12. Du weißt es, oder?
°○ Leon ○°
Ich war direkt aus dem Wagen heraus und zur Haustür gehetzt, noch bevor die Polizei angekommen war. Wohingegen schienen Richard und Manuel es vorzuziehen, auf ihr Kommen zu warten, blieben selbst dann noch nebeneinander im Auto sitzen, als die Blinklichter des Polizeiwagens die Auffahrt hinter mir bereits in blaues Licht tauchten, was Susannes anfängliche Verwirrtheit angesichts meines späten Klingelns bei der Wohngruppe nun in sichtliche Alarmiertheit umschlagen ließ.
"Ach du meine Güte! Was ist denn hier los?" Mit großen Augen musterte sie den Polizeiwagen. Das Blaulicht verlieh ihr dabei eine fast schon gespenstische Wirkung; dann endlich erlosch es.
"Bitte, kann ich jetzt zu Maria?", fragte ich, wohl schon zum gefühlt hundertsten Mal. Doch wie die vorherigen Male auch schien die Betreuerin mir gar nicht richtig zuzuhören. Und statt mich wie eben noch mit Fragen darüber zu bombardieren, was ich zu so später Stunde noch hier wollte und was genau ich damit meinte, es sei etwas schlimmes passiert, beachtete sie mich nun schlicht gar nicht mehr, hielt den Blick dafür nur weiter an mir vorbei in Richtung Polizeiwagen gerichtet.
"Ich glaube, ich sollte besser bei ihr sein, wenn-"
"Guten Abend!", ertönte eine tiefe verbindlich klingende Stimme hinter mir. Sie gehörte dem jungen Polizisten, groß, sportlich gebaut, mit kurz geschnittenen hellblonden Haaren, welcher vorhin erst meine Personalien aufgenommen hatte.
"Lebt hier eine Maria Rehberg, geboren am..." Der Polizist warf einen Blick auf seinen Notizblock. "17. Dezember 2001?"
"Ja, das stimmt", meinte Susanne. "Worum geht es denn?"
"Vielleicht sollten wir besser mal reingehen", schlug der andere der beiden Polizisten vor, scheinbar etwas älter als der Blonde, mit freundlich dreinblickenden braunen Augen und schwarzen Haaren, welche ihm bereits zum größten Teil ausgegangen waren. Er wandte sich zu Richards Auto um und bedeutete den beiden, dazu zu kommen, die kamen seiner Aufforderung gleich nach.
"Das ist Marias Bruder... Manuel Rehberg und dessen Vater..." Ein weiterer Blick ins Notizbuch. "Richard Waldner."
Susanne schüttelte beiden stirnrunzelnd die Hand und stellte sich ihrerseits vor, dann wandte sie sich an mich. "Waldner... ist das nicht auch dein Nachname?"
"Ja... ich bin auch sein Sohn", antwortete ich mit einem schnellen Seitenblick auf Richard, der einen Arm um Manuel gelegt hatte; dessen Gesicht war immer noch kreidebleich.
"Wir sind Halbbrüder", erklärte Manuel. "Wir beide haben denselben Vater und Maria und ich haben... ich meine... wir hatten dieselbe Mutter."
"Ach... so ist das", meinte Susanne, schien noch einmal kurz über das Gesagte nachzudenken und trat dann einen Schritt zur Seite. "Bitte... kommen Sie herein! Am besten gehen wir mal alle ins Besprechungszimmer."
"Leon? Manuel?" Maria kam vom hinteren Flur nach vorne gelaufen. "Was macht ihr hier?", fragte sie und sah dann zu den Polizisten. "Ist etwas passiert?"
"Warte am besten eben in deinem Zimmer, Maria", wies Susanne sie an, in dem Moment kam noch eine weitere Betreuerin um die Ecke; die fragte sich wohl auch, was gerade hier los war. "Wir müssen uns noch eben besprechen."
"Geht es dabei um mich?", wollte Maria wissen.
"Warum ist denn die Polizei hier? Und wer sind die-", begann die jüngere Betreuerin mit roten langen Haaren und dunkel angemalten Augen, doch Susanne dachte scheinbar gar nicht daran, sie ausreden zu lassen.
"Geh du mal mit Maria einen Tee trinken! Wenn wir soweit sind, hol ich sie dann zum Gespräch dazu."
"Ich will jetzt aber keinen Tee trinken!", meinte Maria. "Ich will wissen, was hier los ist!" Die Besorgnis war mittlerweile deutlich aus ihrer Stimme heraus zu hören.
"Das wirst du auch, Maria. Warte nur noch eben einen Moment, dann-"
"Nein!", rief Maria ihr dazwischen. "Ich will nicht warten! Ich will es jetzt wissen!"
"Das versteh ich ja." Susanne seufzte. "Aber trotzdem, hab noch eben ein bisschen Geduld. Du kannst in deinem Zimmer warten, einen Tee-"
"Ich will jetzt keinen Tee trinken, verdammte Scheiße noch mal!", schrie Maria. "Wie oft soll ich das denn noch sagen?"
"Soll ich mit dir warten?", fragte ich Maria, machte ein paar Schritte auf sie zu und streckte ihr dann meine Hand entgegen.
Maria sah mich an, machte ein Geräusch, was sowohl ein Schnauben als auch ein Lachen sein konnte, kehrte uns schließlich allen den Rücken und lief davon.
Kurz darauf knallte eine Tür.
"Geh mal zu ihr, Leon!", meinte Susanne. "Ist glaub ich ganz gut, wenn jetzt jemand Vertrautes bei ihr ist."
Ich nickte, dann verließ ich die Gruppe, lief rüber zu Marias Zimmer und klopfte an die Tür.
"Könnt ihr mich nicht mal in Ruhe lassen?" Maria weinte.
"Süße? Darf ich reinkommen?"
"Du wohl", kam es nach einiger Zeit von drinnen. "Aber sonst will ich jetzt keinen sehen!"
"Ist gut", antwortete ich, öffnete dann die Tür und betrat das Zimmer. Dort wurde ich als erstes von einer derartigen Kälte empfangen, dass sich mir direkt am ganzen Körper die Härchen aufstellten.
"Alter! Wie kalt ist das hier?", fragte ich und rieb mir die Arme. "Ist ja wie im Gefrierschrank!"
Maria antwortete nicht, saß nur da mit gesenkten Kopf auf ihrem Bett und schluchzte leise.
"Ich geh mal eben einen Fenstergriff besorgen, ja? Bin gleich wieder da."
Nachdem ich das Fenster geschlossen und die Heizung auf höchste Stufe angestellt hatte, nahm ich eine Wolldecke, welche ich über der Lehne des Schreibtischstuhls entdeckt hatte. Setzte mich als nächstes dicht neben Maria, hüllte uns beide darin ein und nahm sie dann in den Arm.
"Es ist wegen Vater... dass die Polizei hier ist. Das weiß ich ganz genau", meinte Maria nachdem ihr Schluchzen verebbt war, löste sich aus meiner Umarmung und wischte sich mit dem Ärmel ihres Pullovers übers Gesicht. "Irgendwas schlimmes ist passiert." Sie sah mich an.
Ich senkte den Blick.
"Du weißt es, oder?", fragte sie, da nickte ich nur, saugte mehrmals etwas Speichel zusammen und schluckte ihn hinunter, um meinen Mund zu befeuchten, welcher mit einem Mal wie ausgetrocknet zu sein schien.
"Sag's mir... Bitte!", flehte Maria. "Ich muss es wissen!"
"Ich... kann dir das nicht sagen."
"Doch, das kannst du!", entgegnete Maria. "Du willst es nur nicht."
"Ich kann es nicht!" Nun lag etwas mehr Nachdruck in meiner Stimme. "Tut mir leid", setzte ich schließlich noch nach, die Augen weiterhin auf meinen Schoß gerichtet, legte meine Hand um die von Maria und drückte sie leicht.
°○ Maria ○°
"Tut mir leid."
Auf diese Worte folgte ein längeres Schweigen. Was sollte ich darauf jetzt auch antworten?
Natürlich glaubte ich Leon das, wenn er sagte, dass es ihm leid tat.
Dass es Dinge gab, über die man nicht sprechen wollte. Und es noch viel mehr nicht konnte. Einfach, weil es zu schlimm war. Das hatte Leon spätestens jetzt sicher auch mal begriffen.
Eigentlich musste ich es auch gar nicht hören. Ich wusste im Prinzip auch so schon, was passiert war. Nämlich das, was Vater immer gesagt hatte, was passieren würde, wenn ich ihn verraten würde.
Er war gestorben.
Das musste mir keiner sagen. Das war mir schon klar gewesen, sobald ich sie alle im Flur hatte stehen sehen: Die Polizisten. Leon, Manuel und Richard. Sie waren alle gekommen um es mir zu sagen.
Das konnten sie sich aber auch sparen. Stattdessen sollten sie mir lieber sagen, dass es nicht so war, wie ich dachte. Dass ich mich irrte. Dass Vater noch lebte. Und dass es ihm gut ging.
"Wollen wir mal eben vor die Tür gehen? Nur kurz, damit ich eine rauchen kann?", fragte Leon.
"Könnte ich dann auch eine Zigarette bekommen?"
"Klar."
"Was meinst du, wie lange das noch dauert, bis die mich dazu holen?", fragte ich, als wir wenige Minuten später aus dem Haus raus und etwa hundert Meter weiter zur nächsten Bushaltestelle gelaufen waren.
"Keine Ahnung." Leon steckte sich eine Zigarette zwischen die Lippen und hielt mir dann die Schachtel hin.
"Danke." Ich nahm mir eine Zigarette heraus, steckte sie mir zwischen die Lippen und hielt dann still, so dass Leon sie mir anzünden konnte.
"Da kommt bestimmt gleich jemand."
"Susanne", sagte ich.
"Ist die jetzt eigentlich deine Bezugsbetreuerin?"
Ich nickte, nahm einen ersten Zug von der Zigarette und hustete dann.
"Woher weißt du, was eine Bezugsbetreuerin ist?"
"Das hat Mehmet mir mal erklärt. Die kümmern sich am meisten um dich und dann machen die zwischendurch auch so Ausflüge mit dir."
"Ja", meinte ich. "So hat Susanne das auch gesagt. Das mit den Ausflügen kommt aber auch drauf an, wie ich mich verhalte."
"Schon klar."
"Ich muss da so Smileys für sammeln. In einer Tabellle." Ich nahm einen zweiten Zug von der Zigarette, diesmal nicht so tief, wie vorher.
"Smileys?", fragte Leon. "Wofür?"
"Ich hab da so einen Verhaltensplan. Da stehen Ziele drin", erklärte ich "Und wenn ich die erreicht habe, bekomm ich dafür einen glücklichen Smiley."
"Und wenn du sie nicht erreichst, einen traurigen."
"Genau." Ein weiterer Zug. Wieder ohne zu Husten. So langsam schien ich den Dreh wohl raus zu haben.
"Und was sind das so für Ziele?"
"Ja... so... alles mögliche."
"Was zum Beispiel?", hakte Leon nach.
"Na ja... ich soll halt bei den Gruppenangeboten mitmachen und... Hobbies haben."
"Hobbies?"
"So Sachen, die ich gerne mache."
Leon grinste. "Ich weiß, was Hobbies sind."
"Ja... klar." Ich zog an der Zigarette, atmete den Rauch jetzt abermals etwas tiefer ein. Und hustete ihn dann wieder aus. Verdammt, warum bekam ich das nicht hin? Sowas konnte doch jeder! Wie dumm war ich denn?
"Du musst den Mund aufmachen, wenn du auf Lunge ziehst. Dann geht's besser. Guck mal, so!", sagte Leon, nahm einen besonders langen Zug von seiner Zigarette, öffnete dann den Mund und zog den Rauch gleichzeitig ein, bevor er ihn schließlich durch Mund und Nase wieder ausstieß.
Ich tat es ihm nach. Und tatsächlich, auf diese Weise kratzte es deutlich weniger im Hals. Husten musste ich aber natürlich trotzdem.
"Ich glaub, Rauchen ist einfach nichts für mich."
"Das wird schon noch mit der Zeit", meinte Leon, dann lachte er. "Manuel flippt aus, wenn er rausbekommt, dass ich seine Schwester zum Rauchen gebracht habe."
"Das hast du nicht", sagte ich. "Das hab ich selber so entschieden."
"Ja... solange Manuel das dann auch so sieht, ist's ja gut."
"Da geht ihm überhaupt nichts von an!"
Eine Zeit lang rauchten wir schweigend. Es war eine angenehme Stille, fast schon zu sehr.
Die Ruhe vor dem Sturm, dachte ich.
"Was hast du denn jetzt so für Hobbies?", durchbrach Leon dann das Schweigen, daraufhin zuckte ich mit den Achseln.
"Ich weiß nicht... Zeichnen mag ich ganz gerne."
"Zeichnen?"
"Ja."
"Und was genau?"
"So verschiedene Sachen. Tiere, Menschen und... Ja..."
"Cool!" Leon zog noch ein letztes Mal an seiner Zigarette, ließ sie dann zu Boden fallen und trat sie aus. "Und was magst du für Sport?"
"Ich... mag gar kein Sport." Was kam er mir jetzt schon wieder mit diesem Thema an? Wusste er doch ganz genau, dass das nicht meine Sache war!
"Aber Schwimmen geht doch klar, oder nicht?", fragte Leon und nahm ein Päckchen Taschentücher aus der Jackentasche.
Ich schüttelte den Kopf. "Ich bin nicht so für tiefes Wasser."
"Dafür machst du ja demnächst den Kurs."
"Hmm."
"Was hmm? Wir wollten doch demnächst mal schwimmen gehen.", meinte Leon und putzte sich die Nase.
Du wolltest schwimmen gehen, dachte ich. Mich hast du gar nicht gefragt.
"Digga, was machen denn die Bullen hier?", fragte Luca, der kam gerade um die Ecke gelaufen, zusammen mit Eileen und Laura, die war erst vor zwei Tagen von ihrer Heimfahrt wieder zurückgekommen.
"Haben sie Daniel mal wieder den Fernseher aus dem Zimmer geholt?"
"Handyverbot würde bei dem ja auch schon reichen", meinte Eileen.
"Und was ist mit unserer Jungfrau hier?", fragte Laura und strich sich dabei eine Strähne ihrer langen blonden Haare hinter die Ohren. "Vielleicht ist die ja doch nicht so unschuldig, wie sie immer tut." Sie verpasste mir einen leichten Stoß in die Seite. "Seit wann rauchst du eigentlich?"
"Seit jetzt", meinte ich.
"Wie jetzt?", fragte Luca und sah mich mit hochgezogenen Augenbrauen an.
"Das hier war meine erste." Wie um es ihnen zu beweisen, nahm ich einen letzten Zug von meiner Zigarettte, ließ den Mund beim Einatmen geöffnet, stieß den Rauch wieder aus und hustete dann etwas.
"Ist ja niedlich." Eileen kicherte.
"Sind die Bullen wegen dir hier?", fragte Laura.
Ich nickte.
"Und warum?"
"Weiß ich noch nicht." Ich senkte den Blick, da kam Leon gleich etwas näher an meine Seite und legte den Arm um mich.
"Du weißt aber was", sagte Eileen.
"Ja", meinte Leon.
"Und worum geht's dann?"
"Kann ich nicht sagen."
"Wieso ka-"
"Weil's dich auch einen Scheiß was angeht!"
"Dann wird wohl jemand gestorben sein", meinte Luca.
"Mein Vater", murmelte ich, die Augen immer noch zu Boden gerichtet, darauf sagte dann erst mal keiner mehr was. Auch Leon nicht, dessen Schweigen drang mir noch am lautesten in den Ohren und das war dann jetzt wohl Antwort genug.
Ich sah zu ihm auf. "Er hat sich umgebracht, oder?" Leise, kaum mehr als ein Flüstern.
Leon schlug die Augen nieder. Nickte dann.
"Nicht echt jetzt, oder?", fragte Eileen. "Was für ne Scheiße!"
"Und das sagt sie einfach so!", meinte Laura.
"Gib ihr mal die Flasche!"
"Warum sollte ich?", fragte Luca.
"Weil ich es sage", gab Eileen zurück.
"Sie hatte doch schon ne Zigarette."
"Ihr Vater ist gestorben!"
"Ja und? Es sterben jeden Tag Menschen!"
"Luca!", rief Laura bestürzt aus.
"Wie dumm bist du eigentlich?", fragte Leon.
"Du bist so ein Assi, ne?", meinte Eileen.
"Was denn?", fragte Luca. "Ist doch so!"
"Jetzt gib schon her!", forderte Eileen, kurz darauf wurde ich leicht am Arm gezogen. "Hier! Willst du einen Schluck?"
Ich reagierte nicht, betrachtete nur weiter den Boden zu meinen Füßen; eng aneinanderliegende Steine, jeder so grau und rechteckig wie der andere, dumpf beschienen vom Licht der Straßenlaterne.
"Hey!"
Er war gestorben. Mein Vater. War nicht mehr. Und ich war schuld daran.
Jemand drückte mir eine Flasche in die Hand. "Da, jetzt trink erst mal was!"
Ich tat es. Setzte die Flasche an den Mund und nahm einen großen Schluck. Es brannte, darunter der Geschmack von Kirschen.
Brennende Kirschen, dachte ich. Nahm dann einen weiteren Schluck. Und noch einen.
"Das reicht jetzt, Süße." Leons Stimme, nun nah an meinem Ohr. Sein Arm immer noch um meine Hüfte, zog er mich jetzt in seine Arme, nahm mir gleichzeitig die Flasche aus der Hand und begann mir dann sanft mit den Händen über den Rücken zu streicheln.
"Und dafür habt ihr sie jetzt an meinem Wodka rumnuckeln lassen!", meinte Luca und stieß ein verächtliches Lachen aus. "Ganz toll!"
"Das ist nicht dein Wodka! Der gehört uns allen!", erwiderte Laura.
"Ja, aber nicht denen!"
"Steck dir deine Flasche doch sonst wo hin!", fuhr Leon Luca an. "Echt jetzt, als ob ich das nötig hätte, mir irgendso einen Weiberschnaps von dir zu schnorren!"
"Kümmer du dich mal lieber um deine Freundin, du Pimmel! Und misch dich nicht in unsere Gespräche ein!"
"Ich tret dir gleich die Zähne aus der Fresse, wenn du es drauf anlegst!"
"Komm doch her, du Spast!"
"Jungs! Jetzt chillt mal!", mischte Eileen sich ein. "Ist doch kacke, sowas!"
"Komm, Luca!", meinte Laura. "Wir gehen rein!"
°○ Leon ○°
Einen Moment weigerte sich Luca noch, der Aufforderung von der hübschen Blondine nachzukommen, dann folgte er den beiden Mädchen und lief gemeinsam mit ihnen zur Wohngruppe, allerdings nicht ohne mir vorher noch beide Mittelfinger entgegen zu strecken.
Was für ein Glück für ihn, dass mir Maria gerade wichtiger war, sonst hätte er sich die gleich mal in eine Tüte stecken können, zusammen mit einer hübschen Sammlung weiterer Einzelteile, zu die ich ihn verarbeitet hätte.
Dieser Wichser!
Was stimmte nicht mit dem?
Ich löste meine Umarmung und musterte Maria, die drehte den Kopf schnell zur Seite, um meinem Blick auszuweichen.
"Bitte... nicht!"
"Was denn?", fragte ich.
Maria schirmte ihr Gesicht mit ihrer freien Hand ab, die andere hielt ich fest. Sie weinte weiter, nun noch heftiger als vorher und erlitt bald einen weiteren Hustanfall.
"Oh Mann!" Ich klopfte Maria mehrmals fest auf den Rücken, solange bis sie sich wieder beruhigt hatte. "Geht's?"
Maria nickte, wollte dann einen Schritt zurück setzen.
"Nein, jetzt bleib mal hier!" Ich umklammerte weiter ihr Handgelenk. Überlegte einen Moment und führte sie dann mit mir zum Wartehäuschen. "Komm, wir setzen uns mal kurz.", meinte ich und zog Maria mit mir hinunter auf die Bank. "Und jetzt versuchst du dich mal ein bisschen zu beruhigen, ja? Schau mich mal an!"
Maria tat es.
"So ist's gut." Ich strich ihr die Haare aus dem Gesicht. Nahm als nächstes Marias Hände in meine, begann dann bewusst tief ein- und durch gespitzte Lippen wieder auszuatmen, ihren Blick weiter festhaltend, wodurch auch Marias Atmung bald ruhiger wurde.
"Gut", sagte ich schließlich wieder, führte ihre Hände an meinen Mund und küsste sie.
Maria senkte den Blick, schniefte laut, entzog mir dann ihre Hände und fuhr sich damit durchs Gesicht, welches durch das heftige Weinen schon ganz verquollen war. "Vater hat immer gesagt, dass das so kommt."
"Dass was so kommt?"
"Ich meine... dass er sich umbringt", meinte Maria. "Das hat Vater immer gesagt... dass das passiert, wenn... ich was erzähle."
"Ja, aber..." Was für ein verficktes Arschloch, dachte ich. "Das war ja richtig, dass du das erzählt hast, das mit..." Dem sexuellen Missbrauch, dachte ich den Satz zuende, schaffte es jedoch nicht, die Worte über die Lippen zu bringen.
"Deinem Vater und dir", sagte ich stattdessen und begann Maria mit einem Taschentuch die Tränen aus dem Gesicht zu wischen. "Diese ganze Scheiße, die er mit dir abgezogen hat! Und du hast das die ganze Zeit immer nur für dich behalten!"
"Ja... und dann hab ich's erzählt und-"
"Das ist auch gut so!"
"Ja, super!", krächzte Maria. "Und mein Vater ist jetzt tot!"
"Das eine hat mit dem anderen überhaupt nichts zu tun!"
"Doch, hat es!"
"Das hat dein Vater dir nur eingeredet, Süße."
"A-aber es ist doch jetzt genauso g-gekommen, wie er gesagt hat", meinte Maria, als neue Tränen an ihren Wangen hinab zu laufen begannen. "Ich hab alles k-kaputt gemacht!"
"Nein!"
"Das hab ich schon immer gemacht", meinte Maria. "War mit meiner Mutter ja auch so."
"Wie meinst du das?"
"Sie war w-wegen mir Auto gefahren. W-weil ich krank war... da hatte sie sich Sorgen... was aus der Apotheke... und... war das a-alles... mit dem Unfall", erzählte Maria, wobei sie nun wieder so sehr weinte, dass ich nicht jedes ihrer Worte verstehen konnte, aber immer noch mehr als genug, um so langsam mal richtig wütend zu werden.
"Hat dein Vater dir das so erzählt?", fragte ich, auch wenn ich die Antwort schon kannte.
Natürlich war er es gewesen!
"Sie ist w-wegen mir gestorben!", schluchzte Maria.
"Aber das..." Was hatte dieses kranke Schwein ihr da eingeredet? "Du hattest mir doch erzählt... also... da war doch dieser eine Mann, der-"
"Ist doch egal!", fiel Maria mir ins Wort. "Ob der Mann jetzt d-da gewesen ist, o-oder-"
"Er ist doch damals deiner Mutter ins Auto gefahren!"
"Ja, a-aber... wenn ich nicht krank gewesen w-wäre, dann wäre das a-alles nie passiert."
"Süße, das... ich meine... Überleg doch mal!", sagte ich und hob Marias Kopf an, um sie ansehen zu können. "Du warst damals noch ein Baby! Und krank wird man doch auch nicht freiwillig!"
"Ja... trotzdem!", sagte Maria.
"Was trotzdem?", fragte ich.
"Das war alles wegen mir."
"Nein... das stimmt doch nicht!"
"Doch, es stimmt!"
"Nein!", meinte ich wieder und überlegte gerade, was ich sonst noch sagen sollte, als ich sich nähernde Schritte hörte.
Kurz darauf trat Manuel ins Licht der Straßenlaterne. "Da seid ihr ja. Hab euch schon überall gesucht", sagte er und setzte sich links von Maria auf die Bank im Bushaltehäuschen. "Die warten drinnen schon auf euch."
"Ja, wir kommen gleich", sagte ich, doch Manuel beachtete mich gar nicht weiter, wandte sich dafür jetzt an seine Schwester. "Was ist los mit dir?" Er wollte sie am Arm fassen, doch Maria schlug seine Hand gleich fort.
"Lass mich!"
"Was heulst du hier rum?"
"Was glaubst du denn?", fuhr ich ihn an.
"Hast du ihr schon erzählt, was passiert ist?"
"Nicht direkt", antwortete ich. "Aber sie weiß Bescheid."
"Auch darüber, wie es passiert ist?"
"Nein."
"Wie i-ist es passiert?", wollte Maria wissen.
"Ich glaube nicht, dass-", begann ich, doch erneut ignorierte Manuel mich.
"Bente hat sich die Arme aufgeschnitten", erzählte er. "In der Badewanne."
"Hast du ihn gesehen?" Marias Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.
"Wir haben ihn beide gesehen", antwortete ich.
"Richard auch", sagte Manuel. "Wir wollten noch ein paar Sachen von mir holen, deswegen... Ja... war schon krass." Er zog etwas aus der Tasche seiner Jacke. Marias Handy und das dazugehörige Ladekabel.
"Hier!" Er gab ihr beides. "Ich dachte mir, das willst du vielleicht mal wieder haben."
"Ja... danke."
"Ich hab auch noch was für dich.", meinte Manuel und griff abermals in seine Jackentasche. "Mach mal die Hand auf!"
Maria tat es, daraufhin öffnete er seine Hand und ließ etwas hineinfallen. Eine Kettte. Die silberne mit den zwei Herzen daran, welche ich Maria zu Weihnachten geschenkt hatte.
"Die lag bei dir im Mülleimer."
Maria betrachtete schweigend die Kette in ihrer Hand.
"An einer Stelle ist sie gerissen. Musst du mal gucken, wie du die wieder zusammen kriegst."
Maria nickte, bedachte mich mit einem kurzen Blick und richtete die Augen dann gleich wieder auf die Kette.
"Um die restlichen Sachen kümmern sich doch deine Betreuer, oder?"
Maria nickte. "Die meinten, die holen das ab. D-das wollten die auch schon längst, a-aber... na ja..."
"Die konnten Bente nicht erreichen", beendete Manuel den Satz für sie.
Wieder nickte Maria.
"Du musst denen da drinnen gleich ein paar Fragen beantworten. Meinst du, das kriegst du hin, ohne Theater zu machen?"
Ein weiteres Nicken.
"Dann hör mal auf zu Weinen jetzt!" Manuel stand auf, nahm eine Handvoll Schnee vom Dach des Wartehäuschens und drückte sie Maria in die Hand. "Hier, reib dir damit mal das Gesicht ab!"
"Wofür soll das gut sein?", fragte ich und legte Maria schnell meine Hand auf ihren Arm, als diese seiner Aufforderung schon nachkommen wollte.
"Dann sieht sie nicht mehr so verheult aus."
"Was für'n Schwachsinn!"
"Ja, guck sie dir doch an!", meinte Manuel. "So kann Maria sich da doch nicht blicken lassen!"
"Warum nicht?"
"Weil die anderen sie dann fertig machen!"
"Dafür müssen die erst an mir vorbei", sagte ich, nahm Marias Hand und strich ihr den Schnee daraus.
"Du bist doch gar nicht immer da, um sie zu beschützen. Und ich auch nicht."
"Ja genau!" Ich stieß ein verächtliches Lachen aus und wischte Maria wieder das Gesicht ab. "Als ob du sie jemals wirklich beschützt hättest!"
"Wenn Maria endlich mal lernen würde, sich zusammen zu reißen, käme sie auch gut alleine klar."
"Das musste sie doch jetzt schon lang genug!", erwiderte ich. "Du hast dich ja immer nur um deine eigene Scheiße gekümmert!"
Ich wandte mich Maria zu. "Wieder besser?"
Maria schüttelte den Kopf. Sie hatte inzwischen aufgehört zu weinen.
"Hier!" Ich reichte ihr das Taschentuch. "Willst du mal die Nase putzen?"
Erneutes Kopfschütteln.
"Nein?"
Maria schniefte.
"Willst du den Dreck da lieber drin behalten?"
Maria antwortete nicht.
"Ist doch nicht so schön, oder?"
"Lass sie doch!", meinte Manuel. "Dann hat sie halt Pech gehabt, wenn sie sich so anstellt."
Ich ignorierte ihn. "Komm, jetzt schnaub mal, Süße!"
Maria zierte sich noch einen Moment, dann kam sie meiner Aufforderung nach und schnäuzte ins Taschentuch, welches ich ihr vor die Nase hielt.
Manuel stieß ein spöttisches Lachen aus. "Was für ein Kindergarten, meine Güte!"
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