36. Wolltest du was sagen?
°○Eduard○°
Über Nacht hatte es geschneit. Wohl nicht gerade wenig, das sah man an den hohen Schneebergen, welche die Räumungsfahrzeuge inzwischen an den Straßenrändern aufgetürmt hatten.
Mehrere Fünftklässler kletterten in den Hügeln herum und bewarfen sich mit Schneebällen. Lautes Brüllen, gepaart mit ausgelassenem Gelächter begleitete ihr Spiel.
In spätestens zehn Minuten käme der Bus angefahren. Was für ein Pech für sie! Da würden diese Dreckskinder mal dumm gucken, wenn sie die nächsten Stunden in vom Schnee durchnässten Hosen würden zubringen müssen.
Ein kalter Windstoß blies mir ins Gesicht. Ich schauderte, hob die Hände ans Gesicht und hauchte warmen Atem hinein, der schien jedoch kaum etwas gegen die Kälte in mir ausrichten zu können, welcher hauptsächlich daherrührte, dass ich in der letzten Nacht, wenn überhaupt, dann höchstens zwei Stunden hatte schlafen können.
Meine Mutter war der Grund dafür. Sie hatte geweint, gedämpft in ihr Kissen, aber immer noch so laut, dass ich es durch die Wand hindurch hatte mit anhören müssen.
Es war schlimm gewesen, wie immer. Viel zu schlimm, um dabei im Bett zu bleiben. Also war ich schließlich ins Schlafzimmer meiner Eltern gelaufen und hatte mich zu meiner Mutter ans Bett gesetzt. Hatte versucht sie zu trösten. Hatte ihr gut zugeredet. Hatte versucht sie abzulenken. Über irgendetwas anderes zu reden, als über meine tote Schwester.
Nichts hatte geholfen.
Daraufhin hatte ich begonnen nach Tabletten zu suchen. Irgendetwas zum Einschlafen. Es waren keine im Haus gewesen, weder in Mutters Nachttischschublade, noch im Arzneischränkchen, noch sonst irgendwo.
Schließlich war ich wieder dazu übergegangen, einfach dazusitzen und meiner Mutter beim Schluchzen zuzuhören.
Mein Vater hatte wie üblich nichts von alldem mitbekommen. Stattdessen hatte er die ganze Zeit über geschlafen, zwei Türen weiter im Gästezimmer. Dorthin hatte er sich seit Jahren schon zurückgezogen, das musste kurz nach dem Unfall gewesen sein, überlegte ich und im selben Moment schossen mir wieder jene Erinnerungen in den Kopf.
Leon und ich, wie wir uns gestritten hatten.
"Vielleicht will ich ja lieber mit Ranja spielen."
"Und was ist mit mir?"
"Wieso? Kannst doch zu deinen anderen Freunden gehen, wenn dir langweilig ist."
"Ab-"
"Mit denen spielst du in der Schule doch sonst auch immer."
"Ja, aber-"
"Und mich lasst ihr da nie mitmachen. Da steh ich dann immer nur am Rand und... ja, aber meinen neuen Ball, den leiht ihr euch dann trotzdem gerne aus. Ist doch so!"
"Was laberst du? Sagt doch keiner, dass du nicht mitspielen darfst."
"Und was war das dann heute?"
"Ja, heute waren wir schon genug Spieler."
"Sowas sagt ihr immer. Mal seid ihr schon genug Spieler und dann-"
"Ist doch gar nicht wahr!"
Leon hatte Ranja den Ball zugepasst und wir hatten weiter gestritten.
Nur wenige Augenblicke später hatte meine Schwester schon weit hinten auf der Eisfläche gestanden. Sie hatte versuchte den Fußball zu erreichen. Dann war das Eis gebrochen und-
Mehrere Schneebälle knallten gegen mich.
Einer davon traf meinen Kopf, gefolgt von wildem Triumphgeschrei.
"Verschissene kleine Dreckskinder!", schimpfte ich, drehte mich um und funkelte böse in Richtung der Jungs. "Macht das noch mal und ich werd-AHH!" Jemand zog mir von hinten an den Kragen meines Pullovers. Zeitgleich spürte ich, wie Schnee hinein gestopft wurde.
"Wolltest du was sagen?" Leons Stimme dicht an meinem Ohr.
"Lass mich los!" Ich versuchte mich gegen ihn zu wehren, begann dabei heftig um mich zu schlagen. Und traf im nächsten Moment mit dem Rücken auf den Pflastersteinen auf, so hart, dass es mir die Luft aus den Lungen presste.
"Oh Mann!" Leon lachte. "Das lief ja noch besser als geplant", meinte er und hockte sich neben mich auf dem Boden.
Ich japste nach Luft, bekam aber keine.
"Tja! Dumm gelaufen, würd ich sagen."
Aus Leons Lachen wurde ein Husten.
"Bist auch selber schuld, wenn du nicht aufpasst", meinte er, grunzte und spuckte dann aus, wobei er tatsächlich mal die Höflichkeit besaß, sich dabei von mir wegzudrehen.
Ich schloss die Augen. Konzentrierte mich einen Moment lang auf meine Atmung, die kam allmählich wieder, und spürte, wie mein Herzschlag sich normalisierte.
"Pennst du jetzt schon wieder?" Erneutes Lachen. "Alter, ich glaub's ja nicht!" Etwas kaltes in meinem Gesicht. Leon seifte mich mit Schnee ein.
"Hör auf!", schrie ich.
"Womit denn?", fragte Leon, setzte sich nun mit den Beinen auf meine Arme, sammelte noch eine Handvoll Schnee zusammen und stopfte sie mir vorne unter den Pullover.
"Arschloch!"
"Jetzt wieder alles frisch bei dir?"
"Geh runter von mir!", schnauzte ich ihn an, da hob Leon in gespielter Überraschung die Augenbrauen.
"Wie heißt das?"
"Du sollst von mir runtergehen, du Stricher!"
"Wie bitte?", fragte Leon, packte meine Hand und bog sie herum, so gewaltsam, dass ich nicht anders konnte, als vor Schmerzen laut aufzubrüllen.
"Ich versteh dich so schlecht."
"Bitte!" Tränen begannen an meinen Wangen hinabzulaufen.
"Bitte was?" Leon verstärkte den Druck um mein Handgelenk noch etwas.
"Bitte geh runter!", schluchzte ich.
"Bitte geh runter, liebster bester Leon!"
"Bitte geh runter, liebster bester Leon!", sprach ich ihm nach.
Leon grinste.
"Und schönster", sagte er.
Ich reagierte nicht, daraufhin wurden die Schmerzen noch einmal schlimmer.
Ich schrie wieder auf. "Und schönster!"
"Hmm..." Nun schien Leon nachdenklich. "Das weiß ich jetzt ja nicht, ob ich dir so ein Geschleime überhaupt abkaufen soll..."
"Bitte, lass doch los!", krächzte ich.
"Dass du es auch immer gleich übertreiben musst..."
"Leon!"
"Sonst hast du doch auch kein nettes Wort für mich übrig."
"Bitte!" Ich weinte jetzt hemmungslos.
Leon sah mir eine Weile dabei zu, warf dann einen Blick über die Schulter, stand schließlich auf und lief in Richtung Bus, der hielt bereits beim Wartehäuschen.
°○°
Ich bestieg als letzter den Bus, bis dahin war es mir gelungen, mit dem Heulen wieder aufzuhören.
Ein Glück, dass Leon mir eben nicht das Handgelenk gebrochen hatte!
Natürlich, den Spruch von wegen Stricher hätte ich mir sparen können.
Aber machte es überhaupt einen Unterschied, ob ich mich jetzt zurückhielt oder nicht?
Immerhin konnte Leons Bösartigkeit auch im Spaß mitunter schon erschreckende Ausmaße annehmen.
Jetzt saß er wieder im Vierer, zusammen mit Mehmet, Ali und Manuel.
Die ganze Bande vereint, dachte ich und schauderte, als mir eine neue Kältewelle durch den Körper fuhr.
Der Bus setzte sich in Bewegung, gleichzeitig ruckten so ziemlich alle Schüler, die im Gang standen, einen Schritt nach vorne.
Einen Sitzplatz bekam man hier nur, wenn man Glück hatte. Oder wenn die anderen Angst genug vor einem hatten, so dass sie Platz machten. Wieder schielte ich zu Leon rüber, der war jetzt gerade dabei, einen der Schneeballwerfer anzuschnauzen, der neben ihm im Gang stand, sich kurz darauf jedoch schnell an die anderen Schülern vorbei und weiter den Gang entlang drängte.
Ist schon witzig, wie schnell sich die Dinge ändern können, dachte ich und grinste, bevor ich mein Handy aus meiner Jackentasche kramte und den Display entsperrte.
Maria hatte mir geschrieben.
MARIA
Ja... mal gucken. Vielleicht hält Leon das Referat dafür ja auch alleine und ich muss da Morgen nur nebenstehen. Wäre auch schon schlimm genug...😳 Ich kann Morgen leider nicht. Da hab ich Gruppenausflug.🙄 Vielleicht passt es dir ja Sonntag?
LG😊
Und noch jemand anderes.
UNBEKANNTE NUMMER
Hey🤗
Wie geht's dir?
Bock zu telefonieren?
LG, Eileen
Ich runzelte die Stirn.
Eileen.
Das war doch dieses komische Mädchen aus Marias Wohngruppe.
Wie war die denn an meine Nummer gekommen?
Hatte Maria die ihr gegeben?
Und wie kam die darauf, dass ich mit ihr telefonieren wollte?
°○Maria○°
Wie beschissen konnte ein Morgen sein?
Da wurde man um vier Uhr früh durch einem Schrei geweckt! Und das, obwohl man selber gerade erst die Augen zubekommen hatte! Aber so war das wohl in der Wohbgruppe. Die einen träumten schlecht und die anderen kamen gar nicht erst soweit, einzuschlafen.
Ich nieste, spürte dabei wieder das Stechen in meinem Ohr. Diesmal hatte es das rechte erwischt.
Erzählen würde ich das niemandem. Nein, diesmal würde ich die Sache einfach selbst in die Hand nehmen. Würde mir eine Packung Schmerzmitel von der Apotheke besorgen und fertig.
Kein Arzt, keine große Sache, dachte ich und bestieg hinter den anderen Schülern den Bus, im selben Moment, in dem es wieder zu schneien begann.
Drinnen war es warm, eher schon stickig und voll war es natürlich auch. Aber wie viele Leute sich hier tatsächlich jeden Tag auf engstem Raum zusammen quetschen mussten, fiel mir jetzt erst richtig auf, wo ich nicht mehr an der Thomas-Rathmann-Straße dazustieg, sondern erst drei Stationen weiter an der Monketufter Allee.
Ich sah mich um.
Die Jungs saßen vorne rechts im Vierer. Leon, Mehmet und Ali. Auch Manuel war diesmal dabei. Komisch, der fuhr doch eigentlich immer mit dem Fahrrad zur Schule, dachte ich und wollte gerade meine Schultasche vom Rücken nehmen, da begegnete Leon meinem Blick und winkte mich zu sich rüber.
Ich schüttelte den Kopf, daraufhin wiederholte Leon seine Aufforderung, diesmal eindringlicher.
Das war doch nicht sein Ernst!
Als ob ich mich jetzt hier an gefühlt tausend Menschen vorbei drängeln würde!
"Süße! Komm her!"
Nein, dachte ich, das könnte Leon mal schön vergessen!
Ich würde jetzt genau hier stehen bleiben, die Augen zumachen und mich weg- Der Bus bremste, so hart, dass ich sicher mit dem Kopf voran gegen den dicken Jungen vor mir geknallt wäre, hätte ich mich nicht an der Stange über mir festgehalten. Glück gehabt!
Ich schloss erneut die Augen, spürte kurz darauf wieder die Müdigkeit in mir aufsteigen. Die hätte ich vor wenigen Stunden noch gut gebrauchen können, als ich mich schlaflos im Bett gewälzt hatte.
Jetzt störte sie nur. Und dabei ging es mir auch ohne sie schon schlecht genug!
"Süße?" Kühle Finger an meiner Wange. "Schläfst du?"
"Nein", sagte ich, erwiderte Leons Blick und gähnte dann. "Wie soll ich das auch im Stehen?"
Leon kicherte. "Das kriegst du schon hin, wenn du müde genug bist."
"Ich bin jetzt schon müde genug."
"Warum kommst du nicht rüber, wenn ich dich rufe?"
"Ja... ich hab dich nicht gehört", log ich. "Tut mir leid."
"Macht ja nichts." Leon küsste mich. "Sonst alles gut bei dir?" Er musterte mich.
"Ja, alles gut", log ich.
"Wie ist es mit der Erkältung?"
"Wird langsam besser."
"Das freut mich", meinte Leon, hob meine Schultasche und meinen Turnbeutel hoch und hängte sie sich um eine Schulter. "Komm, lass uns mal rübergehen!"
Ich folgte ihm, passierte einige Schüler, die machten uns schon von alleine Platz, dann sah ich Eddie.
"Hi!"
"Hey Maria!" Eddie lächelte. "Wie geht's?"
"Ja... ganz gut." Wie oft würde ich das heute wohl noch behaupten, während ich mich gleichzeitig fühlte wie ausgekotzt?
"Du siehst müde aus", meinte Eddie.
"Ja..." Ich verdrehte die Augen. "Ich konnte gestern nicht so gut schlafen."
"Wieso?", wollte Eddie wissen.
"Vielleicht hat sie ja von dir geträumt und ist schreiend ausm Bett gefallen", meinte Leon und nahm mich an die Hand. "Komm jetzt!"
"Wir können ja später noch reden", schlug ich Eddie vor, kurz darauf wurde ich schon weiter den Gang entlang geführt.
Beim Vierer angekommen, begrüßte ich die anderen, dann setzte ich mich auf Leons Schoß, oder besser gesagt, wurde von ihm darauf gezogen.
"Hattest du schon Frühstück?", fragte er.
"Ja, ein Brötchen", antwortete ich. Auch das war gelogen. In Wahrheit hatte ich heute noch gar nichts zu mir genommen, nur ein Glas Wasser. Ich hatte einfach keinen Hunger gehabt. Und Appetit schon mal gar nicht.
"Falls du trotzdem noch Hunger hast, können wir ja gleich noch was kaufen, wenn du willst."
"Ja..." Ich zuckte die Achseln. "Muss aber auch nicht", fügte ich dann noch hinzu, zog mein Handy aus der Jackentasche und entsperrte das Display.
Eddie hatte mir geschrieben.
EDUARD
Hallo Maria,
Viel Glück bei deinem Referat!🍀
Mir hat diese Eileen geschrieben. Hast du ihr meine Nummer gegeben?🤔
"Scheiße!"
"Was ist los?", fragte Leon sofort und sah auf mein Handy. "Och hör!" Er gluckste. "Unser kleiner Eddie wieder! Jetzt hat er ne Verehrerin!"
"Eine Verehrerin?", fragte Ali.
"Ja, guck doch!", sagte Leon, schnappte mir das Handy aus der Hand und gab es ihm.
"Hey, was... tust du denn?", rief ich aus. "Gib mir das wieder!"
"Ja, gleich", meinte Leon.
"Wer ist Eileen?", fragte Ali.
"Ein Mädchen aus Marias Wohngruppe."
"Und was will die von Eddie?"
"Ja, keine Ahnung." Leon lachte. "Hab die jetzt wohl irgendwie verkuppelt."
"Wie das?", mischte sich nun auch Mehmet ein.
"Keine Ahnung!", wiederholte Leon. "Hat sich so ergeben."
"Eileen hat ihn nach Eddies Nummer gefragt", erklärte ich. "Und jetzt denkt Eddie, dass ich ihr die gegeben habe."
"Ja und?" Leon schloss seine Arme um meine Hüften. "Soll er froh sein, dass er überhaupt mal bei einer landen kann!"
"Du musst ihm sagen, dass du das warst!"
"Warum?"
"Weil ich das will", antwortete ich schlicht, daraufhin stieß Leon einen genervten Seufzer aus.
"Na schön!", knurrte er, steckte sich zwei Finger in den Mund und pfiff. "Hey Eddie! Tanz mal an!"
Eddie kam, ließ sich allerdings Zeit dabei.
"Was willst du denn noch von mir?"
"Was wohl?" Leon grinste. "Ich will dir gratulieren."
Eddie runzelte die Stirn.
"Zu deiner neuen Freundin", fügte Leon daraufhin noch hinzu.
"Welche Freundin?", fragte Eddie. Er schien kurz zu überlegen, dann ging ihm wohl ein Licht auf. "Meinst du diese Eileen?"
"Die ist doch ganz süß, oder?", meinte Leon. "Natürlich lange nicht so süß, wie mein Baby hier." Bei diesen Worten schloss Leon seine Arme noch fester um meine Hüften und küsste mich.
Eddie verdrehte die Augen. "Ich will nichts von Eileen."
"Ja, das weiß ich. Darum hab ich ihr deine Nummer auch nicht gegeben", meinte ich.
"Stimmt", sagte Leon. "Das war ich."
"Ja toll!"
"Was denn? Freu dich doch!" Ali lachte. "Vielleicht wird das ja was zwischen euch."
"Und mit ganz viel Glück kommst du dann auch mal zum Schuss", meinte Mehmet.
"Ja... mit ganz viel Glück", höhnte Manuel.
"Jetzt lasst ihn doch mal!", sagte ich, daraufhin wurde ich natürlich gleich von Manuel angeschnauzt.
"Halt du dich da raus!" Er bedachte mich mit einem strengen Blick, solange, bis ich die Augen senkte, im nächsten Moment stieß Eddie ein schmerzerfülltes Wimmern aus.
Leon begann zu lachen. "Oh Mann!"
"Soll ich noch mal?" Manuel hielt Eddies Hand fest, in einer merkwürdig schiefen Position, wo es einem vom Hinsehen allein schon wehtat.
"Nein! Bitte!"
"Bitte was?", fragte Manuel und übte noch etwas mehr Druck auf Eddies Handgelenk aus, da ging dieser direkt in die Knie.
"Bitte, hör auf!", heulte Eddie. Er sah in meine Richtung!
"Manuel, bit-"
"Du sollst dich raushalten, hab ich gesagt!", zischte Manuel abermals in meine Richtung.
"Und du sollst aufhören, meine Freundin hier so anzukacken!", mischte Leon sich nun ein.
"Sie ist meine Schwester!"
"Das heißt ja nicht, dass du sie wie Dreck behandeln darfst!"
"Was ich darf und was nicht, hast du mir nicht zu sagen!", entgegnete Manuel, gleichzeitig fing Eddie jetzt zu weinen an.
"Da heult er schon wieder!" Leon lachte. "Meine Güte!"
"Was anderes kann er ja nicht", meinte Mehmet
"Bitte! Lass mich los!", flehte Eddie. "Bitte!"
"Lass mich los! Lass mich los! Bitte, bitte, bitte!", äffte Ali ihn mit quietschender Stimme nach.
Die Jungs verfielen in lautes Gelächter. Leon begann zu husten.
Arschlöcher, dachte ich. Und biss mir auf die Unterlippe.
"Bist du sicher, dass du nichts essen möchtest?", fragte Leon mich wenige Minuten später, da standen wir in der Raucherecke, nahe der Bushaltestelle bei den Fahrradständern.
"Ich habe keinen Hunger", antwortete ich.
"Aber gefrühstückt hast du was."
"Hab ich doch gesagt!"
"Das heißt ja nicht, dass das auch so war."
"Glaub doch, was du willst!", motzte ich Leon an. "Scheiße, am besten geh ich einfach schon mal vor!"
"Als ob!", rief Leon und packte mich fest am Handgelenk, da hatte ich gerade mal einen Schritt getan. "Du wartest hier auf mich!"
"Wieso? Ich kann doch auch gehen", erwiderte ich. "Dann kannst du in Ruhe zuende rauchen. Ich hab jetzt sowieso keinen Bock mehr auf die Kacke hier!"
"Und ich hab keinen Bock, dich gleich wieder vom Boden abzukratzen, wenn die kleinen Scheißer dich drankriegen!"
"Die fassen sie nicht mehr an", meinte Manuel. "Keine Sorge." Er kramte einen Proteinriegel aus seiner Jackentasche und reichte ihn mir. "Da!"
Ich reagierte nicht.
"Jetzt nimm!" Der Ton in seiner Stimme duldete keinen Widerspruch.
Ich stieß ein frustriertes Seufzen aus, dann nahm ich den Riegel, packte ihn aus und nahm einen Bissen. Er schmeckte säuerlich-süß. Nach Milch und irgendeiner Sorte Beeren.
"Schön aufessen!"
"Was ist da drin?", fragte ich.
"Joghurt und Erdbeere."
"Schmeckt komisch."
"Heul nicht rum!"
"Ich-"
"Abbeißen!"
Ich nahm noch einen Bissen.
"Alter!" Leon machte ein erstauntes Gesicht. "Da könnt man dich ja fast schon für ihren Bruder halten!"
Manuel verzog seinen Mund zu einem schiefen Grinsen. "Fick dich!"
"Och hör!" Ali gluckste. "Ihr seid so süß zusammen!", stichelte er und wich dann gleich einem Schlag von Leon aus, als dieser mit der Faust ausholte.
"Melanie und ich gehen jetzt übrigens doch zu Billy Talent", erzählte Mehmet. "Sie hat die Karten noch bekommen."
"Cool!" Leon nahm einen ersten Zug von seiner Zigarette. "Und wann geht's los?"
"Übermorgen."
"Echt?" Leon lächelte. "Ich dachte, das ist noch länger hin."
"Kannst meinen Schlüssel haben, solange wir weg sind", meinte Mehmet. "Melanie und ich bleiben nach dem Konzert noch in Mensdorf, so bis Sonntag. Dann übernachten wir bei ihrer Cousine."
"Das klingt doch gut." Leons Hände legten sich um meine Hüften, kurz darauf spürte ich seinen Atem an meiner Halsbeuge. Er küsste mich. "Dann machen wir beide es uns gemütlich."
"Keine Details bitte!" Manuel zog eine angewiderte Grimasse.
Ich wandte mich dem Verpackungspapier in meiner Hand zu und machte mich daran, es auseinander zu knibbeln.
Das konnte ich mir ja gut vorstellen, was Leon damit meinte, wenn er sagte, dass wir es uns gemütlich machen würden! Das würde sicher wieder so eine Massage-Nummer werden und am Ende müsste ich dann-
"Alles kann, nichts muss." Leons Stimme, nun so leise, dass nur ich sie hören konnte. "Alles klar, Süße? Guck mich mal an!"
Ich tat es nicht, da schob er meinen Kopf zu sich hoch. "Wir machen nichts, was du nicht willst."
Ja, klar, dachte ich und unterdrückte ein Lachen. Sollte er das mal behaupten, so oft er wollte!
Das konnte Leon immer gut.
Reden.
Und irgendwelche Versprechungen machen!
Aber Worte waren das eine, überlegte ich und das, was ein Mensch tat, war dann auch oft genug etwas vollkommen anderes.
Leon küsste mich erneut. "Bist du jetzt gleich bereit fürs Referat?"
"Nicht wirklich", sagte ich.
"Aber unsere Sachen hast du dabei?"
"Ja", meinte ich. "Die hab ich gestern noch mal abgeschrieben."
"Das hättest du doch nicht extra machen müssen!"
"Ja... ich dachte, das wirkt vielleicht besser, wenn man Karten in-"
"Auf sowas legt Günther keinen Wert", unterbrach Leon mich. "Dem ist es nur wichtig, dass man frei redet."
"Stimmt", meinte Mehmet. "Ablesen findet er richtig kacke."
"Da hat er einigen die Karten auch schon mal weggenommen, als die noch am Vortragen waren", erzählte Leon, zog an seiner Zigarette und stieß den Rauch durch Nase und Mund aus. "Aber bei dir macht er sowas bestimmt nicht."
"Hat er schon", sagte ich.
"Echt jetzt?"
"Ja..." Ich nieste. "Das war richtig peinlich... so vor der ganzen Klasse und... ich wusste halt gar nichts mehr."
"Wenn ich bei dir bin, passiert dir das nicht", meinte Leon. "Da pass ich drauf auf."
"Das kannst du gar nicht", sagte ich.
"Doch, klar!" Leon rauchte wieder. "Ich kann dir was vorsagen, wenn du nicht weiter weißt. Und wenn jemand lacht, gibt's was auf die Fresse."
"Ja, super!", sagte ich und schaffte es dann gerade noch so, mir die Hand vors Gesicht zu halten, bevor ich abermals niesen musste.
"Tschuldigung!"
"Warum nimmst du dafür kein Taschentuch?", fragte Leon. "Das ist doch ekelig, so... Hier!" Er hielt mir eins hin, daraufhin verdrehte ich erst mal nur die Augen. Dann nahm ich das Tuch, schnäuzte hinein und warf es in den Mülleimer neben mir.
"Wow!" Leon seufzte. "Das hat's jetzt ja gebracht!"
"Lass mich doch!"
"Warum kannst du dir nicht mal vernünftig die Nase putzen?"
"Ich putz sie doch-:"
"Komm, jetzt nochmal!" Ein neues Taschentuch vor meinem Gesicht.
Ich drehte den Kopf zur Seite.
Leon folgte mir mit dem Tuch: "Los, schnaub!"
"Lass mich!"
"Schnaub!"
"Junge!" Ali kicherte. "Ist sie jetzt drei?"
"Ja, höchstens", spottete Manuel.
Leon ignorierte sie, hielt mir nur weiter das Tuch vor die Nase. "Schnaub jetzt, Süße! Komm!"
Ich zögerte noch einen Moment. Dann schnäuzte ich mich.
"Nochmal!", forderte Leon. "Tüchtig!"
Ich gehorchte.
"Und weiter!"
Ich schnäuzte mich erneut, diesmal wieder mit diesem abartigen Erbsengeräusch.
In meinem Ohr knirschte es. Dann kam erneut das Stechen.
"Alles gut?" Leon rieb mir über den Rücken. "Tut dir jetzt dein Ohr weh?"
"Was für ein Kindergarten schon wieder!" Manuel lachte.
Leon wandte sich an Mehmet. "Hast du mal ne Ibo für sie?"
"Ich brauch keine Ibo!", meinte ich.
"Wie lange hast du die Ohrenschmerzen schon?"
"Ich habe keine Ohrenschmerzen!"
Leon reichte mir eine Tablette.
Ich reagierte nicht.
"Nimmst du die jetzt selber, oder soll ich dir dabei auch noch helfen?" Er sah mich an.
Ich hielt seinem Blick einen Moment lang stand, dann nahm ich die Tablette. Legte sie mir auf die Zunge und schluckte sie herunter.
"Gib mal her!", sagte Leon. Er streckte die Hand nach Alis Cola aus. Der ließ ein gequältes Seufzen hören, dann gab er sie ihm.
Leon schwenkte die Dose leicht. Dann nahm er einen Schluck. Und reichte sie schließlich an mich weiter.
"Da! Kannst die leertrinken."
Ich sah zu Ali rüber.
"Mach ruhig!", meinte der. "Ich hol mir gleich ne neue."
"Okay..." Ich nahm einen Schluck. "Ich kann dir auch Geld dafür geben, wenn du willst."
"Lass mal stecken, Bambi!" Ali zwinkerte mir zu.
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