23. Ich bin bei dir

°○ Maria ○°

"Schreib!", sagte Vater.
Ich saß am Küchentisch, die Augen wie festgetackert auf das Heft vor mir gerichtet, den Füller in der Hand.
Wartete. Noch einen Moment. Und begann dann zu schreiben:
Ich werde lieb sein.
In der nächsten Reihe dasselbe:
Ich werde lieb sein.
Und weiter:
Ich werde lieb sein.
Ich werde lieb sein.
Blaue Tinte auf weißem Papier:
Ich werde lieb sein.
Ich werde lieb sein.
Und immer weiter, Zeile für Zeile.
Ich werde lieb sein.
Ich werde lieb sein.
Ich werde lieb sein.
So wollte Vater es haben, so wollte er es immer haben:
Ich werde lieb sein.
Ich werde lieb sein.
Ich wer-
Der Füller kratzte über das Papier. Keine Tinte mehr.
Ich hob ihn an den Mund, hauchte ihn an, dann setzte ich ihn wieder auf.
Nichts.
Das durfte nicht sein!
Warum gerade jetzt, verdammt, dachte ich und spürte schon gleich, wie Vater ungeduldig wurde.
Ich begann zu schwitzen. "Es tut mir leid."
"Schreib!", sagte Vater.
"Es geht nicht.", antwortete ich.
"Schreib!", sagte Vater wieder, daraufhin tat ich es einfach, setzte den Füller aufs Papier und drückte auf.
Ein jäher Schmerz in meinem Arm. Ich hatte mich geschnitten und das nicht gerade leicht.
Wie war das passiert?
"Die Sätze.", meldete sich Vater wieder zu Wort, da versuchte ich es gleich noch mal. Setzte den Füller aufs Papier. Und drückte.
"Au!"
"Schreib!", sagte Vater erneut.
"Aber... ich kann nicht."
"Schreib!"
"Bitte..." Tränen begannen an meinen Wangen herab zu laufen. "Es tut so weh!", flehte ich, doch Vater war unerbittlich, also drückte ich abermals fest mit dem Füller aufs Papier, solange bis die Tinte floss - erst noch blau, doch bald schon rot, so wie das Blut an meinen Armen:
Ich werde lieb sein.
Was hatte ich für eine Wahl?
Vater wollte es so:
Ich werde lieb sein.
Ich werde lieb sein.
Er wollte es so. Eine ganze Seite voll davon; und zwar noch eher jetzt als gleich.
Also machte ich weiter, drückte die Feder aufs Papier und schrieb:
Ich werde lieb sein.
Ich werde lieb sein.
Ich-
schlug die Augen auf.
Über mir eine weiße Decke, vor mir ein Fernseher und darüber ein Batman-Poster.
Jetzt erinnerte ich mich wieder. Ich war bei Mehmet und -
"Hey..." Finger die über meine Wange strichen. "Hast du wieder schlecht geträumt?"
"Nein." Ich drehte mich zur Wand, nahm den Zipfel der Bettdecke, wischte mir damit die Tränen vom Gesicht und spürte gleichzeitig, wie Leon näher an mich heranrückte und seinen Arm um mich legte.
"Du hast im Schlaf geredet", flüsterte er, strich mir die Haare zur Seite und hauchte mir dann einen Kuss in den Nacken. "Dir hat wohl irgendwas weh getan. Und dann war da noch immer dieser Satz: Ich werde lieb sein. Den hast du ganz oft gesagt." Leon rieb mir über den Arm. "Willst du mir vielleicht erzählen, wovon du geträumt hast?"
Ich schwieg, nahm stattdessen erneut die Decke und rieb mir damit jetzt durchs Gesicht - so fest, dass es kratzte.
"Süße?" Wieder ein Kuss.
"Lass mich... Bitte..." Ich wand mich in Leons Armen, doch der dachte gar nicht daran, mich loszulassen, zog mich stattdessen nur noch enger an sich.
"Was ist denn los?", fragte er.
"Nichts", sagte ich.
"Und warum weinst du dann?"
Fingerspitzen, die mir sanft über den Kopf fuhren.
"Hast du wieder Bauchschmerzen?"
"Nein."
"Sonst kann ich dir auch einen Tee machen", meinte Leon.
Ich antwortete nicht.
"Warte mal eben." Ein dritter Kuss. "Bin gleich wieder da", sagte Leon, stand auf und lief aus dem Zimmer.
Ich blieb liegen, verkroch mich noch tiefer in die Decke. Heulte. Und wusste selber nicht warum. Aber ich konnte nicht anders.
War es wegen dem Traum, überlegte ich? Oder einfach, weil alles gerade scheiße war bei mir?
Genau das war es wohl. Es war einfach zu viel. Die ganzen Dinge, die in letzter Zeit passiert waren. Die alles verändert hatten. Und ich allein war Schuld daran.
Ich vermisste Vater. Ich wollte zu ihm. Ich wollte ihn lächeln sehen. Die Wärme seiner Umarmung spüren. Wollte seine Stimme hören, wenn er sagte, dass ich das Wichtigste für ihn war. Aber dazu würde es nicht kommen. Nie mehr wieder.
Vater war tot. Er hatte sich umgebracht. Weil ich ihn dazu getrieben hatte.
Ich hatte ihn verraten. Ich hatte meinem eigenen Vater der Polizei auf den Hals gehetzt.
Ich hatte ihn allein gelassen.
Und jetzt musste ich damit leben, dachte ich, drückte das Gesicht ins Kopfkissen und schluchzte, so heftig, dass es mich schüttelte.
Das konnte doch alles nicht sein! Irgendwas stimmte doch nicht mit mir!
Wie hatte ich diese ganzen Dinge nur geschehen lassen können? Weshalb hatte ich nicht einfach den Mund gehalten? Wieso musste ich immer so ein verdammtes Baby sein?
Andere Menschen schafften es doch auch, ihre Probleme mit sich selbst auszumachen! Es sich nicht anmerken zu lassen, wenn es ihnen mal schlecht ging. So wie Leon. Der lachte dann einfach drüber und machte einen auf cool. Warum-
"Süße...", unterbrach Leons Stimme meine Gedanken. "So geht das doch nicht." Er legte eine Hand auf meinen Rücken. Streichelte mich etwas. Und zog mir dann die Decke vom Kopf. "Komm, setz dich mal auf!"
"Lass mich!", sagte ich und wollte mich dann wieder unter der Decke verstecken, doch Leon hinderte mich daran, nahm sie mir weg und zog mich dann hoch.
"Was soll das denn?", heulte ich. "Lass mich doch einfach in Ruhe!"
"Hier, trink das mal! Da sind Baldriantropfen drin." Leon hielt mir ein Glas mit ein bisschen Wasser darin hin, da drehte ich den Kopf schnell zur Seite.
"Ich will jetzt kein Baldrian!"
"Bladrian!", sagte Jasmin.
Zum Teufel noch eins, konnte die nicht mal ein bisschen länger schlafen?
"Morgen Minchen!", begrüßte Leon seine Schwester. "Na, hast du gut geschlafen?"
"Ja." Jasmin gähnte.
"Oder bist du noch müde?"
"Nein." Jasmin und setzte sich auf. "Darf ich Nutella haben?"
"Gleich." Leon gab ihr einen Kuss. "Jetzt muss ich mich erst mal um Maria kümmern."
"Musst du nicht", meinte ich.
"Mach ich aber", sagte Leon und hielt mir dann wieder das Glas hin. "Komm, trink!"
"Ich brauch das nicht."
"Schaden tut es aber auch nicht."
Leon führte mir das Glas an die Lippen. "Komm jetzt, Mund auf!"
Einen Moment lang zögerte ich noch, dann kam ich seiner Aufforderung nach und ließ es zu, dass er mir das bitter schmeckende Wasser einflößte.
"Und schlucken!"
Ich tat es, dann verzog ich das Gesicht.
Leon grinste. "Komm, so schlimm ist das jetzt doch nicht!", meinte er, beugte sich zur Seite, zog ein Taschentuch aus der Box rechts auf dem Ecktisch und reichte es mir.
"Danke." Ich nahm es und wischte mir damit die Tränen vom Gesicht.
"Wovon hast du denn jetzt geträumt?", fragte Leon und begann mir über den Rücken zu streicheln. "Erzähl mal!"
"Weiß nicht mehr genau", log ich.
"Kam dein Vater darin vor?"
Ich antwortete nicht.
"Hat er dir wehgetan oder-"
"Nein!" Ich räusperte mich. "Das war anders."
"Wie?", fragte Leon.
Ich zögerte. "Ich musste so ne Strafarbeit machen und dann immer so einen Satz schreiben."
"Ich werde lieb sein?"
"Ja."
"Und was ist dann passiert?"
"Dann hat das irgendwie in meine Arme geschnitten."
"Was denn?"
"Keine Ahnung", meinte ich und fuhr mit der Spitze meines Zeigefingers über meinen Arm, auf Höhe der Pulsadern, wo sich im Traum die Wunde gebildet hatte. "Da kam dann Blut raus und... ja, damit hab ich dann geschrieben."
"Echt?"
"Das kam so aus dem Füller."
"Mit Blut geschreibt", sagte Jasmin.
"Ja, das hat Maria geträumt", erklärte Leon ihr.
"Das war ein böser Traum", meinte Jasmin.
"Genau." Leon küsste sie wieder. "Einen Alptraum nennt man das."
"Altraum", sagte Jasmin.
"Wollen wir gleich mal was frühstücken?"
"Ich hab keinen Hunger."
"Ein bisschen was solltest du aber trotzdem essen", meinte Leon. "Wenigstens einen Joghurt oder-"
"Nein, bitte!"
"Tu mir bitte den Gefallen!" Leons Hände legten sich auf meine. "Du hast heute einen heftigen Tag vor dir, Süße. Das schaffst du nicht auf leeren Magen."

°○°

Leon machte mir einen Teller fertig, mit zwei Nutellabroten, einer Banane und einem Joghurt.
Die Brote bekam ich nicht runter.
Um spätestens ein Uhr Mittags sollten wir fertig sein. Dann würde Susanne uns abholen. In fünfzehn Minuten.
"Ich schaff das nicht", sagte ich, betrachtete mich im Spiegel und wunderte mich, wie fremd ich jetzt aussah, so ganz in schwarz gekleidet - sowohl die Hose, der Pullover, die Jacke als auch die Stiefeletten; sogar das Stirnband in meinen Haaren war schwarz - und senkte dann den Blick.
"Ich bin bei dir", versprach Leon und trat hinter mich. "Die ganze Zeit." Er nahm mich in den Arm, musterte jetzt ebenfalls mein Spiegelbild. Und lächelte. "Du siehst hübsch aus. Schwarz steht dir."
"Ja, toll!", meinte ich und verdrehte die Augen. "Danke."
"Willst noch mal ein bisschen Baldrian?"
Ich schüttelte den Kopf.
"Oder einen Wodka?"
"Nein."
"Rum?"
"Als ob das jetzt helfen würde!"
"Ja, es betäubt dich."
"Ich bin so schon betäubt genug."
Das war ich gestern schon gewesen. Da war Susanne zu mir ins Zimmer gekommen und hatte mir die Klamotten für die Beerdigung gebracht. Und hatte mich noch mal gefragt, ob ich jetzt wirklich hingehen wollte.
"Natürlich will ich hingehen", hatte ich geantwortet. Daraufhin hatte Susanne gemeint, dass es auch okay wäre, wenn ich Nein sagen würde. Wenn ich sagen würde, dass das zu viel für mich wäre. Und darauf hatte ich erwidert, dass ich es für meinen Vater tun wollte.
Dieser Art Gespräche hatte es mehrere gegeben, seit dem Zeitpunkt, an dem der Termin für die Beerdigung festgelegt worden war. Und ich hatte sie gehasst. Ich hatte nicht daran denken wollen. Hatte mich ablenken wollen. Aber das war kaum möglich gewesen.
Vielleicht hätte es geholfen, wenn die Ferien zu dieser Zeit schon vorbei gewesen und ich jeden Tag mit der Sorge um irgendwelche Referate oder unangekünfigte Tests beschäftigt gewesen wäre. Oder meinetwegen auch mit meinen Mitschülern und der Frage, wie ich es in ihrer Gegenwart aushalten sollte, ohne irgendwann komplett durchzudrehen.
Der Stress in der Wohngruppe hatte mich nicht auf andere Gedanken bringen können. Eileen, die es sich vorgestern herausgenommen hatte, solange abgängig zu sein, bis sie schließlich um zwei Uhr nachts von David in Rufbereitschaft ganz vom Bahnhof in Bremfeld abgeholt werden musste. Daniel, der sein Zimmer demoliert hatte, weil ihm sein Fernseher herausgenommen worden war. Oder Luca, der einfach grundsätzlich wegen jeder Kleinigkeit ausrasten konnte, vor allem während der Mahlzeiten, wobei er dann auch gerne auch mal mit Geschirr um sich warf.
Diese ganze Aufregung immer, der Gedanke, dass jederzeit etwas schlimmes passieren könnte, hatten mich zusammen mit dem Gedanken an die bevorstehende Beerdigung überhaupt nicht mehr zur Ruhe kommen lassen.
Aus diesem Grund hatte Susanne mir auch erlaubt, gestern mit Leon und Jasmin zusammen in Mehmets Wohnung zu übernachten. Natürlich hatte mich das gefreut. Auch wenn es gleichzeitig auch komisch war, denn der Streit wegen meiner neuen Haarfarbe war zwischen Leon und mir immer noch spürbar. Das merkte ich jedes Mal, wenn er mich ansah. Da war dann immer so ein Bedauern in seinen Augen. Darüber, dass ich mit den roten Haaren jetzt noch hässlicher für ihn war, als sowieso schon. Ich wusste genau, dass er mich lieber wieder mit braunen Haaren hätte. Mit langen brauen Haaren, um genau zu sein, also so, wie ich sie an Silvester noch hatte. Bevor ich sie mir abgeschnitten hatte.
Das war eine spontane Entscheidung gewesen. Ich hatte eine Veränderung gewollt. Eine möglichst krasse. Möglichst weit weg von dem, was vorher war. Das Färben war der nächste Schritt gewesen. Weg von dem braven Braun hin zum "Ihr könnt mich mal alle!"- Rot.
War das jetzt hübsch?
Sicher nicht.
Aber darum war es mir auch nicht gegangen.
Hübsch war ich sowieso nicht. Da könnt ich machen was ich wollte. Mir die Haare blond färben oder Locken reindrehen. Ganz egal.
Vogelscheuche bleibt Vogelscheuche, so war das eben.

°○°

"... geboren 1969 in Klein-Schendere, besuchte er die dort ansässige Grundschule, wo er sich damals schon als intelligent und fleißig hervortat, so dass er bereits nach drei Jahren an die Joseph-van-Eichendorff-Schule in Barneken wechseln..."
Der Raum war hell. Und viel zu groß für die wenigen Menschen, die darin saßen. Richard und Manuel in der hinteren Reihe, Leon und Susanne jeweils rechts und links von mir. Ich hatte nicht gewusst, wer alles kommt. Hatte noch nicht mal gewusst, ob ich kommen würde. Ob ich es schaffen würde. Und das wusste ich jetzt auch noch nicht.
Sie hatten den Raum mit roten Rosen geschmückt. Dazwischen standen ein paar weiße Kerzen auf schmalen Messingständern.
Trauerkränze gab es auch.
Zwei Stück. Beide schlicht mit Tannengrün sowie einer bunten Sammlung kleiner Blumen daran. Und Schleifen, auf denen Sprüche standen.

Ein letzter Gruß zum Abschied -
Dein Kollegium aus der Hans- Christian-Andersen-Schule

In Liebe -
Maria

In Liebe.
Ein kurzer Satz, aber er sagte alles. Darum hatte ich ihn auch ausgesucht.
Ich hatte meinen Vater geliebt. Ich würde ihn für immer lieben. Daran konnte auch sein Tod nichts ändern.
Wieder sah ich mir das Bild an, welches mittig in einer Ansammlung von Rosen und Kerzen auf einem kleinen Tisch aufgestellt war.
Vater schaute ernst darauf, fast schon verkniffen.
Anklagend.
"Dann wird kommen, was kommt..."
Ein kalter Schauder kroch über meinen Rücken. Gleichzeitig schien sich mein Brustkorb zusammen zu ziehen.
"Wenn du jemandem davon erzählst..."
Ich biss mir auf die Unterlippe, so fest, bis es wehtat.
"Willst du daran Schuld sein?"
Er blickte mich an. Blickte in mich hinein. Und wie immer, wenn Vater das tat, immer dann, wenn wir darüber sprachen, wusste ich, dass er es gefunden hatte. Den kleinen Teil in mir, der es verraten wollte. Unser Geheinmis. Alles, was er mit mir machte. Der Teil in mir, der es nicht mehr ertragen konnte.
"... lernte er Lydia Schmitz kennen, seine künftige Lebensgefährtin und Mutter seiner Kinder"
Mama, dachte ich und spätestens in diesem Moment konnte ich es nicht mehr verhindern. Tränen, die mir in die Augen stiegen und kurz darauf an meinen Wangen hinunter zu laufen begannen.
Ich ließ es geschehen. Spürte, wie Leon seinen Arm um mich legte. Susanne, die mir die Hand drückte. "Lass mich!" Ich entzog sie ihr. Zwinkerte. Las dann erneut den Spruch:
In Liebe.
Schwarze Schrift auf weißem Band.
Schlicht und frei von Schnörkeln. So wollte Vater es haben.
Die Blumen.
Die Kerzen.
Das Bild.
Daneben der Sarg.
"Seine Familie war ihm das Wichtigste. Mit ihnen verbachte er die meiste Zeit.", fuhr die Frau vorne am Rednerpult fort. "Doch auch für seine Arbeit nutzte er viel davon. Das kam vor allem seinen Schülern zugute."
Ich sah Leon an, der schien meinen Blick zu bemerken, wich ihm jedoch aus. Er sah heute ganz besonders schick aus in seinem tiefschwarzen Hemd, dazu trug er eine farblich passenden Jeans und einfache Schnürschuhe, natürlich blank geputzt.
Ich lehnte meinen Kopf an Leons Schulter, daraufhin begann er mir über den Rücken zu streicheln.
"Tut mir leid.", schluchzte ich. "Ich will hier jetzt gar nicht-"
"Ist doch gut, Süße." Leon gab mir einen Kuss auf die Schläfe. "Weine ruhig ein bisschen. Dann geht's dir gleich besser", flüsterte er.
"Vielleicht will ich das ja gar nicht." Ich schniefte.

°○ Leon ○°

"Süße..." Ich seufzte. "Jetzt fang doch nicht schon wieder so an."
"Was denn?", sagte Maria. "So denk ich das eben!"
"Dann denkst du das falsch."
"Ich kann denken, was ich will!"
"Ja, aber-" Kühle Finger packten mich am Nacken, drückten zu.
"Bist du jetzt wohl still?"
"Ja..." Ich schluckte. "Tut mir leid."
"Das wird es noch", meinte Richard von seinem Platz hinter mir, so leise, dass nur ich ihn hören konnte. Zumindest hoffte ich das. Maria hatte so schon genug Stress im Moment.
Da sollte sie sich nicht auch noch die Schuld daran geben, dass Richard mich hier lang machte.
Als wir die Trauerhalle verließen, hatte Schneeregen eingesetzt. Das passte natürlich zum Anlass, dachte ich und schlang mir den Schal noch einmal mehr um den Hals, bevor ich Maria wieder an die Hand nahm, die hielt den Blick fest zu Boden gerichtet, wirkte dabei mehr denn je wie eine Puppe.
Starr.
Wie leblos.
Fast schon unheimlich.
"Kommst du klar?"
Keine Reaktion.
"Maria?" Ich zog sie leicht am Arm.
"Was willst du denn?", fragte sie gereizt. Bestimmt hatte ich sie gerade in ihren Gedanken gestört.
"Ich wollt nur wissen, ob alles gut ist bei dir."
"Natürlich ist alles gut!" Maria stieß ein freudloses Lachen aus.
"Was glaubst du denn?"
Ich verdrehte die Augen. "Tut mir leid, dass ich gefragt habe."
"Ja, schön!" Maria entriss mir ihre Hand.
"Bist du jetzt-"
"Lass mich einfach!", unterbrach sie mich und begann dann schneller zu laufen, musste jedoch nach wenigen Schritten schon wieder abbremsen, sonst wäre sie wohl direkt in den Sarg hineingelaufen, welcher nur wenige Meter vor uns über den breiten Mittelgang des Friedhofs getragen wurde.
An der Grabstelle angekommen, wurde der Sarg in die dafür vorgesehene Grube hinunter gelassen.
Wir stellten uns im Halbkreis davor auf, dann ging das Gesülze weiter:
Herr über Leben und Tod... bla, bla, Ewigkeit, Liebe und Frieden... bla, Auferstehung von Jesus Christus...
Bla, bla, bla und wer's dann glaubt, wird selig.
"Was für ein Schwachsinn!", flüsterte Manuel mir von meiner rechten zu, auch der schien nicht allzu viel für das Thema Gott und Beten und sowas übrig zu haben.
Ich zuckte die Achseln. "Hättest ja nicht kommen brauchen."
"Wäre ich auch nicht", meinte Manuel. "Ich bin nur für Maria hier."
"Wohl eher, weil Richard dich mit hergeschleppt hat", sagte ich. "Sonst kümmerst du dich doch auch einen Scheiß um deine Schwester."
"Das meinst du, ja?"
"Wieso? Es stimmt doch auch."
"Genau..." Manuel stieß ein bitteres Lachen aus. "Sei mal froh, dass wir hier an einem heiligen Ort sind, sonst hätt ich dir spätestens jetzt die Fresse eingeschlagen, für den ganzen Scheiß, den du immer von dir gibst."
"Mach doch!", sagte ich. "Ich weiß eh nicht, was an so einem Acker hier heilig sein soll."
Sowieso dieser ganze Religions-Schwachsinn von wegen Leben nach dem Tod, dachte ich, nahm mir ein Taschentuch und schnäuzte mich. Das war doch lächerlich!
Wer tot war, war tot. Da kam nichts mehr.
"Magst du mit Maria nach vorne gehen?", fragte Susanne mich, die links von Maria stand.
"Warum nach vorne?", fragte ich zurück.
"Ihr müsst da Erde reinschippen. Jeder eine Schaufel voll. Und Maria wirft dann noch ihre Rose hinterher."
"Okay..."
"Und danach bleibt ihr dann noch einen Moment lang so stehen, zum Abschiednehmen."
"Alles klar", meinte ich. So etwas albernes! Als ob ich mich hier verabschieden müsste, von diesem Pädoschwein! Sollte der doch in der Hölle verrotten, wo er hingehörte!
Aber hier ging es jetzt nicht um mich.
"Komm, Süße!" Ich nahm Maria an die Hand. Gleichzeitig als wir zum Grabloch liefen, kam Wind auf. Na super, dachte ich und kniff die Augen zusammen, um sie vor den dagegen prasselnden Regentropfen zu schützen.
Ich musterte Maria, die hielt den Blick weiterhin zu Boden gerichtet. "Willst du zuerst?"
Maria schüttelte den Kopf.
"Gut", sagte ich, nahm mir die Schaufel, nahm damit etwas Erde aus dem Zinkeimer auf, welcher neben der mit grünem Filzteppich umrahmten Grube stand und warf es hinunter auf den Sarg.
Viel Spaß da unten, du Ficker!
Ich gab die Schaufel an Maria weiter, auch die schippte daraufhin Erde auf den Sarg.
"Jetzt die Rose!", wies ich sie an.
Maria reagierte nicht, schien auf einmal wieder wie erstarrt.
Ich legte einen Arm um sie. "Komm!"
Maria starrte weiterhin den Sarg an.
"Komm Süße!", sagte ich wieder. "Einfach nur runterwerfen!"
"Ich kann das nicht", entgegnete Maria, so leise, dass ich sie kaum verstehen konnte. "Tut mir leid." Sie begann zu weinen.
"Ist doch gut", meinte ich und gab ihr einen Kuss. "Komm, ich helf dir mal."
Behutsam nahm ich Marias Hand, in welcher sie die Rose hielt. Führte sie über die Grube. Und löste die Blume schließlich aus ihrem Griff.
"Alles gut!" Erneut küsste ich Maria. "Komm mit!" Ich führte sie weg vom Grab, hielt sie dabei fest im Arm und stellte mich mit ihr zurück zu den anderen.
"Das war jetzt gerade sehr schwer für dich, Liebes", sagte Susanne zu ihr. "Das weiß ich." Sie strich Maria über die Schulter, welche jetzt hemmungslos schluchzend in meinen Armen lag. "Aber du hast das gut gemacht."

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