohnerin, die hübsche Blondine.
"Wer war es denn?", fragte ich, aber noch ehe sie antworten konnte, fuhr der Moppel ihr dazwischen: "Sag es nicht, Laura! Du weißt nicht, ob er es wirklich war."
Laura, dachte ich. Stimmt, so heißt die Hübsche.
"Wer soll es denn sonst gewesen sein?"
"Bevor das nicht ermittelt-"
"Er hat doch sogar noch davon gesprochen!", unterbrach Laura ihre Freundin. "Und dann war er auf einmal weg. Das ist doch komisch, oder nicht?"
Ich zündete mir eine Lucky an."Wer war weg?"
"Luca", antwortete Laura.
"Das Arschloch", sagte ich. Ja, von dem konnte ich mir so eine Nummer auch vorstellen.
"Hast du vielleicht Maria gesehen? Hier irgendwo draußen, oder..." Ich blickte wieder zur Tankstelle, aber damit hatte Maria doch sicher nichts zu tun.
Oder?
War sie vielleicht doch dabei gewesen? Hatte Luca sie dazu gezwungen, mitzumachen? Das Fenster einzuwerfen oder dadurch einzusteigen, um irgendwas für ihn zu klauen?
"Wollen wir mal rübergehen und gucken?", fragte Ali. "Ganz unauffällig so? Vielleicht wird Maria ja gerade befragt", überlegte Ali.
"Das glaub ich nicht, meinte Manuel. "Lasst mal besser trotzdem gucken", sagte Verena. "Danach können wir immer noch die Straßen ablaufen."
"Ruf mal bei Melanie an!", wies ich Mehmet an. "Vielleicht ist Maria ja zurück zur Wohnung, weil sie keinen Bock mehr hatte."
"Oder sie ist noch weiter gelaufen, bis zu unserem alten Zuhause." Manuel steckte sich einen Lutscher in den Mund. "Am besten suchen wir einfach alles ab!"
"Und wenn wir sie nicht finden, rufen wir bei der Wohngruppe an", ergänzte Mehmet.
"Aber erst dann", sagte ich.
"Wir sollten uns aufteilen."
Meine Güte, mehr Klischee geht ja wohl nicht, dachte ich. Aber klar, Manuels Vorschlag macht auf jeden Fall Sinn. Vor allem bei der Kälte jetzt hier draußen. Da könnte Maria sonst was passieren, wenn wir sie nicht früh genug finden!
"Ali, Verena und ich können ja die Strecke bis zur Thomas-Rathmann-Straße ablaufen", fuhr Manuel fort. "Und ihr zwei" An dieser Stelle deutete er auf Mehmet und mich. "sucht erst mal hier weiter."
"Ich glaub, das könnt ihr euch sparen", mischte Laura sich ein. "Guckt mal dahinten!" Sie wies in Richtung Schotterparkplatz, genauer zu der schmalen Gasse zwischen der sich dort befindenden Hecke, welche das Gelände vom Zoney in Richtung der benachbarten Wohnblocksiedlung auf der Linken und einem noch unbebauten ziemlich abgelegenen Fleck auf der Rechten, auch Porno-Ecke genannt, hin abgrenzte.
Maria kam von dort angelaufen, oder besser gesagt, angetorkelt, nur halbwegs gestützt von Luca, der sie am Arm haltend neben sich her zog.
"Süße!" Ich rannte auf sie zu, rutschte dabei noch fast auf einer zugefrorenen Wasserpfütze aus, stieß Luca von ihr weg und zog sie in die Arme. "Was machst du denn für Sachen? Wo warst du?" Ich küsste sie, drückte sie daraufhin noch fester an meine Brust und spürte dabei erst so richtig, wie durchgefroren sie war. "Ich hab mir Sorgen um dich gemacht!"
"Dasaub ichir nicht." Maria lallte. Sie sah schlimm aus. Das Gesicht weiß wie Papier, die Lippen vor Kälte schon ganz blau und mit zerlaufener schwarzer Farbe um die Augen.
Schnell zog ich Maria einige Schritte weiter mit mir unter die Überdachung des Hauses, aus der gerade gedämpft Mambo No 5 von Lou Bega ertönte.
"Ali! Geh mal eben rein und hol Maria ihren Mantel!"
"Bin ich hier der Laufbursche, oder was?"
"Jetzt laber nicht!", fuhr ich ihn an. "Sieh zu, dass du los kommst!"
"Wer bist denn du?", fragte Manuel, der hatte gerade Luca am Abhauen gehindert, einfach indem er ihm die Füße unter den Beinen weggetreten hatte.
"Das ist niemand", rief ich. "Nur ein kleines Arschloch."
Luca versuchte wieder hoch zu kommen, daraufhin verpasste Manuel ihm direkt einen weiteren Tritt, kniete sich dann vor ihm hin. "Was hast du mit meiner Schwester zu schaffen?"
"Ich wollte sie nur ins Warme bringen", antwortete Luca und starrte dabei mit großen Augen zu Manuel hoch. Als ob er jetzt Angst hätte. Aber das stimmte natürlich nicht, so gut durchschaute ich ihn bereits. Und Manuel offenbar auch, das konnte ich in seinen Augen sehen.
"Er hat Maria abgefüllt", sagte ich und bedachte Luca mit einem drohenden Funkeln. "Mit dem Schnaps, den er sich vorher aus der Tanke geklaut hatte. Stimmt doch, du Wichser!"
Luca sagte nichts, da boxte Manuel ihm in den Bauch.
"Antworte!"
Luca krümmte sich zusammen, keuchte.
"Ich... hab gar nichts gemacht."
"Verkauf uns doch nicht für blöd!", schnauzte ich ihn an. "Maria ist komplett besoffen! Das passiert nicht einfach so!"
Ich suchte Marias Blick, die hatte die Augen geschlossen. "Was hat er dir alles gegeben, Süße? Was hast du getrunken?"
"Nurn bissn Rum", nuschelte Maria.
"Und hat Luca dir das so in den Mund gekippt?"
"Nein!", antwortete Maria, dann entfuhr ihr ein Hickser. "Ich habbas seler getrunkn, so auser Flasche."
"Weil er dich dazu gezwungen hat."
"Er hat micha gar nich zu geswung! Iwollt daselba!"
"Warum bist du denn überhaupt abgehauen?"
"Kannir och egalein!"
"Ist es aber nicht!", entgegnete ich.
"Sonst isir doch auch alleselal! Hauptsachallesehtach dir!"
"Du hättest hier draußen erfrieren können!"
"Na und?" Maria schniefte. "Das intresssiertich auchn Scheiß!"
"Ja, super!" Ich lachte und verstand selber nicht warum. Lustig fand ich das hier sicher nicht. Ganz im Gegenteil. "Jetzt kommst du wieder mit deiner Psycho-Nummer!"
"Du bisemein!"
"Besser gemein, als bescheuert, so wie du gerade!"
"Da bin ich wieder!", unterbrach Ali unseren Streit, als er an Marias Seite kam.
"Hier! Bitteschön, Bambina!" Er gab ihr ihren Mantel.
Maria zog ihn an, nur mit dem Reißverschluss wollte es nicht klappen. Das war aber auch kein Wunder, so betrunken wie sie gerade war. Und tiefgefroren.
"Lass mich mal machen!", sagte ich, schob Marias Hände zur Seite und zog ihr den Reißverschluss zu. "Immer dieses Theater mit dir! Das glaubt einem auch kein Mensch!"
"Ich hasse dich!" Maria begann zu weinen. "Du Arschoch!"
"Was hat sie denn?", wollte Ali wissen.
"Keine Ahnung." Ich verdrehte die Augen. "Liegt wohl am Alkohol", meinte ich. "Komm mal her!"
"Lass mich!", schrie Maria und stieß mich von sich, als ich sie in den Arm nehmen wollte.
Im nächsten Moment rannte sie los, kam dabei aber nur drei Schritte weit.
"Hiergeblieben!" Ich packte sie am Arm und zog sie zurück unters Dach, daraufhin begann Maria noch lauter zu heulen: "Lass michos, du Penner! Ichill hiereg!"
"Wir gehen gleich zusammen weg!"
"Lassichos!" Maria kämpfte gegen mich an. "Du Arschoch!" Erneut zog sie die Nase hoch. "Ich hasse dich!"
"Das hast du schon gesagt", entgegnete ich kühl und begann sie jetzt an die Mauer hinter ihr zu drücken.
"Maria... jetzt beruhig dich doch, bitte!", mischte Verena sich nun ein. "Was ist denn auf einmal los mit dir?"
"Ichill dasier nichehr!"
"Wir warten jetzt noch eben, bis es aufhört zu regnen und dann gehen wir nach Hause", bestimmte ich.
"Ichillaba alleine gehen!", protestierte Maria. "Dasarfst du mir auuch gaar nich verbieten! Du bisooch nich mein Vadaa und gaar nichts!", meinte Maria. "Nur soon arrogantes Arschoch, wasimma alles bestimmus!" Wieder versuchte sie mich von sich wegzuschieben, schaffte es aber natürlich nicht.
"Geh wegetz! Du Wichsaa!" Sie ging dazu über, nach mir zu treten, da presste ich sie gleich noch stärker gegen die Mauer.
"Scheißhurensohn! Lassichetz!" Ihre Stimme überschlug sich. Das brachte sie zum Husten. Und das dann auch zum Kotzen.
"Fuck, Alter!" Ich sprang zur Seite. Doch leider zu spät, da hatte mein Mantel schon was abbekommen. Genauso wie meine Schuhe.

°○Maria ○°

Pflastersteine in der Nacht, ich ging darauf entlang. Nur ging ich nicht ganz allein.
Ich wurde gehalten, schon halb getragen.
"So eine Scheiße immer mit ihr!" Leons Stimme. Er klang wütend. Er war es auf mich.
"Da siehst du mal, was ich immer durchmachen muss, wenn du mal wieder meinst, dich abzuschießen", meinte Mehmet, ganz nah neben mir.
Es war dunkel. Und es war kalt. Das lag auch vor allem am Wind, welcher mir eisig ins Gesicht blies, vermengt mit kleinen Wassertröpfchen, wie aus einer Sprühflasche.
In meinem Bauch rumorte es, Speichel floss in meinem Mund zusammen.
Ich blieb stehen.
"Süße, was ist los?", fragte Leon.
"Ist dir wieder schlecht?"
"Bleib mal stehen!" Wieder Mehmet.
"Was ist los?", wiederholte Leon seine Frage. "Sag doch mal!"
Ich tat es nicht, begann dafür nun zu weinen.
"Ach Gottchen! Jetzt heult sie schon wieder!" Manuel. Natürlich war auch er dabei.
"Du versoffene Schlampe! Weißt du eigentlich, wie peinlich du bist?"
Er war weiter weg, doch die Schärfe in seinen Worten war nicht zu überhören, stach in mich rein, wie ein frisch geschliffenes Messer
"Red nicht so mit ihr, du Pisser!"
"Halt du dich da raus!"
"Dann sei nicht so ein Arschloch!" Leon brüllte jetzt, daraufhin lachte Manuel nur, jedoch ohne jede Spur von Humur darin.
"Ich polier dir gleich die Fresse, wenn du's drauf anlegst!"
"Komm doch her!"
"Könnt ihr euch jetzt mal zusammenreißen?", meinte Mehmet. "Oder soll ich Maria alleine nach Hause bringen?" Er klang ruhig, höchstens etwas genervt. "Das kann ich ja gerne machen. Aber dann bleibt ihr draußen!"
Nein, bitte, dachte ich. Streitet euch nicht wegen mir! Das macht doch alles nur noch schlimmer!
Das Rumoren wurde stärker, stieg in mir hoch.
Schnell wandte ich mich zur Seite, kurz darauf entlud es sich schon in einem Schwall bitterer Galle, durchmischt mit Rum. Keine Pizza mehr, dachte ich. Und im nächsten Moment verlor ich mich.

°○°

Immer noch die Pflastersteine, näher jetzt. Dazu der widerlich bittere Geschmack von frisch Erbrochenem in meinem Mund, nun war es noch weniger Rum als Galle.
"Süße!"
Wie lang war ich weg gewesen, fragte ich mich und spürte gleichzeitig etwas weiches in meinem Gesicht.
"Hey, komm schon! Wach auf!"
Das Weiche verschwand.
"Hallo?" Der angenehm tiefe Klang von Mehmets Stimme links an meinem Ohr.
"Maria?" Er rüttelte mich leicht, fragte nun eindringlicher: "Kannst du mich hören?"
"Nicht schlafen, jetzt, Süße! Sag mal was, bitte!"
Eine schnelle Folge von Patschern gegen meine Wange. War es Leon?
Ich öffnete die Augen, wurde daraufhin direkt von einem grellen Licht geblendet.
"Na endlich!", rief Leon, hörbar erleichtert und rieb mir über den Rücken. "Da bist du ja wieder!" Er zog mich auf die Beine. Und dann an seine Brust.
"Ich dachte schon, es sei sonst was mit dir!" Das erneute Reiben von Händen über meinen Rücken. "Mehmet war schon kurz davor, den Krankenwagen zu rufen."
"Bin ich auch noch immer", meinte dieser.
"Dann ruf sie ruhig an!", meldete Manuel sich von weiter weg. "Das wird bestimmt lustig!"
"Wir brauchen keine Sanis!", sagte Leon. "Wir kriegen das schon alleine hin, oder Süße?" Er löste seine Umarmung etwas, hielt mir als nächstes ein Taschentuch vor die Nase. "Na komm!"
Ich schnäuzte hinein.
"So wieder besser?"
"Hm-mh."
"Das Schlimmste hast du jetzt glaub ich auch hinter dir."
"Ja, das kannst du wohl noch am besten beurteilen!", höhnte Manuel.
"Besser als du auf jeden Fall!", entgegnete Leon.
"Ja, wow! Kannst du dir auch schön was drauf einbilden, dass du dich alle paar Tage ins Koma säufst!"
"Das stimmt doch gar nicht!" Leon lachte. "Was laberst du für eine Scheiße?"
"Jetzt tu mal nicht so!", meinte Manuel. "Ich hab's oft genug schon miterlebt, wie du dich hier wegballerst. Und am Ende liegst du irgendwo in deiner eigenen Kotze, so wie das billige Flittchen da!"
"Nenn sie nicht Flittchen!"
"Und wenn sie eins ist? Da kann ich doch nichts für!"
"Du bist ihr Bruder!", sagte Leon und rieb mir dabei wieder fest über den Rücken. "Da würde ich mir mal Gedanken machen!"
Er gab mir einen Kuss auf die Stirn. "Wollen wir weiterlaufen, Süße?"
Ich antwortete nicht. Spürte gleichzeitig die nächste Welle an Übelkeit in mir hochschwappen. Und noch etwas anderes. Ein Brennen in meinem Unterleib. Ich musste pinkeln, wohl schon länger, ohne dass ich es bemerkt hatte.
"Maria?", fragte Leon weiter."Jetzt red doch mal mit mir!"
"Warumoll ichas?", fragte ich, nuschelte es wieder nur. "Gehtir doch amarschorbei, was ichohlill!"
"Ich hab dich doch gerade gefragt, was du willst."
"Hasu gaarnich!", entgegnete ich. "Du hasefragt, obir weiterlaufenollen unnich ob ichasill. Dasis einoßer Unterschied!"
"Willst du denn weiterlaufen?"
"Ichill gar nichtsehr!"
"Ja, schön, hier draußen bleibst du jedenfalls nicht", bestimmte Leon und nahm mich an die Hand. "Los, komm mit!" Er zog mich mit sich weiter. "So lang brauchen wir auch nicht mehr bis zur Wohnung. Und wenn wir dann da sind, ruhst du dich aus."
Wir liefen ein paar Schritte, dann blieb ich wieder stehen.
"Was denn, Süße? Komm weiter jetzt!"
Die Nacht fing an sich zu drehen.
"Vielleicht will sie ja getragen werden", spottete Manuel.
Leon ignorierte ihn, rieb mir nun abermals fest über die Arme. "Nur noch zehn Minuten laufen und dann bring ich dich ins Bett." Er lächelte mich an.
"Klingt das gut, Süße?"
Ich senkte den Blick.
"Ich kann dir auch gerne noch eine Brühe machen, wenn du willst", redete Leon weiter. "Und dazu isst du dann noch etwas Brot."
Speichel lief in meinen Mund.
"Das hilft gegen den Kater, später."
Die Schmerzen wurden schlimmer.
Bitte, nicht schon wieder, dachte ich. Krümmte mich zusammen.
"Maria?"
Und presste die Hände vor dem Bauch.
"Komm, schnell!", sagte Leon und zerrte mich zu einem nahe gelegenen Blumenbeet abseits der Straße, da kam es mir schon wieder hoch.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top