21. Guck dir das an!
°○ Eduard ○°
Wie lange war es her, seit dem ich Maria das letzte Mal gesehen hatte? Eine Woche? Oder nur ein paar Tage? Ich wusste es nicht, aber es fühlte sich auf jeden Fall so an, als wäre seit unserem letzten Spaziergang eine Ewigkeit verstrichen.
Arme Maria.
Wie sollte ich ihr jetzt gleich gegenüber treten?
Es war viel passiert in ihrem Leben, das war mir klar, genauso wie dass ich da allenfalls nur einen Bruchteil von wusste. Eigentlich wusste ich gar nichts darüber. Warum war ihr Vater gestorben?
Dürfte ich sie das fragen? Oder wäre das schon zu viel für sie?
Ich wollte ihr nicht weh tun. Aber ich wollte ihr auch beistehen. Dafür müsste ich doch schon etwas wissen, dachte ich und drückte auf die Klingel rechts neben dem Eingang der Wohngruppe.
Maria wäre sicher nicht gerade begeistert darüber, dass ich sie jetzt hier so direkt vor der Tür abholte. Aber so langsam sah ich es auch nicht mehr ein!
Was musste sie denn aus mir so ein Geheimnis machen? Als ob ich irgend so eine Affäre wäre, die man vor allen anderen verstecken musste! Und gleichzeitig behauptete sie dann immer noch, es sei nichts zwischen uns!
Nee, überhaupt nicht! Das merkte ich wohl!
Eine Frau näherte sich der Tür, warf einen kurzen Blick auf mich und öffnete sie dann.
"Hallo?" Ein Lächeln zog sich über ihr rundes Gesicht. Sie war hübsch, wenn auch bei weitem nicht so schön wie Maria, schätzungsweise um die zwanzig mit rot gefärbten langen Haaren und ganz in Schwarz gekleidet.
"Wer bist denn du?"
"Hallo, ich, ähm... bin Eduard und... ja... ich wollt Maria besuchen... also abholen."
"So?"
"Ja... wir-"
"Wollten nur ein bisschen spazieren gehen", beendete Maria meinen Satz für mich, die kam gerade aus dem hinteren Teil des Flurs angelaufen.
"Wow... Maria!" Verblüfft riss ich die Augen auf. "Was-"
"Gehen wir?", fiel Maria mir abermals ins Wort, dann wandte sie sich an die Rothaarige. "Ich bin zum Abendessen zurück, versprochen."
"Ist er das?" Ein anderes Mädchen kam an die Tür, etwa im selben Alter wie Maria. Auch sie trug gefärbte Haare, wobei jenes Schwarz gegen Marias grellen Rotton noch deutlich dezenter wirkte. Wobei dezent jetzt auch nicht wirklich das erste Wort war, das ich mit diesem Mädchen in Verbindung brachte. Unheimlich traf es da schon eher.
"Ja... das ist er", meinte Maria und es war ihr deutlich anzumerken, wie unangenehm ihr das Auftauchen des Mädchens war. "Also... Eddie
... das ist Eileen. Die wohnt hier auch und, Eileen... das ist Eddie."
"Eddie!" Das Mädchen grinste breit. "Ist das ein Spitzname für Edward?"
"Nee... eigentlich heiße ich Eduard", erklärte ich verlegen.
"Okay... das ist auch ein hübscher Name", meinte Eileen. "Aber du siehst schon aus wie ein Edward. Ich meine den Vampir aus Twilight. Kennst du den?"
"Ähm... nee?", meinte ich.
"Also... ja, die Töpfe hab ich auch schon sauber und alles", nahm Maria wieder das Gespräch mit der Betreuerin auf. "Dürfen wir jetzt gehen?"
"Hast du dein Zimmer aufgeräumt?"
"Ja."
"Und das Badezimmer?"
Maria zögerte. "Das kann ich auch noch putzen."
"Und wann?", wollte die Betreuerin wissen.
Wieder schien Maria erst über ihre Antwort nachdenken zu müssen. "Heute Abend?", fragte sie dann.
"Heute Abend ist gut", antwortete die Betreuerin. "Spätestens bis zur Zimmerzeit."
"Ja... das mach ich. Versprochen."
Kaum, dass die Haustür hinter uns geschlossen wurde, fiel Maria schon über mich her: "Sag mal, spinnst du?"
"Was denn?", fragte ich, wusste aber natürlich genau, worauf sie hinauswollte.
"Jetzt guck nicht so unschuldig!", fuhr Maria mich an. "Ich hab dir doch gesagt, du sollst gegenüber auf mich warten!"
"Ja...", meinte ich. "Und ich hab geklingelt. Ist das jetzt so schlimm?"
"Ja!"
"Und warum?"
"Na ja... es... ist halt nur wegen den anderen. Die reden so ja schon genug über mich... Dass ich ne Schlampe bin und... da will ich denen jetzt nicht noch mehr Gründe für geben."
"Okay... das verstehe ich", sagte ich. "Du bist aber keine Schlampe."
Wir liefen ein Stück die Straße herunter, vorbei am Blumenladen Dehden und dem kleinen asiatischen Restaurant an der Ecke König-Frank-Allee/ Tannenstraße.
Als wir an der Bäckerei Brotkorb vorbeikamen, überlegte ich einen Moment lang, ob Maria und ich uns nicht für eine Weile dort hineinsetzen sollten, verwarf den Gedanken dann aber sofort wieder.
In so einer Backstube wäre bei diesem Temperaturen, welche gerade deutlich unterm Gefrierpunkt lagen, bestimmt noch deutlich mehr als die Hölle los.
Das wäre dann wohl kaum der geeignete Ort für ein Gespräch, besonders, wenn es um erstere Themen ging.
Maria mochte es nicht unter so vielen Menschen zu sein und das ganze dann noch auf engen Raum. Nein, da würde ich wohl kaum einen Pieps von ihr herausbekommen, wenn ich sie etwas fragte.
"Du hast noch gar nichts zu meinen Haaren gesagt", durchbrach Maria das Schweigen.
"Ja, die sehen gut aus", sagte ich. "Ist mal was anderes."
"Also gefällt's dir nicht."
"Doch, klar!"
"Nein, ich weiß schon, das" Maria seufzte. "War halt so ne spontane Sache. Da hab ich einfach ne Schere genommen und... ja..."
Ich warf Maria einen erstaunten Blick zu. "Du hast dir das selber so geschnitten?"
"Ja."
"Wann?"
"Nach Silvester so. Da war mir irgendwie nach." Maria zuckte die Achseln. "Hätte ich aber besser mal lassen sollen."
"Was meint Leon denn dazu?" Jetzt grinste ich.
"Der hat gar nichts wirklich dazu gesagt. Aber begeistert war er wohl nicht."
Ja, das konnte ich mir vorstellen, dachte ich und grinste wieder.
"Findest du das jetzt lustig?"
"Nein!", sagte ich schnell. "Ich freu mich nur für dich."
"Wieso?"
"Du hast was gemacht, was Leon nicht gefällt."
"Ja toll!" Maria schnaubte.
"Was denn? Das ist doch gut", meinte ich. "Soll er mal sehen, dass nicht immer alles nach ihm geht!"
"Tut's doch gar nicht", erwiderte Maria.
"Natürlich tut es das!", sagte ich.
"Nein!" Jetzt klang Maria beleidigt. War ja klar, dachte ich. Die Wahrheit wollte sie ja noch nie hören. Vor allem, wenn es dabei um ihren heiß geliebten Leon ging.
"An Silvester ist er auch extra für mich zuhause geblieben, ich meine... in Mehmets Wohnung, als es mir nicht so gut ging."
"Was hattest du denn?"
"Ich weiß auch nicht. Irgendwie Bauchschmerzen und... ja... keine Ahnung. Und eigentlich wollten wir an dem Abend ja noch weiter ins Zoney."
"Du meinst, er wollte dahin."
"Ja... er und seine Freunde. Und dann kam halt Manuel mit seiner Schwester, also... das ist jetzt ja auch seine Schwester, ich meine, Manuels und... ja, dann ist Leon mit mir und Jasmin in der Wohnung geblieben und die anderen sind dann ohne uns los."
"Wie nett von ihm!" Ich lachte. "Dir ist aber schon klar, dass Leon das nur wegen seiner Schwester gemacht hat, oder?"
"Nein! Auch wegen mir... hat er gesagt", antwortete Maria, klang dabei aber nicht mal halb so überzeugt, wie sie es wohl gerne von ihrer eigenen Lüge gewesen wäre.
"Hör doch auf, dir was vorzumachen! Wenn seine Minchen nicht da gewesen wäre, dann hätte Leon dich locker unterm Arm geklemmt und mit geschleppt. Ob jetzt ins Zoney, oder sonst wo hin, wo er Lust drauf gehabt hätte! Das weißt du genauso gut wie ich!"
"Das stimmt nicht!", zischte Maria. "Du hast doch gar keine Ahnung!"
"Ich kenne ihn lang genug."
"Leon fragt mich immer, wie es mir geht. Und wenn's mir nicht gut geht, dann-"
"Ist ihm das scheißegal!"
"Nein!" Nun schrie Maria. "Das ist ganz anders!"
"Wie denn?", fragte ich, nun ebenfalls gereizt. "Wie ist es denn? Macht er einen auf Prinz und steckt dich in die Badewanne um dir den Rücken zu schrubben, oder was?"
"Nein! Aber er macht mir dann immer Tee und... ne Wärmflasche und... dann fragt er auch immer ganz viel und... kümmert sich so, halt... ich find das ja manchmal auch schon nervig, wenn er sich immer so Sorgen um mich macht."
Ich schwieg. Das glaubte Maria doch selbst nicht! Dass Leon sich um sie Sorgen machte! Oder um überhaupt jemanden. Außer um seine Schwester natürlich. Die war wohl noch die einzige Person ausgenommen von sich selber, die ihm tatsächlich was bedeutete.
"Du weißt gar nichts über Leon", sagte Maria.
"Was soll das heißen, ich weiß nichts über ihn?", fragte ich. "Wie lang kenne ich ihn denn wohl schon?"
"Das hat doch nichts zu sagen!"
"Leon und ich waren früher die besten Freunde!"
"Ja, aber-"
"Jeden Tag haben wir zusammen verbracht! Wir wussten alles voneinander! Da gab's nichts zwischen uns, was wir uns nicht erzählt hätten! Also erzähl mir mal nicht, dass ich nichts über ihn weiß!", sagte ich. "Ich weiß mehr als genug über ihn! Vor allem weiß ich, dass er ein Arschloch ist!"
"Und warum warst du dann früher mit ihm befreundet, wenn du meinst, dass er ein Arschloch ist?"
"Ja, das... kam ja nicht von heute auf Morgen", erklärte ich. "Früher, da... war er auch schon immer so nach dem Motto: Hier bin ich, guckt mal, wie geil ich bin. Aber da war das halt noch anders, irgendwie... Da konnte man auch mal normal mit ihm reden, ohne dass er seine Show abgezogen hat. Vor allem, wenn wir alleine waren. Da konnte er auch mal ganz nett sein. Aber da wollte er halt auch immer irgendwas."
"Was denn, zum Beispiel?"
"Ja... keine Ahnung. Hauptsächlich so Süßigkeiten oder... er hat sich auch oft was ausgeliehen. Spielsachen oder Klamotten", erzählte ich. "Und ganz oft wollte er auch gar nicht mehr nach Hause gehen. Dann hat er bei uns mitgegessen oder er lag einfach in meinem Zimmer auf dem Bett und hat irgendwelche Comics gelesen, bis meine Mutter ihn dann nach Hause geschickt hat." Ich zuckte mit den Schultern. "Die mochte ihn sowieso nie gerne bei uns im Haus haben. "
"Warum nicht?", fragte Maria.
"Ja... weil er halt immer irgendwie Dreck mit reingebracht hat. Und außerdem hat er auch noch oft meine Sachen kaputt gemacht, auch die, die er sich ausgeliehen hat."
"Und du denkst, das hat er mit Absicht getan?"
"Ich weiß, dass er es mit Absicht getan hat", sagte ich. "Leon wollte immer alles haben, was ich hatte. Und wenn er es nicht mehr wollte, dann sollte es auch kein anderer mehr haben. So war das schon immer bei ihm."
"Das glaub ich nicht."
"Ja, wie auch immer!" Ich verdrehte genervt die Augen. "Glaub doch was du willst! Du wirst schon noch sehen, was du davon hast."
"Du tust immer so, als wäre ich blöd."
"Ich hab nie gesagt, dass du blöd bist", entgegnete ich. "Du willst nur nicht wahrhaben, auf was für einen Menschen du dich da wirklich eingelassen hast. Deswegen zeig ich dir jetzt mal was." Mit diesen Worten nahm ich mein Handy aus der Tasche meiner Jacke und entsperrte das Display.
"Was willst du mir zeigen?", wollte Maria wissen.
Ohne ihr zu antworten, rief ich meine Galerie auf, scrollte etwas durch die Bilder und gab das Handy dann an sie weiter. "Guck dir das an!"
Maria tat es.
Dann zuckte sie die Achseln.
"Ein Auto, wo der Seitenspiegel ab ist. Toll!" Sie sah mich an. "Was soll mir das jetzt sagen? War Leon das?"
"Ich hab noch mehr Fotos gemacht."
"Okay..." Maria wischte übers Display. Einmal, zweimal. Dann noch einmal.
"Warte mal!" Ihre Augen verengten sich. "Das kann doch nicht sein!" Sie wischte wieder zurück.
"Ist das nicht das Auto von meinem Vater?", fragte sie, dann wischte sie wieder in die andere Richtung. "Ich meine... das ist doch auch unsere Auffahrt, oder-" Sie stockte. "Was steht denn da?" Ohne eine Antwort von mir abzuwarten, vergrößerte sie das Foto auf dem Display.
Dann las sie das Wort.
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