°○ Maria ○°
Ich hasste Silvester, fast genauso sehr wie meinen Geburtstag.
Keine Ahnung, warum das so war. Vielleicht lag es daran, dass mich diese Tage schon immer eher traurig gemacht haben, während sie andere in Partystimmung versetzten.
Die anderen normalen Menschen.
Die nutzten jeden Anlass zum Feiern.
Da standen die erst mal ewiglang vorm Spiegel, um sich dort schichtweise Farbe ins Gesicht und irgendwelche klebrigen Pasten in die Haare zu kleistern. Und wenn sie damit fertig waren, investierten sie noch mal mindestens genauso viel Zeit darin, ihren Kleiderschrank zu durchwühlen auf der Suche nach dem perfekten Outfit, mit dem Sie später auf der Party dann alle Blicke auf sich ziehen konnten. Mit dem sie vorgeben konnten, jemand zu sein, der sie nicht waren. Und mit dem sie die Erwartungen der anderen erfüllen konnten, die sich sowieso für nichts anderes interessierten, als dafür, möglichst viel Alkohol in sich hineinzukippen, ohne es direkt wieder auszukotzen.
Leon war gestern noch mit mir im BEZ gewesen, hatte mich diesmal nicht nur durchs Wendy's gescheucht, sondern auch noch durch so ziemlich alle Abteilungen von Bel Endroit.
Das Ergebnis unserer Shoppingtour war beachtlich. Zum einen hatte er mir drei neue Jeans gekauft, eine davon grau und weit hochgeschnitten, die anderen blau und eher schlicht, jedoch alle so eng, dass ich dafür schon gar keinen Gürtel mehr gebraucht hätte, wobei Leon mir aber trotzdem gleich zwei ausgesucht hatte - einen in dunklem Grau, der andere in Schwarz.
Oberteile hatte ich noch mehr bekommen. Sechs Stück, um genau zu sein - davon drei Tshirts in dunkelblau, schwarz und rot sowie Pullover, zwei davon eng tailliert in blau und orange, der dritte grau und etwas weiter geschnitten, auch oben rum, so dass er die Schultern freiließ.
Auch einen Minirock hatte ich bekommen, schwarz und hauteng, dazu farblich passende Highheels und einen neuen Wintermantel, ähnlich dem dunkelblauen, welchen Leon mir letztens erst geschenkt hatte, nur deutlich auffälliger in einem knalligen Rot.
In dem Teil hatte ich noch am ehsten das Gefühl, verkleidet zu sein. Aber Leon war begeistert gewesen, als er mich darin gesehen hatte, was hatte ich da also sagen sollen?
Es klingelte.
Wie spät war es denn schon, überlegte ich, während ich den nun schon dritten Versuch unternahm, mir einen geraden Lidstrich über den Wimpernkranz zu setzen.
Ich konnte doch unmöglich schon seit über einer Stunde hier im Bad zugebracht haben?
"Maria!", schallte Leas Stimme durchs Haus. "Dein Freund ist da!"
Ich reagierte nicht, musterte stattdessen eingehend meine Augen im Spiegel und nickte dann zufrieden. Jetzt passte alles.
Die schwarz umrandeten Augen, deren Lider ich in einem hellen Sandton grundiert und in deren Falten noch etwas dunkelbraune Farbe drüber gemalt hatte.
Dazu himbeerrot angemalte Lippen, wobei ich mir mit dem Lippenstift auch ein wenig Farbe auf die Wangen getupft und dort verrieben hatte.
Ja, da hätte Leon jetzt wohl mal nichts zu meckern; immerhin hatte ich jetzt das gesamte Sortiment an Kriegsbemalung, mit dem er mein Fach im Badezimmer bestückt hatte, sowohl im Gesicht, als auch in den Haaren sitzen.
"Maria?" Ein Klopfen an der Tür. "Bist du immer noch im Bad?"
"Ja, ich komm gleich!", sagte ich, zog mir das Haarband vom Kopf, machte mir einen Zopf, drehte ihn ein und steckte ihn mir dann als einfachen Dutt mit einer silbernen Krallenspange am Kopf fest.
Noch ein letzter Blick in den Spiegel.
Ja, schön war immer noch was anderes. Aber hatte ja auch keiner behauptet, dass Schminke Wunder bewirken konnte. Zumindest nicht so große, wie es bei jemandem wie mir nötig gewesen wäre, dachte ich, streckte meinem Spiegelbild die Zunge entgegen und wandte mich dann davon ab.
Für mich selber machte ich diesen ganzen Karneval ja sowieso nicht mit. Nein, das tat ich nur für die anderen. Wer weiß, überlegte ich, als ich gerade die Tür öffnen wollte, dann innehielt und noch einmal zum Spiegel zurückkehrte, vielleicht hatte Leon ja recht.
Vielleicht müsste ich mich ja wirklich immer nur gut genug aufdonnern und dann würde niemand mehr Vogelscheuche zu mir sagen.
Ja, so einfach stellte Leon sich das vor, dachte ich und stieß ein bitteres Lachen aus, während ich mir noch an beiden Seiten meines Gesichts ein paar dünne Strähnen ins Gesicht zupfte. Der hatte doch keine Ahnung!
"Leon wartet in deinem Zimmer auf dich.", meinte Eileen, als ich dann einige Zeit später aus dem Badezimmer kam.
Ich hatte mir absichtlich Zeit gelassen, noch mal meinen Dutt gelöst und neu eingedreht, etwas mehr dunkelbraunen Lidschatten aufgetragen, den Kajalstrich deutlicher nachgezogen und an den Rädern verwischt, um meinem Aussehen eine noch finsterere Wirkung zu verleihen.
Sollte Leon sich mal bloß nicht beschweren, dass ich hier so lange brauchte! War jetzt ja nicht so, als ob mir das hier Spaß machen würde. Das tat ich alles nur für ihn! Da konnte er also ruhig noch etwas warten, bis ich soweit war.
Mal gucken, vielleicht gefiel mir ja auch gleich etwas an meinem Outfit nicht und ich müsste noch einmal den gesamten Kleiderschrank durchprobieren, bis ich die passenden Teile gefunden hätte, überlegte ich und durchquerte den Flur in Richtung meines Zimmers gefolgt von Eileens Blick, welcher sich mir wie Eiszapfen in den Rücken bohrte.
"Wow!", entfuhr es Leon, sobald er von seinem Handy zu mir aufblickte, nachdem ich mein Zimmer betreten und die Tür entgegen meiner sonstigen Angewohnheit, jene mit Hilfe der Klinke sanft zu schließen, stattdessen mit einem lauten Klicken hinter mir ins Schloss fallen gelassen hatte.
"Hi", sagte ich nur, ging an meinen Rucksack neben dem Schreibtisch und verstaute darin neben meiner Zahnbürste erst mal alles von dem, was ich mir heute sowohl ins Gesicht als auch in die Haare geklatscht hatte, nur für den Fall, dass ich da noch mal etwas nacharbeiten müsste.
"Du siehst ja hammermäßig aus!" Leon saß auf meinem Bett, die Füße weit von sich gestreckt und an den Knöcheln überkreuzt. "Dann hat sich das Warten ja gelohnt", fügte er noch hinzu und ich musste mich gar nicht erst zu ihm umdrehen, um dieses schelmische Grinsen vor mir zu sehen, welches Leon immer dann zur Schau trug, wenn er gerade ganz besonders zufrieden mit sich war.
"Ich bin noch nicht zum Aufräumen gekommen", meinte ich, noch eher, um das Thema zu wechseln, als mich für das Chaos bestehend aus drei sperrigen mit Klamotten und sonstigen Dingen aus meinem alten Zimmer gefüllten Kartons zu entschuldigen, die Alex mir erst heute hierher gebracht hatte.
"Wenn du willst, helf ich dir dabei. Sowas ist ja schnell gemacht." Leons Stimme dicht neben mir. Er fasste mich an den Armen, zog mich zu sich hoch und in seine Arme, bevor er mir dann einen sanften Kuss auf die Lippen hauchte.
"Ich mach das schon", sagte ich und drehte den Kopf zur Seite, bevor Leon mich ein zweites Mal küssen konnte. "Das eilt ja nicht."
"Ja... wie gesagt. Wir können das auch gerne zusammen machen", meinte Leon, fasste mir mit der Hand an mein Kinn, drehte meinen Kopf wieder in seine Richtung und musterte mich noch einmal eingehend.
"Hat Eileen dir das gemacht? Oder diese andere... Laura?"
"Nein", antwortete ich. "Das war ich selber."
"Echt?" Leon lächelte. "Das sieht richtig gut aus." Er küsste mich erneut und blickte dann zu meinem Rucksack. "Hast du denn soweit alles?"
Ich nickte.
"Gut." Ein weiterer Kuss. "Dann können wir los, oder?"
"Ich muss mich vorher noch abmelden."
°○°
Im Wohnzimmer waren Lea, Alex und Luca damit beschäftigt, Luftballons aufzublasen und alles mit Luftschlangen, Girlanden und kleinen bunten Laternen zu schmücken.
Im Gegensatz zu mir war es Eileen und Luca nicht erlaubt worden, Silvester außerhalb der Wohngruppe zu feiern, da sie es keine zwei Wochen am Stück geschafft hatten, abends pünktlich zur Zimmerzeit wieder im Haus zu sein. Außer ihnen blieb auch noch Daniel da, der schien gar kein Interesse zu haben, zum Feiern sein Zimmer zu verlassen, war aber dafür mit seinen Online-Freunden zum Zocken verabredet. Ricarda und Laura waren heute Nachmittag beide fortgefahren, Ricarda zu ihren Eltern und Laura zu ihrer Freundin, die in Ravemundt wohnte.
"Das sieht gut aus", meinte ich, nachdem ich beiden Betreuern einen Moment lang dabei zugesehen hatte, wie sie den Raum für die anstehende Silvesterparty herrichteten, ohne dass diese mich dabei bemerkt hatten.
"Wir geben unser Bestes", meinte Lea, als sie sich mir von den dreien als erste zuwandte.
"Meine Güte, Maria!" Lea verzog das Gesicht zu einem breiten Lächeln, verknotete noch schnell den roten Luftballon in ihrem Schoß, stand dann auf und zog mich in eine feste Umarmung. "Lass dich mal ansehen!", rief sie, so laut, als würde ich einige Meter weit von ihr weg stehen und nicht direkt neben ihr. "Wie hübsch du bist!" Ich spürte ihre langen schwarz lackierten Fingernägel, als sie meinen Kopf am Kinn zu sich hoch hob, um mich genauer ansehen zu können.
"In Sachen Make-Up kann dir wohl so schnell keiner was vormachen."
"Vielleicht hat Eileen ihr das ja auch gemacht", warf Luca ein, während er sich gerade einen neuen Luftballon zum Aufpusten aus der Tüte zog.
"Nein, das war sie selber", sagte Leon, der war direkt hinter mir ins Wohnzimmer geschlüpft und reichte Alex, der auf der Trittleiter stand, die silberfarbene Girlande zum Aufhängen an. Diese verkündete in großen Lettern "Frohes Neues Jahr!" - ein Spruch, welcher mir unvermittelt einen Stich ins Herz versetzte.
Schnell wandte ich den Blick davon ab. "Wir wollten dann jetzt los."
"Hast du denn auch alles dabei?", wollte Alex wissen. "Zahnbürste? Schlafsachen?"
"Nuckelflasche? Schmusedeckchen?", ergänzte Luca und grinste.
"Sehr witzig!", meinte Lea und warf ihm einen tadelnden Blick zu.
"Ich hab alles, was ich brauche", sagte ich und vermied es dabei Luca anzusehen, dessen hämischer Blick immer noch auf mir ruhte.
"Was ist mit deinem Handy?", fragte Alex weiter.
Ich zog es aus der Tasche meines Mantels und zeigte es ihm.
"Und die Adresse von diesem... Kumpel... wie heißt der noch mal?"
"Mehmet", sagte Leon.
"Genau, der. Hast du uns die aufgeschrieben?"
"Ja", antwortete ich. "Vorhin schon im Büro."
"Das stimmt", sagte Lea.
"Na schön... Dann viel Spaß euch!"
"Danke", antwortete ich und zwang mich zu einem Lächeln. Von wegen Spaß! Den würde ich heute bestimmt nicht haben! Ob ich mich jetzt zu irgendeiner Party zwingen lassen oder mich für die nächsten Stunden in meinem Zimmer verkriechen würde! Was glaubten die denn?
"Pass mir gut auf deine Freundin auf, Leon!"
"Das mach ich", meinte Leon und nahm, wie um sein Versprechen noch zu untermauern, meine Hand in seine, nachdem er sich meinen Rucksack umgeschnallt hatte.
"Amüsiert euch! Kommt gut ins neue Jahr! Echt mal!" Lea grinste wieder. "Ihr seid so knuffig zusammen!"
"Ja... wir gehen dann jetzt", sagte ich. Wie peinlich war das jetzt bitte schon wieder?
"Komm!" Ich zog an Leons Hand.
"Guten Rutsch!", sagte der dann noch an die anderen gewandt, wobei er Luca das wohl eher nicht wünschte, es sei denn, der würde sich dabei die Beine brechen, dann verließ er mit mir zusammen das Wohnzimmer in Richtung Hintertür.
°○ Leon ○°
Als wir wenige Minuten später beim Berneburger Einkaufszentrum aus dem Bus stiegen, steuerte ich direkt den Mitarbeiterparkplatz an und begann dann nacheinander die Geldbeutel durchzusehen, welche ich während der Busfahrt hatte mitgehen lassen.
Einhundertfünfundsiebzig Euro zählte ich zusammen, das Münzgeld nicht mitgerechnet. Das wanderte aber natürlich genauso wie die Scheine in mein Portmonnaie, wobei ich deutlich Marias Augen auf meinen Händen spürte.
Ich sah zu ihr auf, da senkte sie gleich den Blick. "Was ist?"
"Nichts", meinte Maria.
"Du willst doch irgendwas sagen."
"Ja..." Maria stockte. "Also... ich wollte dich nur was fragen."
"Dann frag!", sagte ich.
"Tut dir das nicht leid... wenn du das tust?" Maria sah mich wieder an. "Ich meine, wenn du den Leuten was stiehlst?"
"Ist doch nur Geld", meinte ich.
"Ja... trotzdem."
"Was trotzdem?", fragte ich und konnte nicht verhindern, dass sich jetzt Hohn in meine Stimme mischte.
Was glaubte sie denn? Dass Geld auf Bäumen wuchs? Das tat es genauso wenig, wie ich es scheißen konnte!
"Ich nehm mir das immer nur von Leuten, die sowieso schon genug davon haben, also von daher..." Tut's denen auch nicht weh, dachte ich den Satz zuende und zuckte mit den Achseln. "Dann fehlen denen halt mal ein paar Euros und... Ja, ist dann halt auch ein bisschen Gerenne, bis man das ganze andere Zeug ausm Portmonnaie wieder ersetzt kriegt... Führerschein, Perso und solche Sachen", erklärte ich. "Aber das hätten die ja genauso, wenn sie die Portemonnaies verlieren würden... Manche legen die ja auch aufs Autodach, wenn sie die Einkäufe einpacken, dann fahren sie los und zack... weg ist die Scheiße!"
Genauso war es Sabine mal ergangen. Das war schon ein paar Jahre her, aber ich konnte mich noch gut dran erinnern, was für ein Donnerwetter das Zuhause gegeben hatte. Wenn es um so etwas ging, verstand Richard keinen Spaß, dagegen waren seine Ausraster wegen Krümeln auf dem Teppich oder zu warmen Bier noch nette Streicheleinheiten!
"Willst du auch eine?" Ich hielt Maria die Packung Lucky Pins hin.
Maria schüttelte den Kopf. "Ich kauf mir lieber gleich selber welche."
"Du kaufst dir welche?", fragte ich.
"Ja... na ja... Ich dachte, du könntest mir vielleicht welche holen...von meinem Taschengeld", sagte Maria.
"Spar dir dein Geld mal besser!" Ich hob ihren Kopf zu mir hoch und küsste sie. "Ich überleg mir was."
"Wie meinst du das?", wollte Maria wissen. "Wir gehen doch gleich sowieso zu BUG. Dann kannst du mir das doch einfach kaufen."
"So einfach ist das nicht", erwiderte ich, holte mir eine Zigarette aus der Schachtel und steckte sie mir zwischen die Lippen. "Ich meine, ich arbeite ja selber an der Kasse... da ist das ganz schön streng mit Zigaretten und Alkohol. Da fragt man immer erst nach dem Perso."
"Den hast du doch."
"Ja, trotzdem!", meinte ich. "Deswegen verkaufen die mir doch längst nicht alles!"
"Auch keine Zigaretten?"
"Nein!" Ich lachte. "Was glaubst du denn?", fragte ich, hielt mir die Flamme meines Feuerzeugs an die Zigarettenspitze und nahm dann einen ersten Zug. "Die verkaufen sie einem erst, wenn man achtzehn ist."
"Jetzt lach mich nicht aus!", sagte Maria, verschränkte die Arme vor der Brust und machte ein beleidigtes Gesicht. "Das hab ich halt nicht gewusst."
"Ist doch okay", meinte ich, kicherte noch etwas und verkniff es mir dann. "Wenn du willst, kann ich das auch später mit Mehmet klären und der besorgt dir ne Schachtel. Oder... warte mal!", sagte ich, als mir eine Idee kam, zog mein Handy aus der Tasche, schaltete dessen Taschenlampe ein und lief dann zu der Stelle im angrenzenden Gestrüpp, wo ich vorhin die Geldbeutel reingeworfen hatte.
"Was machst du denn jetzt?", fragte Maria.
"Das siehst du dann", antwortete ich.
Es dauerte eine Weile, bis ich eines der Portmonnaies wiederfand.
Ich öffnete es, leuchtete hinein und... da war er: Grün mit schwarzer Schrift und einem Foto darauf.
Carsten Winter.
"Damit ziehen wir dir was aus'm Automaten.", erklärte ich Maria, als ich wieder bei ihr war.
Sie lächelte. "Gute Idee."
"Ist ja auch von mir." Ich zwinkerte ihr zu, nahm daraufhin noch einen letzten Zug von meiner Zigarette, ließ sie dann zu Boden fallen und trat sie aus. "Komm, gehen wir."
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top