26. Was tust du da?

°○ Leon ○°

Nach der Schule stieg ich zwei Stationen eher aus dem Bus.
Die Luft war kalt, auf diese unangenehm feuchte Art, bei der man lieber im Haus bleiben wollte, als hier draußen, wobei ich es gerade heute wohl um einiges gemütlicher gefunden hätte, splitternackt durch den Wald zu rennen, als nach Hause zu gehen.
Richard würde ausflippen, sobald er mich auch nur einen Schritt ins Haus kommen hörte.
Er hatte ja immer schon gesagt, dass ich dumm bin und den Arsch nicht hochkriege und dass meine schlechten Noten in der Schule deswegen auch niemanden zu wundern brauchten. Trotzdem hatte es natürlich für jede schlechte Note - das konnte bei Richard je nach Laune eine fünf in einer Klassenarbeit oder auch eine drei Minus in einem Vokabeltest bedeuten - eine Tracht Prügel gegeben. Das war dann auch ein guter Grund für mich, ihm keine Tests zum Unterschreiben mehr vorzulegen, ja, das Thema Schule noch nicht mal mehr ihm gegenüber zu erwähnen. Diese Taktik - ich erzählte nichts und Richard fragte nicht - hatte auch überraschend gut funktioniert, zumindest bisher.
Bis jetzt.
Nun lagen die Dinge jedoch anders. Nun ging es nicht mehr nur um Fehltage, die es zu entschuldigen gibt, oder um irgendwelche Klassenarbeiten, die ich verhauen hatte.
Nun ging es um ein ganzes Schuljahr, das ich verplempert hatte. Wegen zu vielen Fehltagen.
Wie hatte das bloß so weit kommen können? Warum hatte ich so oft schwänzen müssen? Wie dumm konnte man denn sein?
Und wie würde Richard mich dafür büßen lassen?
Ja wohl nicht nur mit dem Gürtel.
Nein, diesmal würde er wieder weitergehen, das war klar.
Frisch gefallener Schnee knirschte unter meinen Schuhen, als ich in die Tannenstraße Richtung Kindergarten einbog. Das würde Minchen gefallen. Da will sie bestimmt wieder gerne einen Schneemann mit mir bauen, dachte ich, aber daraus wird heute wohl nichts werden.
Wenn Richard mich erst zwischen die Finger bekommen hätte, würde er mich so schnell sicher nicht mehr aus dem Haus gehen lassen. Da müsste ich schon Glück haben, um in einem unbeobachteten Moment aus dem Fenster klettern zu können. Wobei ich schon bezweifelte, dass er mich überhaupt noch aus dem Abstellraum herauslassen würde. Zumindest nicht mehr heute und wer weiß, überlegte ich, vielleicht würde ich auch Morgen noch dort festsitzen, vielleicht auch noch ein paar Tage länger. Möglich war schließlich alles.
Dass ich jetzt wieder in der neunten war, ging mir auf jeden Fall ganz gewaltig gegen den Strich, auch ohne diese düsteren Aussichten.
Was hatte ich auch so oft blau machen müssen, zum Teufel noch mal?
Jetzt konnte ich bis zum Ende meiner Schulzeit bei diesen kleinen Scheißern sitzen und mir ihr dämliches Gelaber anhören, während ich gleichzeitig aufpassen musste, dass meine Freundin sich nicht von ihnen zu Tode quälen ließ. Oder auch einfach von alleine unter die Räder kam.
Die Weihnachtsmännchen hatten sie mittlerweile von den Fensterscheiben des Kindergartens heruntergenommen. Dafür hingen da jetzt Schneemänner und Eiskristalle, welche mit Nadeln aus Papier ausgestochen worden waren.
Dann schien Minchen ja ihren Spaß gehabt zu haben, dachte ich und grinste.
Meine Schwester hasste es zu basteln - wahrscheinlich, weil sie keine Lust hatte, mit der Schere zu schneiden; wobei sie allgemein nur schwer zu irgendwelchen Angeboten zu motivieren war, bei denen man aufpassen musste.
Das war bei mir nicht anders gewesen, zumindest noch damals im Kindergarten. Da hatte ich es auch kaum geschafft, mal etwas länger als nur wenige Minuten ruhig auf dem Stuhl zu sitzen. Stattdessen hatte ich lieber mit meinen Freunden Banditen und Polizisten gespielt oder die behinderten Kinder geärgert.
Oft war ich auch schnell über den Zaun geklettert und hatte dann meinen Spaß gehabt, wenn eine der Erzieherinnen keuchend und mit vor Anstrengung geröteten Wangen hinter mir hergerannt waren, um mich wieder einzufangen. Einmal wäre ich dabei auch-
Das schrille Hupen eines Autos ließ mich jäh zusammenzucken.
Ich fuhr herum, in die Richtung, aus welcher das Geräusch gekommen war. Offenbar hatte die Fahrerin eines kleinen Opel Adam ohne zu gucken aus der Parklücke zurück gesetzt und war dabei um ein Haar gegen die rechte Seite eines silberfarbenem Ford Fokus geknallt.
Zu den Bring- und Abholzeiten war hier auf dem kleinen beengten Parkplatz grundsätzlich die Hölle los. Da war das schon ein Wunder, dass bei so einem Verkehrschaos noch keiner ernsthaft zu Schaden gekommen war - mit schief parkenden, im Stand brummenden Autos, Menschen, die es eilig hatten wegzukommen und andere, die unzählige Anläufe brauchten, bis sie überhaupt mal ein- oder ausgeparkt hatten.
Ich betrat das Gebäude und natürlich spiegelte sich das Durcheinander draußen auch hier drinnen wieder, erfüllte den Flur mit unzähligen Stimmen, teils nach schwerem Parfüm oder altem Schweiß stinkenden Körpern, sowie dem lauten Gelächter, Weinen und Brüllen von kleinen Kindern.
Unvermittelt musste ich an Maria denken. Die wäre bei dieser großen und vor allem dichten Ansammlung von Menschen sicher direkt wieder umgedreht und hätte das Weite gesucht.
Arme Süße!
Ich grinste wieder, bahnte mir einen Weg durch das Labyrinth von Menschen, wich dabei schnell zwei Jungen aus, bevor diese beim Fangenspielen gegen mich rennen konnten und betrat dann den Gruppenraum der Grashüpfer.
Hier war es deutlich leiser als auf dem Flur.
Ich schaute mich um, sah zwei etwa fünfjährige Mädchen, die am Tisch saßen und gegeneinander Memory spielten und eine Gruppe von kleineren Jungs, die in der Bauecke mit Duplosteinen spielten.
Keine Spur von einem Erwachsenen.
Und auch nicht von Minchen.
"Hey Mädchen!" Ich wandte mich an die Spielerinnen am Tisch, die wandten sich mir gleich zu, wobei die eine mir mit einem strahlenden Lächeln und die andere mit deutlichem Misstrauen begegnete.
"Wisst ihr, wo Jasmin ist?"
"Nein", sagte das lächelnde Mädchen.
"Wer bist du?", fragte die mit dem Misstrauen im Gesicht.
"Ich bin Leon, der Bruder von Jasmin."
"Du bist groß", stellte die Lächelnde fest.
Sie hatte dunkelbraune Augen und lange schwarze Haare, welche sie zu zwei ordentlich geflochtenen Zöpfen trug.
Ich erwiderte ihr Lächeln. "Das stimmt", sagte ich. "Aber früher war ich auch mal hier im Kindergarten."
"Auch im Kindergarten?", wiederholte die Lächelnde und hob ungläubig die Augenbrauen.
"Da war ich noch klein", erklärte ich und streckte dann die Hand bis in Höhe meiner Oberschenkel aus, um zu zeigen, wie klein ich war, was das Erstaunen im Gesicht des Mädchens noch verstärkte.
"Jasmin holen?", meldete sich jetzt die Misstrauische zu Wort. Die war auffallend blass mit kinnlangen roten Locken und einer bunten Brille, deren Gläser ihre hellgrünen Augen so sehr vergrößerten, dass ihr Blick nicht nur Zurückhaltung ausdrückte sondern schon fast ängstlich wirkte.
"Ja, ich hol sie heute ab", antwortete ich.
"Mama krank?"
"Deine Mama krank", sagte die Lächelnde.
"Mama weg", meinte die Misstrauische. "Doktorhaus."
"Du meinst, sie ist im Krankenhaus?", fragte ich.
Das Mädchen nickte.
"Na, das ist doch gut." Ich schenkte ihr ein Lächeln und stellte zufrieden fest, wie sie das etwas entspannte. "Dann wird sie auch schnell wieder gesund."
"Schnell wieder gesund", wiederholte die Kleine.
Ein Schrei ertönte.
Schnell ließ ich den Blick durch den Gruppenraum wandern, konnte jedoch nicht erkennen, woher dieser Laut gekommen war, der, wenn man es genau nahm, eher einem erstickten Quieken als einem Schrei geglichen hatte.
"Minchen?", rief ich.
Ich wartete, doch niemand antwortete.
Hatte sie gerade so geschrien? Oder war das jemand anderes gewesen und meine Schwester war doch schon im Flur oder vielleicht saß sie auch gerade auf dem Klo, überlegte ich, als im selben Moment ein weiteres Quieken ertönte.
"Minchen?", rief ich wieder. "Wo bist du?"
Und warum war hier kein Betreuer bei den Kindern? War das überhaupt erlaubt?
"Ist Jasmin hier irgendwo?" Nun richtete sich meine Frage an alle Kinder im Raum.
"Kusselecke." Eine Stimme hinter mir. Ich wandte mich um und sah einen der Jungen aus der Bauecke.
Er war winzig, vielleicht mal knapp einen Meter groß und erinnerte mich mit seinen großen Augen und den zerzausten braunen Haaren stark an diese Glubschi-Tiere, mit denen Minchen immer so gerne spielte.
"Pielen." Der Junge zeigte hoch zur Empore an der hinteren Seite des Raums, zu welcher eine Treppe hinführte; diese war sowohl unten als auch oben mit einem hölzernen Babyschutz abgesichert.
Ich lief hin, zog daran und stellte fest, dass das Schiebeschloss nicht mehr eingerastet war. Dann bestieg ich die Treppe und zog das obere Gitter zur Seite, auch hier saß der Riegel lose.
"Minchen?"
Stille.
Ich sah mich um. Lief dann einmal um die Sofaecke herum, zu einem abgelegenen Winkel des Zimmers. Und fand schließlich meine Schwester.
"Was tust du da?"
Jasmin beachtete mich nicht, saß rittlings auf einem kleinen Mädchen, während sie diese mit dem Gesicht voran in ein Kissen drückte.
"Hey!", versuchte ich erneut ihre Aufmerksamkeit auf mich zu lenken, packte sie dann, als sie abermals nicht reagierte, am Arm, zerrte sie von dem Mädchen herunter und zwang sie, mich anzusehen.
"Sag mal, spinnst du?"
"Leon lass mich!" Jasmin begann sich in meinem Griff zu winden.
"Was machst du da mit ihr?", fragte ich weiter, während das kleine Mädchen jetzt in heftiges Schluchzen ausbrach und Jasmin laut zu singen begann.
"Heule-Heule-Heu-"
"Jasmin!"
"le! Baby-Rumge-"
"Hör auf damit!", schimpfte ich, da ging diese direkt dazu über nach der Kleinen am Boden zu treten.
"Es reicht jetzt!" Ich zog meine Schwester von dem Mädchen weg.
"Leon lass!" Minchen schrie jetzt. "Will kloppen!"
"Du bleibst weg von ihr!" Ich sah meine Schwester an. Die erwiderte meinen Blick und einen Moment lang schien es tatsächlich so, als würde sie auf mich hören. Dann machte sie wieder einen Satz in Richtung des Mädchens.
Ich riss sie zurück und stieß sie gleich darauf zu Boden, etwas heftiger als beabsichtigt. Darüber schien Minchen nun ehrlich überrascht zu sein, glotzte mich einen Moment lang mit ungläubig großen Augen an. Und brach dann ebenfalls in Tränen aus.
"Daran bist du jetzt selber schuld!", meinte ich, musterte meine Schwester noch etwas, drehte ihr dann den Rücken zu und wandte mich schließlich an das Mädchen in der Ecke.
"Alles gut?" Ich kniete mich vor sie hin.
Das Mädchen antwortete nicht, hielt den Kopf fest in den Händen verborgen und weinte.
"Tut dir irgendetwas weh?" Ich begann ihr über die Arme zu streicheln. "Komm, schau mich mal an!"
Das Mädchen zögerte erst, dann kam sie meiner Aufforderung nach.
Sie sah schlimm aus. Ihr Gesicht war rot angelaufen, die Augen vor Panik geweitet.
"Tut dir was weh?", fragte ich wieder.
Das Mädchen schüttelte den Kopf.
"Wie heißt du denn noch mal?"
"Emma."
"Emma", wiederholte ich. "Stimmt. Das ist auch ein schöner Name." Ich lächelte.
Sie erwiderte es nicht, senkte nur den Blick und wischte sich mit den Händen durchs Gesicht.
"Wie alt bist du?"
"Drei." Emma schniefte.
"Und wann hast du Geburtstag?"
"Weiß nicht."
Behutsam schob ich wieder ihren Kopf zu mir hoch. "Wir können ja gleich mal zusammen auf den Kalender gucken."
"Kalendar gucken", echote Emma.
"Aber zuerst hörst du jetzt mal auf zu weinen, okay?" Ich zog ein Taschentuch hervor, schlug es auf und wischte der Kleinen damit das Gesicht ab. "Schaffst du das?"
Emma nickte, weinte jedoch gleichzeitig weiter.
"Komm mal her!", sagte ich, setzte mich hin und zog Emma auf meinen Schoß. "Ist doch alles gut!" Ich nahm sie in den Arm. "Dir tut jetzt keiner mehr was."
"Jamin hauen."
"Habt ihr euch gestritten?"
"Ja, wegen Puppe."
Ich wandte mich zu Minchen um. "Was meint sie damit?"
"Emma hat Puppe genehmt!"
"Welche Puppe?"
"Da." Minchen deutete neben mich, zog dann geräuschvoll die Nase hoch und fuhr sich mit den Händen durchs Gesicht. Im Weiterheulen sah sie wohl keinen Sinn mehr, wo ihr dafür das Publikum fehlte.
Ich folgte dem Wink meiner Schwester, blickte zu meiner Linken und entdeckte die Puppe, um die das ganze Theater sich hier wohl zu drehen schien.
"Darum habt ihr beiden euch gestritten?", fragte ich.
"Emma hat meine Puppe genehmt.", sagte meine Schwester.
"Stimmt doch gar nicht!", entgegnete Emma. "
"Stimmt wohl!"
"Nein!"
"Doch!", brüllte Minchen.
"Schluss jetzt!", ging ich dazwischen.
"Aber Emma nimmt immer alles weg!"
"Ja und? Das ist noch lange kein Grund, sie mit dem Gesicht ins Kissen zu drücken!"
"Und hauen!", schluchzte Emma.
"Oder zu hauen", ergänzte ich und wischte Emma wieder die Tränen weg.
"Emma doofe Kack-"
"Jetzt hör doch mal auf!", fiel ich meiner Schwester ins Wort. "Wie redest du denn?"
"Ich-"
"Nein!", rief ich. "Du gehst jetzt nach unten, ziehst dir deine Draußensachen an und dann wartest du auf mich! Haben wir uns verstanden?" Ich sah Minchen an. Die sah immer noch so aus, als wollte sie was sagen, so dringend, dass es schon fast aus ihr herausplatzte. Dann stieß sie ein wütendes Knurren aus und stürmte nach unten.
"So." Ich rieb Emma über den Rücken. "Und du beruhigst dich jetzt, okay?"
"Okay", weinte Emma.
"Lass uns mal runtergehen!", meinte ich, stand auf und machte Anstalten mit Emma auf dem Arm zur Treppe zu laufen, da begann die Kleine sich jäh an einem der Holzlatten des Geländers festzuklammern.
"Nicht runter!"
"Doch, komm!", sagte ich. "Dann gehen wir auch gleich zum Kalender."
"Kalendar."
"Und da gucken wir nach, wann dein Geburtstag ist."
"Burtstag."
"Genau. Dann lass jetzt mal los!"
"Nicht los!"
"Aber wir wollen doch runter, jetzt."
"Will nicht runter!"
"Warum willst du nicht runter?", fragte ich.
"Jamin hauen."
"Die tut dir nichts mehr."
"Immer hauen", sagte Emma. "Sachen haben."
"Darüber red ich noch mal mit ihr", versprach ich, löste behutsam den Klammergriff ihrer kleinen Hand vom Geländer und lief schließlich mit ihr die Treppe herunter zurück in den Gruppenraum. "Ihr könnt euch ja abwechseln mit den Spielsachen."
"Jamin nicht wechseln."
"Oder ihr spielt zusammen", schlug ich vor und blieb dann vor dem bunt bemalten und mit Glitzerpulver bestreuten Wandkalender hinter dem Betreuertisch stehen.
"So..." Grob überflog ich die einzelnen Fotos auf den Monatsblättern und fand auch schnell jenes, wonach ich suchte.
"Guck!" Ich tippte mit dem Finger auf den Monat Februar, da klebte das Foto von Emma, das schien noch ziemlich aktuell zu sein. "Das bist du!"
"Emma."
"Du hast am dreiundzwanzigsten Februar Geburtstag", meinte ich und lächelte sie an. "Das ist ja gar nicht mehr so lange hin."
"Nicht mehr lange." Emma nieste.
"Was machst du da mit meiner Schwester?"
Überrascht wandte ich mich zur Tür.
Da stand Adrian, in den Händen eine kleine blaue Jacke und Schuhe haltend.
"Adran!", rief Emma.
"Deine Schwester?" Ich musterte Adrian, sah dann wieder Emma an und schaute schließlich zurück in das Gesicht von dem kleinen Scheißer in der Tür.
"Das ist ja witzig!" Ich grinste.
Tatsächlich, wenn man darauf achtete, fielen einem die Ähnlichkeiten schon auf.
Die gleiche Haarfarbe, trübes hellbraun, so wie die Augen und darunter bei beiden diese komischen Münder, bei welchen die Oberlippe jeweils nur ein dünner Strich war, die Unterlippe hingegen immer etwas geschwollen wirkte.
"Ich wusste gar nicht, dass du Geschwister hast!"
"Jetzt weißt du es", sagte Adrian und verdrehte die Augen, dem schien das Ganze gerade wohl ziemlich unangenehm zu sein.
Schämte er sich für seine Schwester? Bei dem Gedanken begann ich noch breiter zu grinsen, lief, immer noch mit Emma auf dem Arm, auf Adrian zu und blieb bis auf wenige Meter vor ihm stehen, auf Höhe eines Ecktisches, auf dem stand neben einem Krug aus Plastik, welcher noch etwa einen Fingerbreit Apfelschorle enthielt und einer kleinen Ansammlung schmutziger Gläser auch ein Körbchen mit sauberen Papiertaschentüchern.
"Dann scheinen deine Eltern ja wenigstens beim zweiten Versuch keine Missgeburt gezeugt zu haben", meinte ich, nahm eins der Tücher, schlug es auseinander und hielt es der Kleinen vor die Nase.
"Los, schnaub mal eben!"
Emma tat es.
"Und weiter, komm!", forderte ich sie auf, da schnäuzte Emma sich erneut.
"Genauso! Immer schön raus mit dem Dreck!" Ich warf Adrian ein hämisches Grinsen zu, der senkte verlegen den Blick, während Emma noch einmal hörbar Luft holte und schließlich noch eine letzte Ladung Rotz ins Taschentuch blies.
"Leon, komm!" Minchen drängte sich an Adrian vorbei durch die Tür und rannte auf mich zu. "Spielplatz gehen!"
"Zuerst haben wir hier noch was zu klären", meinte ich und nickte zu Emma, die verbarg den Kopf jetzt in meiner Brust, so fest diesmal, das man schon meinen könnte, sie wollte dort hinein kriechen.
"Will nicht klären mit Baby!", motzte Jasmin.
"Ist das deine Schwester?", fragte Adrian
Ich ignorierte ihn. "Wenn du dich nicht entschuldigst, gibt's auch keinen Spielplatz."
"Will aber Spielplatz!"
"Dann sag Entschuldigung zu Emma!"
"Entschuldigung wofür?", fragte Adrian.
Ich stellte Emma wieder auf die Füße, dann hockte ich mich neben sie.
"Ich warte." Mit hochgezogenen Brauen sah ich meine Schwester an, die weigerte sich noch einen Moment, dann seufzte sie, trat noch einige Schritte auf Emma zu und hielt ihr die Hand hin, diese ergriff sie nach einigem Zögern.
"Tschuldung Emma!"
"Und wofür entschuldigst du dich?"
Minchen verdrehte die Augen.
"Was hast du gemacht?", fragte ich weiter.
"Hab gehauen.", antwortete Minchen. "Und geärgert."
"Und was noch?"
Erneutes Zögern, dann kam die nächste Antwort, fast leiser als ein Flüstern: "Kopf gedrückt."
"Und?", fragte ich, fasste sie am Kopf und drückte ihn zu mir hoch. "Machst du das noch mal?"
"Nein."
"Sag's zu ihr!" Ich nickte zu Emma.
Meine Schwester schlug die Augen nieder, dann seufzte sie. "Ich mach das nicht noch mal."
"Bist du jetzt lieb zu ihr?"
"Ja", antwortete Minchen.
"Schwörst du es?" Ich hielt ihr den kleinen Finger hin.
Minchen zögerte. Dann streckte sie ihrerseits den kleinen Finger aus und hakte ihn bei mir ein.
"Ich schwör."
"Gut." Ich nickte zufrieden, daraufhin wandte ich mich wieder an Emma. "Dann geh mal jetzt zu deinem Bruder, Kleine!"
Emma kam meiner Aufforderung nach, lief zu Adrian und wollte ihn umarmen, doch der drückte ihr nur ihre Sachen in die Hand und kam auf mich zu. "Erfahr ich jetzt auch mal, was hier los war?" Er funkelte mich böse an, das brachte mich wieder zum Grinsen.
"Die beiden haben sich gestritten", erklärte ich schulterzuckend. "Und dabei hat meine Schwester es ein bisschen übertrieben." Ich hob Jasmin auf meinen Arm, daraufhin drückte die mir gleich einen Kuss auf die Wange. "Aber das haben wir jetzt ja geklärt, also alles gut."
"Ja genau!" Adrian stieß ein humorloses Lachen aus. "Und Morgen geht das kleine Biest dann wieder auf meine Schwester los."
"Pass mal besser auf, was du sagst!", warnte ich ihn.
"Wieso? Es-", wollte Adrian gerade entgegnen, da wurde er von Judith unterbrochen, die hatte gerade den Gruppenraum betreten.
"Na ihr beiden?" Sie lächelte. "Habt ihr das schöne Wetter mitgebracht?"
"Hallo", sagten Adrian und ich gleichzeitig.
"Deine Oma hat mir schon erzählt, dass du Emma heute abholen kommst", meinte Judith.
"Genau... die muss heute zum Arzt und... solange muss ich dann auf Emma aufpassen", erzählte Adrian, als ob er tatsächlich meinte, das interessierte jemanden.
"Na, das ist doch lieb von dir, dass du das machst." Judith lächelte wieder. "Dann macht euch mal einen schönen Nachmittag zusammen! Bei dem tollen Wetter könntest du ja auch gut mit Emma zum Spielplatz gehen."
"Ja... mal gucken", meinte Adrian und packte gleichzeitig Emma am Arm, die hatte sich inzwischen ihre Hausschuhe ausgezogen und war in ihre Winterstiefel geschlüpft, während sie ihre hellblaue Steppjacke immer noch wie einen nutzlosen Lappen in der Hand hielt. "Wir müssen dann jetzt auch, also... bis dann! Komm!" Er begann seine Schwester am Arm mit sich zu ziehen, der fiel dabei einer ihrer Hausschuhe aus der Hand.
"Adran warten!"
"Kannst du nicht mal aufpassen?"
"Willst du ihr nicht eben die Jacke anziehen, bevor ihr raus geht?", fragte Judith.
"Und ihre Schnürsenkel sind auch noch auf", sagte ich und unterdrückte ein Glucksen, als Adrian meinen Kommentar mit einem weiteren finsteren Blick quittierte.
"Ich hätte heute auch gerne noch mit deiner Mutter gesprochen." Judiths Hand auf meiner Schulter. "Schade, dass sie in letzter Zeit gar nicht mehr vorbei kommt." Sie seufzte. "Oder dein Vater", setzte sie dann noch hinzu.
"Ja..." Ich räusperte mich. "Die haben im Moment viel zu tun... mit der Tankstelle und so."
"Verstehe."
"Da kann ich das besser erst mal machen mit dem Bringen und Abholen", erklärte ich weiter. "Oder Manuel. Das liegt für uns ja auf dem Weg."
"Stimmt, ja" Judith schien einen Moment lang zu überlegen. "Am besten ruf ich dann einfach noch mal bei euch Zuhause an... oder bei deinem Vater in der Firma."
"Na ja... wie gesagt... die haben halt viel zu tun, gerade, also... ich kann denen ja auch gerne was ausrichten."
"Das ist lieb von dir, dass du das anbietest", meinte Judith. "Aber diese Angelegenheit bespreche ich wohl lieber direkt mit euren Eltern."
"Okay", sagte ich, ließ Jasmin wieder auf den Boden runter und zog ihr den Reißverschluss ihrer Jacke zu und warf dann einen schnellen Blick zur Tür. Adrian und Emma waren nicht mehr da.
Ich räusperte mich wieder. "Geht's dabei denn um etwas schlimmes? Also, ich meine... hat meine Schwester sich irgendwie schlecht benommen oder..."
"Na ja... Jasmins Verhalten hat sich schon stark verändert in letzter Zeit, vor allem, seit sie mit deiner Mutter im Frauenhaus gewesen ist."
"Ja... das kann gut sein", meinte ich. "Wo Manuel jetzt zu uns gezogen ist... und ich bin ja nun auch viel mit meiner Freundin unterwegs, da muss Jasmin sich erst noch dran gewöhnen", erklärte ich weiter, aber da könnte ich wohl reden, soviel wie ich wollte. Letztendlich würde Judith doch wieder bei meinen Eltern anrufen - diesmal höchstwahrscheinlich sogar gleich bei Richard in der Werkstatt, überlegte ich und allein bei dem Gedanken daran, wie er auf so ein Gespräch reagieren würde, lief es mir eiskalt den Rücken hinunter.
"Was machst du eigentlich immer für'n Blödsinn?", fragte ich Minchen, als wir kurze Zeit später aus dem Kindergarten heraus über den Parkplatz liefen. "Kannst du nicht mal lieb sein?"
"Ich bin lieb", sagte Minchen.
"Das bist du ja eben nicht!"
"Doch."
"Was hat Judith mir denn erzählt?"
Minchen schwieg.
"Was tust du immer, wenn du böse bist?", fragte ich weiter, als ich an der Bushaltestelle stehen blieb und mir eine Zigarette anzündete.
Minchen wich meinem Blick aus, beschäftigte sich stattdessen mit einer angeschlagenen Bierflasche am Boden, welche sie mit den Schuhen hin- und herschob.
"Kinder ärgern. Und kloppen", antwortete sie dann endlich.
"Und was machst du noch?"
"Schreien."
"Was sonst noch?"
Erneutes Zögern, gefolgt von einem hörbaren Seufzen. "Sachen kaputt."
"Und gehört sich sowas alles?"
Minchen schüttelte den Kopf.
"Warum tust du das dann?"
Keine Antwort.
"Weißt du, was passiert, wenn Judith bei uns zuhause anruft?"
"Papa wird böse."
"Der wird ausrasten", meinte ich. Ja schon alleine wegen der Sache mit mir, fügte ich in Gedanken noch hinzu.
"Da sitzen wir jetzt ganz schön in der Scheiße."
"Wann ruft Judith an?", fragte Minchen.
"Keine Ahnung", antwortete ich. "Vielleicht ja schon heute."
"Gehen wir zu Mehmet?"
"Ja... das-"
"Hey Arschloch!"
"Redest du mit mir?" Ich drehte mich um und sah Adrian, der kam gerade aus Richtung des Kindergartens auf uns zugelaufen, seine Schwester mehrere Meter hinter ihm, die hatte sichtlich Mühe, mit ihm Schritt zu halten.
"Mit wem soll ich denn wohl sonst reden?"
"Was willst du?", fragte ich und seufzte. "Sind wir nicht mal fertig für heute?"
"Für heute bestimmt", sagte Adrian und blieb vor uns stehen, woraufhin ich Minchen gleich am Arm packte, bevor diese einen Satz auf ihn zumachen konnte. "Aber ich warne dich."
"Bitte was?" Ich lachte. "Du warnst mich?"
"Seh zu, dass die Kackbratze da-"
"Wie nennst du meine Schwester?"
"Ich kann ihr auch noch ganz andere Namen geben, wenn ich das so will!"
"Du willst ja auch ganz schön viel, wenn der Tag lang ist!"
"Ja und?" Adrian grinste. "Vielleicht will ich demnächst auch mal wieder was nettes mit deiner Freundin machen", stichelte er weiter, schob sich dann den Zeigefinger in den Mund und begann mit der Zunge daran herum zu spielen.
Ich machte einen Schritt auf ihn zu, schob gleichzeitig Minchen hinter mich, die war jetzt auch der einzige Grund, der mich davon abhielt, diesem Wichser hier direkt einen in die Fresse zu schlagen. Und Emma natürlich genauso. Was konnte die Kleine auch dafür, dass sie so einen Assi zum Bruder hatte?
"Du machst gar nichts mit meiner Freundin!"
"Und was ist, wenn doch?"
"Das weißt du."
"Wirst du mir dann wieder die Finger brechen?"
"Wenn du nicht aufpasst, dann brech ich dir demnächst noch was ganz anderes!"
"Leon, können-"
"Nicht jetzt, Minchen!"
"Aber-"
"Nein!"
Adrian grinste. "Vielleicht solltest du ihr mal ein paar Manieren beibringen."
"Kümmer du dich mal besser um deine eigene Schwester!", sagte ich. "Damit hast du schon genug zu tun!"
"Emma hat es wenigstens nicht nötig, andere Kinder zusammen zu kloppen."
"Kloppen!", echote Minchen.
"Sei still jetzt!", zischte ich.
"Wundert mich aber auch nicht, dass die so ist", meinte Adrian. "Bei so einem Bruder wie dir lernt man das ja wohl nicht anders."
"Ja genau!" Ich lachte. "Das musst du gerade sagen! Bist ja auch selber so ein geiles Vorbild!"
"Auf jeden Fall ein besseres als du."
"Im Gegensatz zu dir drehe ich wenigstens keine dreckigen Filmchen und stell sie dann ins Netz!"
"Ich habe gar nichts ins Netz gestellt!"
"Ja, aber auch nur, weil Julia dir zuvor gekommen ist", meinte ich. "Früher oder später hättest du das Video bestimmt noch irgendwo hochgeladen."
"Und warum hätte ich das tun sollen?" Adrian lachte. "Wer will sich so ne hässliche Vogelscheuche denn-"
Weiter kam er nicht, da schoss meine Hand schon vor und packte ihn am Kiefer, während er im selben Augenblick hart mit dem Rücken gegen die Wand des Haltestellenhäuschens knallte.
"Ich hab dir schon tausendmal gesagt, dass du Maria nicht so nennen sollst, du Pisser!"
"Ja und? Interessiert mich einen-" Der Rest des Satzes ging in schmerzvolles Wimmern über, als ich meinen Griff um Adrians Kiefer noch verstärkte.
"Wenn ich noch einmal mitkriegen sollte, dass du schlecht über Maria redest, dann passiert was! Das kann ich dir versprechen! Dann hau ich dich so zusammen, dass du anschließend durch den Mund scheißen kannst!", sagte ich, ganz nah an seinem Ohr, so leise, dass nur wir beide es hören konnten, zumindest hoffte ich das.
Adrian schwieg.
Ich starrte ihn an. Noch einen Moment lang, bis ich mir sicher war, dass meine Botschaft angekommen war. Dann ließ ich ihn los. Verpasste ihm noch zwei leichte Patscher auf die Wange. Und blickte dann zu Emma, die stand wenige Meter von uns entfernt und verbarg sich halb hinter einer Eiche, die Augen vor Angst weit aufgerissen.
"Komm mal her, Kleine!", rief ich, daraufhin drückte sie sich nur noch enger in ihr Versteck.
Ich hockte mich hin und winkte sie zu mir rüber. "Na komm!"
Wieder zögerte Emma, dann kam sie langsam auf mich zu.
"Ich hab dir wohl gerade ein bisschen Angst gemacht. Kann das sein?"
Sie antwortete nicht, fing stattdessen nun wieder an zu schluchzen.
"Willst du noch mal auf den Arm?" Sanft nahm ich Emma an die Hand und zog sie noch näher zu mir. Dann hob ich sie hoch. "Ist doch alles gut!" Ich begann Emma über den Rücken zu streicheln. "Kannst du mir noch mal sagen, wann dein Geburtstag ist?"
"Febua."
"Richtig, im Februar ist der", meinte ich und strich ihr eine Haarsträhne hinters Ohr. "Und weißt du auch noch, an welchem Tag?"
Emma schniefte. "Deiunzanzigsta."
"Am Dreiundzwanzigsten, stimmt." Ich lächelte sie an. "Das hast du dir ja toll gemerkt!"

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