11. Das ist er bestimmt schon
°○ Leon ○°
"Regen ist nass!", jammerte Minchen und wollte gleich ins Haltestellenhäuschen verschwinden, nachdem wir an der Sonja-von-Kampeneck-Straße aus dem Bus gestiegen waren und der Regen in nadeldünnen Tropfen vom Himmel fiel.
"Nein, nicht da rein! Komm mal mit jetzt!", meinte ich, zog meine Schwester an der Hand zurück und schob ihr dann die Kapuze ihrer grauen Strickjacke über den Kopf; so würden wenigstens ihre Haare trocken bleiben, auch wenn die dünne Wollschicht ihres Oberteils dem kalt-nassem Wetter an sich genauso wenig entgegenzusetzen hatte wie mein Kapuzenpullover.
"Du hast doch gar keine vernünftige Jacke an, Minchen. Und es friert schon, da darfst du nicht so lange draußen stehen." Ich führte sie mit mir von der Bushaltestelle weg die Straße entlang, wobei wir schon nach wenigen hundert Metern bis auf die Haut durchnässt waren.
"Alles nass!", quengelte Minchen wieder.
"Wir sind gleich da.", antwortete ich. "Dann wärmen wir uns auf. Was ist? Jetzt komm weiter!", sagte ich und zog etwas stärker an ihrem Arm, als meine Schwester stehen bleiben wollte.
"Tut weh!", sagte sie.
"Nur noch ein bisschen laufen, dann hast du es geschafft!"
"Nein" , entgegnete Minchen und wollte sich auf den Fußweg setzen, doch ich hinderte sie daran.
"Was soll denn das? Du kannst dich doch hier nicht einfach auf die Straße setzen!", schimpfte ich. "Komm weiter!"
"Tut weh!"
"Was tut dir weh?" Ich hockte mich vor meiner Schwester hin und musterte sie, die erwiderte einen Moment lang meinen Blick, verzog dann das Gesicht und begann zu weinen.
"Zeig doch mal! Was tut dir weh?", fragte ich erneut.
Meine Schwester legte sich die Hände auf dem Bauch, da verstand ich endlich, was mit ihr los war.
"Du hast Bauchschmerzen."
"Aua!"
"Ist dir denn auch schlecht?"
"Ja."
"Oh Mann!" Das erklärt einiges, dachte ich. "Dann legst du dich gleich besser mal etwas hin."
Ich stand wieder auf. "Kommst du jetzt weiter?"
"Will nicht weiter!", schluchzte Minchen.
Ja, super! Was fragte ich auch?
"Willst du auf den Arm?" Ich beugte mich zu ihr herunter und breitete die Arme aus. "Na komm!"
Ich trug sie den Rest des Weges, passierte noch ein paar Wohnblöcke, bis wir die Nummer sechsundzwanzig erreichten und drückte dann die zweite Klingel von oben.
Ein Knacken im Lautsprecher, dann Mehmets Stimme.
"Ja?"
"Hey", sagte ich und gab Minchen einen Kuss auf die Wange, die weinte immer noch. "Stör ich gerade?"
"Nee, komm ruhig hoch."
Der Summer ertönte.
"Hätte heute gar nicht mit dir gerechnet", sagte Mehmet, als ich mit Minchen auf meiner Hüfte sitzend und schon ein wenig außer Atem den vierten Stock des Hauses erreichte. "Wen hast du denn da mitgebracht?"
Er streckte die Hand nach Minchen aus und strich ihr über die Schulter, die verbarg ihr Gesicht daraufhin nur noch mehr in meiner Brust.
"Minchen geht's gerade nicht so gut", meinte ich, betrat die Wohnung und schloss die Tür hinter mir. "Gab Stress zu Hause. Da wollte ich sie da lieber nicht alleine lassen."
"Klar", meinte Mehmet und sah zu meiner Schwester, die sich immer noch fest um mich klammerte, nachdem ich sie auf dem Boden abgestellt hatte.
"Was war denn wieder?"
"Richard ist ausgerastet", erzählte ich.
"Eimer ist umgefallt", schluchzte Minchen.
"Was meint sie?", fragte Mehmet.
"Da ist ein Eimer umgekippt", erklärte ich. "Das hat dann die halbe Küche unter Wasser gesetzt."
"Ich hab gestoßt", sagte meine Schwester.
"Ja, aus Versehen." Ich legte ihr eine Hand auf die Schulter. "Sowas kann ja mal passieren."
"Nein!"
"Ist doch gut... Hey... Das war doch keine Absicht, Minchen", beruhigte ich sie. "Papa hätte sich darüber nicht so aufregen dürfen."
"Papa hat schlimm aufgeregt!", weinte Minchen.
"Ja, ich weiß." Ich sah Mehmet an. "Ich steck sie mal eben unter die Dusche."
"Will nicht in die Dusche!", heulte Minchen.
"Doch, das muss", sagte ich. "Du bist doch ganz kalt geworden da draußen ohne Jacke. Komm!", meinte ich und wollte Minchen an die Hand nehmen, doch die ließ das nicht zu und setzte sich dafür nun auf dem Boden.
"Minchen!" Ich seufzte, ging vor sie in die Hocke und sah sie an. "Was wird das jetzt?"
Meine Schwester antwortete nicht, zog die Beine stattdessen noch enger an den Körper und schlang die Arme darum.
"Ich hab dir doch auch dein Lieblingsshampoo eingepackt."
"Will nicht in die Dusche!"
"Du willst doch nicht schon wieder krank werden, oder?"
"Mir ist schlecht."
"Ja... das ist blöd, ich weiß", meinte ich und strich Minchen über den Rücken. "Da kann ich dir ja auch gleich einen Tee machen, wenn du mit dem Duschen fertig bist."
Minchen schniefte.
"Möchtest du das?"
"Was ist mit Mama?"
"Mit der ist alles gut", log ich. "Die muss jetzt nur ein bisschen schlafen."
"Ich muss zu ihr gehen!"
"Bald." Ich küsste sie, dann stand ich auf. "Aber jetzt bleibst du erst mal bei mir", sagte ich und packte Minchen an den Armen.
"Komm!" Ich hob sie hoch. Strich ihr die Kapuze vom Kopf. Wollte ihr noch einen Kuss geben. Und wandte dann schnell den Kopf zur Seite, als sie sich über meinen Pullover erbrach.
"Fuck!", entfuhr es Mehmet.
"Ja... Tut mir leid." Ich warf einen Blick zum Boden, auf dem waren einige Spritzer von Minchens Kotze gelandet, wobei mein Pullover noch deutlich mehr abbekommen hatte. "Ich wisch das sofort wie-"
"Nee, lass! Ich mach das schon. Kümmer du dich mal lieber um deine Schwester."
Er nickte zu Minchen, die lag jetzt halb schluchzend und halb hustend in meinen Armen, während ihr ein Rest Erbrochenes als zäher Faden vom Kinn hing.
"Okay... danke", sagte ich, dann wandte ich mich wieder an meine Schwester. "Alles gut, Minchen! Komm, wir gehen dich mal saubermachen."
"Bist du böse?"
"Nein, Quatsch!"
"Hab alles vollgespuckt."
"Ja und? Das macht doch nichts."
Ich lief mit ihr ins Badezimmer und schloss die Tür hinter uns.
"Das kann man alles waschen", meinte ich, ließ Minchen von meinem Arm herunter und zog mir dann gleich den Pullover aus, sorgsam darauf bedacht, nicht aus Versehen dabei mit dem Erbrochenen in Berührung zu kommen. "Guck, hier!"
Ich öffnete die Waschmaschine links neben der Tür und schmiss den Pullover in die Trommel.
"So, und jetzt du!", sagte ich, fasste den Bund an Minchens Pullover und zog ihn ihr über den Kopf.
Nachdem ich ihr die nassen Klamotten ausgezogen und ebenfalls in die Waschmaschine gesteckt hatte, nahm ich schnell meinen Zahnputzbecher von der Ablage, füllte ihn mit kaltem Wasser und gab ihn dann an Minchen weiter.
"Hier, trink!"
Meine Schwester tat es, setzte den Becher an die Lippen und leerte ihn in einem Zug.
"Gut?", fragte ich
"Gut", sagte Minchen.
"Willst du jetzt mal duschen?"
Minchen schüttelte den Kopf.
"Schön mit warmen Wasser?", fragte ich weiter, zog den Rucksack meiner Schwester zu uns rüber, öffnete dessen Reißverschluss und kramte darin nach der Packung mit Taschentüchern.
"Will nicht duschen!"
"Ich kann dir auch Musik dabei anmachen."
"No Ängels!"
"Meinetwegen." Ich verdrehte die Augen, entfaltete dann ein Taschentuch und hielt es meiner Schwester vor die Nase. "Los, komm!"
Minchen schnäuzte sich.
"Noch mal!", forderte ich. "Alles rausputzen!"
Minchen tat es.
"Super!", lobte ich sie, wischte ihr nochmal die Nase ab und nickte dann in Richtung Dusche. "Und jetzt ab!"
Endlich gehorchte Minchen, wandte mir den Rücken zu und-
Ich schnappte nach Luft.
-stieg unter die Dusche.
Verdammtes Arschloch!
"Wenn Se Ängels Zing!", rief meine Schwester.
"Ist gut", sagte ich, nahm mein Handy, machte das von ihr gewünschte Lied When The Angels Sing von den No Angels an und stellte es auf Repeat.
Dann lief ich zur Dusche und drehte das Wasser auf.
"Kalt!" Meine Schwester verschränkte die Arme vor der Brust.
"Gleich wird dir wieder warm", meinte ich, ließ mir das Wasser eine Weile über die Hand laufen, so lange, bis es eine angenehm warme Temperatur hatte und hielt die Brause dann in Minchens Richtung.
Die zuckte daraufhin jäh zusammen. "Will nicht kalt!"
"Das Wasser ist nicht kalt. Jetzt komm-"
"Bitte nicht kalt!"
"Wir duschen dich eben ab. Schön warm. Dann geht's dir gleich besser."
"Bitte nein!" Meine Schwester drückte sich nun in die Ecke der Dusche, die Augen vor Angst weit aufgerissen.
"Was denn, Minchen? Ist doch alles gut", sagte ich.
Aber in Wahrheit war natürlich gar nichts gut. In Wahrheit war alles sogar noch viel schlimmer, als ich es hatte wahrhaben wollen!
"Bitte nicht kalt!", heulte Minchen.
Das darf doch nicht wahr sein, dachte ich. Brutales Schwein!
Als ob die Prügel nicht schon genug gewesen war! Die roten Striemen an Minchens Rücken, einige davon blutig.
Nein, er hatte sie auch noch unter die Dusche gezerrt! Hatte sie dort mit eiskaltem Wasser gequält, genauso, wie er es bei mir immer gemacht hatte, damals, als ich noch kleiner gewesen war.
°○°
"Ja... und darum hab ich sie diesmal auch lieber mitgenommen", sagte ich, nachdem ich Mehmet alles berichtet hatte von dem, was heute Vormittag passiert war. "Ich weiß ja nicht, was Richard sonst noch alles mit ihr angestellt hätte."
Ich sah zu Minchen rüber, die lag neben mir auf dem Sofa, fest in die Bettdecke gehüllt, zusammen mit einer Wärmflasche, welche ich ihr auf dem Bauch gelegt hatte.
"Klar", meinte Mehmet. "Hat ja so auch schon genug durch heute, die Kleine."
"Ja." Ich streckte eine Hand aus und strich meiner Schwester damit über den Kopf, die schaute sich gerade eine Folge Simpsons im Fernsehen an. "Wie geht's dir?"
"Hab Bauchschmerzen."
Mir war es erst nach vielem guten Zureden und einem großzügigen Einsatz von pinkem Glitzerschaum gelungen, sie fertig zu duschen.
Bis ich ihr dann noch die blutigen Wunden am Rücken mit Salbe eingeschmiert, Pflaster darüber geklebt und ihr dann noch beim Anziehen geholfen hatte, war eine weitere gefühlte Ewigkeit vergangen.
Nur beim Anstellen der Waschmaschine war Minchen direkt Feuer und Flamme gewesen.
Die hätte sicher auch gleich eine ganze Packung Waschpulver auf einmal in die Tonne geschüttet, wenn ich sie gelassen hätte.
"Willst du mal ein bisschen Tee trinken?"
"Ja", antwortete Minchen.
"Okay, warte", sagte ich, nahm die Tasse mit Kamillentee vom Tisch und setzte sie Minchen an die Lippen, die nahm einen kleinen Schluck daraus und verzog dann gleich das Gesicht.
"Mag nicht Mille."
"Das ist aber gut für dich", meinte ich.
"Mag ich trotzdem nicht!"
"Davon gehen die Bauchschmerzen weg." Sanft drückte ich den Kopf meiner Schwester zurück zu mir und hielt ihr dann erneut die Tasse vor dem Mund. "Komm, nimm noch einen Schluck!"
Minchen reagierte nicht.
"Meine Güte!" Ich seufzte. "Jetzt stell dich doch nicht so an!", sagte ich, daraufhin kniff Minchen die Lippen nur noch fester zusammen.
"Komm schon! Mund auf!"
"Mh-Mh!"
Mehmet kicherte.
"Du kannst auch Cola bekommen, wenn es dir wieder gut geht", meinte ich.
"Will Cola haben!", sagte Minchen.
"Dafür musst du aber erst Tee trinken." Ich setzte ihr wieder die Tasse an den Mund.
Diesmal nahm sie direkt mehrere Schlucke auf einmal.
"Super!", lobte ich sie. "Das reicht erst mal."
Mein Handy klingelte.
"Manuel", sagte Mehmet, nachdem er kurz aufs Display geschaut hatte.
Ich folgte seinem Blick. "Was will der denn?"
"Willst du nicht rangehen?"
"Muss nicht sein", meinte ich, nahm das Gespräch dann aber doch an.
"Was willst du?"
"Ist Jasmin bei dir?"
"Ja, wieso?"
"Das dachte ich mir schon."
"Müsste Sabine eigentlich auch wissen, dass ich sie mitgenommen habe."
"Wann kommt ihr wieder?"
"Keine Ahnung", antwortete ich. Was war das für eine dämliche Frage? "Heute auf jeden Fall nicht mehr."
"Und wo seid ihr?"
"Das geht dich einen Scheiß an!"
"Doch sicher bei Mehmet, oder?"
Ich schwieg.
"Oder seid ihr bei Maria?"
"Bist du dumm?", fragte ich zurück. "Was soll ich bei der?"
"Dann hat sie sich also immer noch nicht bei dir gemeldet?"
"Nein?"
"Sie wollte dich nämlich glaub ich noch einladen... keine Ahnung..."
"Einladen?", fragte ich und zog die Augenbrauen hoch.
"Ja, hat sie mir gesagt."
Wollte der mich jetzt verarschen?
"Wann denn?"
"Heute erst." Manuel räusperte sich. "Am Telefon."
"Aha."
Eine Weile sagte keiner von uns etwas.
"Na ja... wie auch immer. Vater sagt auf jeden Fall, du sollst gut auf sie aufpassen", durchbrach Manuel schließlich das Schweigen. "Also auf Jasmin."
"Ach was!" Ich lachte.
"Und spätestens Morgen Abend sollt ihr wieder Zuhause sein. Dann fahren wir nach Ladenschluss noch eben rüber zu Rehberg."
"Wer ist wir?", fragte ich.
"Na, wir drei. Vater, du und ich."
"Ist ja herzallerliebst!" Ich lachte wieder, lauter jetzt, und hustete gleich darauf. "Und was machen wir da schönes? Kaffeetrinken mit meinem Lieblingslehrer? Soll ich dann noch Kuchen mitbringen?"
"Ich muss noch meine restlichen Sachen ausm Zimmer holen. Die Matratze, den Computer... und sowas."
"Aha." Erneut hustete ich. "Und was hab ich damit zu tun?"
"Du sollst uns helfen."
"Sagt wer?"
"Vater sagt, wenn du nicht kommst, dann kannst du dein blaues Wunder erleben."
"Ja schön! Und das soll mich jetzt-"
"Und Jasmin auch", fügte Manuel hinzu, da blieb mir der Rest des Satzes im Hals stecken.
Ich warf einen kurzen Blick rüber zu Minchen, die rieb sich mit ihren kleinen Fäusten über die Augen und gähnte dabei, dann schlug ich die Augen nieder.
"Wie spät wollt ihr los?"
"Spätestens um neun."
"Ist gut", sagte ich. "Dann-"
Werde ich da sein, wollte ich meinen Satz noch beenden, doch da hatte Manuel die Verbindung bereits unterbrochen.
°○ Maria ○°
Wie anstrengend konnte das Leben in einer Wohngruppe eigentlich sein? Und wieso zogen sich stressige Tage auch noch immer so in die Länge?
Ich konnte gar nicht mehr sagen, wie oft ich heute schon auf die Uhr gesehen hatte, dann gefühlt eine Stunde später nochmal und trotzdem waren immer nur ein paar Minuten verstrichen gewesen.
Minuten, in denen oftmals so viel auf einmal passierte, dass ich das alles kaum noch überblicken konnte.
Vor allem beim Essen war das so.
Da musste ich jetzt immer auf dem selben Platz sitzen, neben Ricarda und gegenüber von Luca und Eileen.
Ricarda war ein nettes Mädchen, aber ich mochte es trotzdem nicht, in ihrer Gegenwart zu essen, denn aus irgendeinem Grund schaffte sie es grundsätzlich nicht, mit geschlossenem Mund zu essen. Und wenn ihr dann auch noch der Sabber als dicker Faden aus dem Mund in ihren Schoß, oder - was noch viel ekeliger war - auf den Teller lief, bekam ich erst recht keinen Bissen mehr herunter.
Das hatten Eileen und Luca mittlerweile auch schon bemerkt und provozierten mich jetzt immer wieder damit, indem sie ebenfalls laut schmatzten, schnieften oder grunzten. Auch sonst ließen die beiden keine Gelegenheit aus, mir auf die Nerven zu gehen, drückten mir irgendwelche gemeinen Sprüche rein, äfften mich nach oder kommentierten einfach alles, was ich tat.
Ich versuchte das meistens zu ignorieren, aber das schien sie grundsätzlich nur noch mehr anzustacheln.
Die Betreuer waren mir in dieser Sache keine große Hilfe. Zwar wiesen sie Eileen und Luca öfter mal zurecht, wenn die mich ärgerten aber noch öfter fiel ihnen das gar nicht mal auf. Und selbst wenn sie sich einmischten, das brachte dann auch nichts. In dem Fall unterbrachen Luca und Eileen einfach ihr Spiel und fuhren damit fort, sobald die Betreuer sie nicht mehr beachteten.
War ja im Prinzip genauso wie in der Schule. Da brauchte ich auch nicht darauf zu hoffen, dass die Erwachsenen mir halfen.
Die Lehrer kümmerten sich um gar nichts, wenn sie es nicht mussten. Dafür erwarteten sie von den Schülern alles mögliche. Hausaufgaben, Referate und den ganzen anderen Mist.
Ich nieste, daraufhin zuckte der Schmerz, welcher bereits den ganzen Tag darin festsaß, wie ein Blitz durch meinen Kopf.
Verdammt noch mal, wann würde diese verdammte Erkältung endlich mal verschwinden?
Wie lange sollte ich damit noch rumlaufen?
Und wenn ich mich schon den ganzen Tag wie erschlagen fühlen musste, warum konnte ich dann nicht wenigstens auf meinem Zimmer bleiben, so lange, wie ich wollte?
Das hatte ich Lisa erst gestern gefragt, aber die hatte darauf nur erwidert, dass eine Erkältung kein Grund dafür sei, um Krankenstand zu bekommen und damit quasi so eine Art Zimmerarrest.
So etwas hätte ich gerne: Zimmerarrest.
Stattdessen wurde ich von den Betreuern dazu gezwungen, mich jeden Tag mit den Bekloppten hier abzugeben, mit ihnen zusammen zu essen, im Wohnzimmer zu sitzen oder draußen im Garten frische Luft zu schnappen. Das sei das beste Mittel, um wieder gesund zu werden. Frische Luft. Und Inhalieren natürlich. Das musste ich immer noch dreimal am Tag und tatsächlich half das auch etwas.
Trotzdem, ich hasste das, sogar noch mehr, als die Gruppenrunde. Die fand jeden Tag statt, beim Abendessen.
Da bekam jeder Bewohner zurück gemeldet, ob er seine Verhaltensziele erreicht hatte und dazu durfte dann auch jeder etwas sagen, nicht nur die Betreuer.
Erneut musste ich niesen, erhob mich daraufhin von meinem Schreibtischstuhl, holte mir ein Taschentuch aus der Schublade des Nachtschranks und putzte mir die Nase.
Danach stellte ich mich ans Fenster, beide Hände auf der Bank abgestützt. Sah hinaus in die Dunkelheit. Und spürte dabei gleich den eisigen Wind, welcher mir durch den schmalen Spalt direkt entgegen wehte. Ein Schauder durchfuhr mich, aber ich ließ es einfach zu, widerstand sogar dem Drang, mir über die Arme zu reiben.
Ich müsste so langsam wirklich mal abhärten. Und keine Schwäche mehr zeigen. Das hatte Vater mir schon immer gesagt. Und nicht nur er.
"Du musst echt mal selbstbewusster werden! Und nicht immer alles mit dir machen lassen!"
Das hatte Leon gemeint, vor wenigen Tagen erst.
Seine Worte hatten mich verletzt; wie sehr, wurde mir erst jetzt, rückblickend, klar.
Selbstbewusster werden. Nicht immer alles mit mir machen lassen. Ich wollte nicht, dass er das so dachte, dass ich schwach war. Dass ich mir alles gefallen ließ und immer gleich das Heulen anfing, anstatt mich mal zu wehren. Wobei das an sich ja auch überhaupt keinen Unterschied machte, ob ich jetzt etwas gegen sagte, oder nicht. Machte ja sowieso jeder mit mir, was er wollte.
Darum war das nun auch alles so gekommen zwischen ihm und mir. Ich war ihm peinlich gewesen als Freundin, die ganze Zeit schon.
Darum hatte er mir auch immer neue Klamotten besorgt und mir immer wieder gesagt, wie ich mich zu verhalten hatte. Damit ich mehr wie einer von den Coolen wirkte, auch wenn ich da in Wirklichkeit natürlich nie zugehören würde.
Ja, konnte gut sein, dass er mir damit ein Stück weit auch hatte helfen wollen. In allererster Linie war es ihm dabei aber wohl nur um sich selbst gegangen. Er hatte seinen Ruf behalten wollen, hatte auch weiterhin als derjenige an der Schule gelten wollen, der die Ansagen machte.
Leon Waldner, der Traum aller Mädchen. Und der schlimmste Alptraum für all jene, welche er sich als Opfer herauspickte.
Zu so jemandem passte eben keine Vogelscheuche.
Und trotzdem, es stimmte nicht, was Eddie immer wieder behauptete, zumindest nicht ganz.
Ja, Leon konnte ein Arschloch sein. Und war es auch oft genug, vor allem Eddie gegenüber.
Aber er konnte eben auch ganz anders sein.
Warum wollte Eddie das nicht einsehen?
Am besten wäre wohl wirklich, ich würde das Thema Leon einfach gar nicht mehr bei Eddie ansprechen. Und auch nicht zulassen, dass er es tat. Meistens war es ja auch so, dass er davon anfing, ganz egal, über welches Thema wir vorher sprachen. Und dann stritten wir uns, wobei ich mich hinterher immer ganz schlecht fühlte. So wie jetzt auch.
Nein, das wollte ich nicht mehr so. Das Thema Leon Waldner war jetzt tabu. Gab dazu jetzt ja ohnehin nichts mehr zu sagen.
Es war aus zwischen uns.
Da sollte Leon machen, was er wollte. Sollte er Spaß haben, jeden Tag Party machen mit seinen Leuten und froh darüber sein, dass er mich endlich losgeworden war.
Da ging mich jetzt nichts mehr von an, dachte ich und zuckte dann vor Schreck zusammen, als die Tür aufging und Eileen ins Zimmer hereinspazierte, natürlich mal wieder ohne anzuklopfen.
"Hello hello!" Sie strahlte. "Na, was geht?"
"Was willst du?", fragte ich genervt zurück.
Eileen zuckte die Achseln. "Nur mal gucken, was du so machst.", antwortete sie und schnappte sich dann den Zeichenblock vor mir auf dem Schreibtisch - viel zu schnell, als dass ich sie daran hätte hindern können. "Lass mal sehen!"
"Nein! Was soll das? Gib mir das sofort wieder her!"
"Was für'n Gekritzel soll das sein? Ein Kamel, oder was?", fragte Eileen und deutete auf das oberste Blatt auf dem Block. Darauf hatte ich mit Bleistift ein Bild gezeichnet.
Nichts besonderes, nur ein Pferd auf einer Wiese mit Bergen im Hintergrund.
"Das soll ein Pferd sein", antwortete ich und verschränkte beleidigt die Arme vor der Brust.
"Wie süß!", meinte Eileen. Sie betrachtete noch eine Weile das Bild, dann sah sie mich an. "Hast du noch mehr davon?"
"Ja... ein paar."
"Zeig mal!"
"Lieber nicht", sagte ich.
"Doch, komm! Ich will nur mal gucken!", bettelte Eileen. "Kannst du auch Menschen zeichnen?"
Ich zögerte. "Geht so", antwortete ich dann.
"Zeig doch mal!"
"Nein!"
"Ach komm schon!", meinte Eileen. "Ich lach auch nicht, versprochen."
"Ja, schon klar!"
"Nee, wirklich!", meinte Eileen und begann dann die Schubladen an meinem Schreibtisch aufzuziehen.
"Kannst du das mal lassen?", fuhr ich sie an, unternahm dabei jedoch keinen Versuch, sie wirklich daran zu hindern, dazu fühlte ich im Moment einfach viel zu schlapp.
"Sind die da drin?", fragte Eileen und öffnete die Sammelmappe, welche sie nach kurzem Stöbern in einer der Schubladen gefunden hatte. "Na also!" Eileen grinste triumphierend. "Mal gucken, was du so kannst."
Sie setzte sich aufs Bett, holte sorgsam nacheinander jedes Blatt aus der Mappe, musterte es und legte es dann neben sich aufs Bett. "Einige davon sind ja gar nicht so schlecht", befand sie dann und richtete ihren Blick wieder auf mich. "Seit wann zeichnest du schon?"
"Bin da erst Vorgestern mit angefangen."
"Scheint dir auf jeden Fall zu liegen", meinte Eileen und begann die Bilder dabei wieder in die Mappe zu ordnen. "Ich zeichne auch. Schon seit ich klein bin."
"Oh."
"Also, so richtig angefangen bin ich damit aber erst, als ich auf die IGS gekommen bin. Da gab es so eine AG, da hat Herr Schipper uns ein bisschen was beigebracht. Kennst du Herrn Schippper?"
"Nee... also, nicht wirklich", sagte ich und hustete leise. "Nur so vom Sehen." Wieder hustete ich. "Tut mir leid."
"Der ist cool", meinte Eileen, beugte sich dann zu mir rüber und gab mir die Mappe. "Hast du das jetzt eigentlich geklärt, diesen Streit mit deinem Freund?"
"Nein."
"Sei ihr denn noch zusammen?"
"Ich weiß nicht", antwortete ich nach längerem Überlegen, da stieß Eileen ein ungläubiges Lachen aus.
"Du weißt es nicht?"
"Nein."
"Ja, aber... hä? Habt ihr da denn nicht rüber geredet?"
"Eigentlich nicht."
"Ja, witzig! Dann seid ihr auch noch nicht auseinander!", meinte Eileen, zog einen Lippenpflegestift aus ihrer Hosentasche, fuhr sich damit über den Mund und hielt ihn mir dann hin. "Hier, willst du auch?"
Ich schüttelte den Kopf.
"Wie wäre es, wenn du ihn mal anrufst?"
Ja, tolle Idee, dachte ich und biss mir auf die Unterlippe. Komisch, dass ich daran noch gar nicht gedacht hatte, abgesehen von den ganzen letzten zwei Tagen, wo ich praktisch nichts anderes getan hatte!
"Dann weißt du wenigstens mal, was Sache ist zwischen euch", fuhr Eileen fort. "Bringt sicher mehr, als uns hier ständig was vorzuheulen."
"Ich heule doch gar nicht."
"Du heulst die ganze Zeit!", entgegnete Eileen. "Du liebst ihn, oder?"
"Ja", antwortete ich und biss mir schnell auf die Unterlippe, als ich spürte, wie sich ein Kloß in meinem Hals bildete.
Eileen lachte. "Siehst du, jetzt heulst du gleich schon wieder."
"Das stimmt doch gar nicht!"
"Anstatt einfach mal mit ihm zu reden", fuhr Eileen fort und erhob sich dann von meinem Bett. "Was für ein Theater, meine Fresse!"
Es klingelte an der Tür.
"Guck! Das ist er bestimmt schon." Eileen lachte wieder. "Dann gibt's gleich erst mal heißen Versöhnungssex!"
Ich ignorierte ihren Kommentar. Drehte ihr stattdessen den Rücken zu, sah in Richtung Fenster und - was sollte das bedeuten?
"Jetzt sag bloß, du bist noch ne Jungfrau!" Eileens Lachen wurde lauter, fast schon schrill. "Na ja... passt ja auch zum Namen. Jungfrau Maria."
Wie originell, dachte ich genervt, erhob mich nun vom Schreibtischstuhl, trat wieder ans Fenster und schaute hinaus.
Blaue Lichter zuckten durch die Dunkelheit. Blaue Lichter, die zu einem Polizeiwagen gehörten, welcher direkt vor der Wohngruppe parkte.
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