10. Geh mit deinem Bruder!
°○ Leon ○°
Ich wusste nicht, wie lange ich schon hier kniete, mit den Händen hinter mir an die Heizungsrohre gefesselt - zu hoch, um mich vernünftig hinsetzen und auch bei weitem zu niedrig, um aufrecht stehen zu können.
Mir tat alles weh, wobei die Krämpfe, welche mir mittlerweile in den Beinen saßen, das Brennen am Rücken und das Stechen meiner vollen Blase noch überdeckten.
Auch mein Gesicht hatte diesmal wieder ordentlich was abbekommen. Meine linke Wange fühlte sich schon ganz dick an und durch das Auge darüber konnte ich kaum noch mehr als verschwommene Umrisse erkennen.
Doch was sollte ich mich hier jetzt selbst bemitleiden? Ich hatte es ja drauf angelegt. Ich hatte mich vor Minchen gestellt, hatte Richards Wut auf mich gelenkt. Was hätte ich auch sonst tun sollen? Wer hätte meine Schwester sonst beschützen sollen?
Sabine war dazu nicht mehr im Stande gewesen. Und Manuel konnte man, was sowas anging, ja eh in die Tonne treten.
Dieses Arschloch hatte sich in seinem ganzen Leben noch nie um andere gekümmert, immer nur um sich selbst. Dafür war Maria ja der beste Beweis, dachte ich, zog die Nase hoch und begann kurz darauf zu niesen, was mir nur noch mehr Schmerzen verursachte.
Verdammter Schnupfen! Aber war ja auch nur eine Frage der Zeit gewesen, bis ich mich damit bei Maria angesteckt hätte. Vor allem in letzter Zeit hatten wir ja so ziemlich jeden Tag zusammen verbracht.
Das war jetzt vorbei.
Ich vermisste sie.
Sicher hatte Maria es gut da, wo sie jetzt war mit Betreuern, die sich um sie kümmerten.
Wobei, bei einigen ihrer Mitbewohner machte ich mir schon so meine Gedanken - vor allem bei diesem Luca. Der schien ja ziemlich übel drauf zu sein, dass hatte ich ihm direkt angesehen. Hoffentlich passten die Betreuer da gut auf, was in ihren Diensten passierte.
Maria wäre da ja das perfekte Opfer für so einen wie Luca. Wollte ich mir gar nicht vorstellen, was dieser Wichser alles mit ihr abziehen könnte.
Ein weiteres Ziehen in meiner Blase. Sollte ich es vielleicht einfach laufen lassen? Das wäre zwar ekelig und Richard wäre bestimmt auch alles andere als begeistert davon, aber wenigstens wären die Schmerzen dann weg.
"Leon, bist du da?" Minchens Stimme hinter der Tür. Sie flüsterte.
"Ja", sagte ich mit krächzender Stimme und räusperte mich dann. "Ich bin hier."
Ein kurzer Moment verstrich, dann wurde ein Schlüssel ins Schloss gesteckt, einmal herum gedreht und die Tür dann schließlich geöffnet.
"Leon!", sagte meine Schwester, immer noch leise, kam auf mich zu und schlang ihre Arme fest um meine Brust. "Papa hat dich schlimm gehaut!"
"Mach mal die Tür zu!", sagte ich. "Ganz leise!"
Minchen tat es, dann kam sie wieder zurück zu mir und musterte mich jetzt genauer. "Hast du doll Aua?"
"Nein, das geht schon", sagte ich schnell. "Wo ist Papa jetzt?"
"Wegen Arbeit telefonieren."
"Im Büro?"
"Ja."
"Okay", meinte ich und nickte dann zu meiner rechten. "Hol mal mein Messer aus der Hosentasche!"
Jasmin tat es nicht, sah mich stattdessen voller Bestürzung an, Tränen in den Augen.
"Papa hat dich blau gehauen! Und Blut!", sagte sie, streckte die Hand aus, fuhr mir damit behutsam an der geschwollenen Wange entlang und daraufhin über meine Lippen.
"Das ist schon okay", meinte ich.
"Tut doll weh?" Meine Schwester weinte jetzt.
"Nein, gar nicht", log ich erneut. "Alles gut! Komm, beruhig dich mal wieder!"
Ich nieste und zwang mich dann dazu, mir nichts anmerken zu lassen, als ein weiterer Schmerz durch meinen Kopf zuckte. "Du musst mir jetzt mal helfen."
"Frei machen."
"Genau", sagte ich. "Hol dir mal das Messer!"
Einmal wischte Jasmin sich noch mit dem Ärmel durchs Gesicht, dann endlich kam sie meiner Aufforderung nach, vergrub ihre kleine Hand in der rechten Tasche meiner Jeans und zog daraufhin das Messer heraus.
"Super, Minchen!" Ich zwang mich zu einem Lächeln. "So, jetzt hältst du es von dir weg. So wie die in Star Wars mit den Laserschwertern... genauso, gut", lobte ich sie. "Und nun drück mal den Knopf an der Seite... da, wo dein Daumen ist, dann springt die Klinge raus."
Minchen suchte den Knopf.
"Schön vorsichtig!", sagte ich. Das fehlte mir jetzt noch, dass sie sich damit in den Finger schnitt!
"Hab die Klinge raus!", sagte meine Schwester. Sie zeigte mir das Messer.
"Gut gemacht!", lobte ich sie wieder. "Jetzt pass mal auf! Du siehst doch-", begann ich und brach dann mitten im Satz ab, als sich Schritte dem Abstellraum näherten.
Scheiße verdammt!
Minchen riss die Augen auf. "Papa kommt!"
"Sei mal ruhig!", flüsterte ich.
"Gleich hau-!"
"Sscchh!", machte ich, da verstummte meine Schwester, begann dafür jetzt wieder heftiger zu weinen. Zitterte dabei am ganzen Körper, jedoch völlig geräuschlos.
Genauso wie Maria immer weinte, wenn sie gleichzeitig versuchte, damit aufzuhören, dachte ich und verdrängte das Bild gleich darauf wieder aus meinem Kopf.
Zum Teufel, was dachte ich schon wieder an meine Ex? War doch gerade jetzt der denkbar ungünstigste Zeitpunkt dafür!
"Komm mal her!", flüsterte ich Minchen zu, daraufhin rückte die gleich näher zu mir auf und verbarg das Gesicht in meinem Pullover.
"Schön leise sein!" Ich gab ihr einen Kuss auf den Kopf und spürte gleichzeitig wie mein Herz wild in meiner Brust zu hämmern begann.
Übelkeit stieg in mir hoch.
"Keine Angst!", flüsterte ich in Minchens Ohr. "Er wird dir nichts tun. Da pass ich schon für auf!"
"Aber du-"
"Ssch!", unterbrach ich sie wieder.
Das Klingeln des Telefons ertönte, kurz darauf erschien ein Schatten im dünnen Spalt unter der Tür.
"Autoservice Waldner, guten Tag?"
Pause.
"Ja, richtig... Genau, die Bremsscheiben... Ja... Das war, glaub ich, letzten Dienstag... Da hatten-", wollte Richard sagen, wurde dann jedoch scheinbar unterbrochen. "Manuel Rehberg, genau..."
Richard lachte. "Ja, das glaub ich gerne... Und was war jetzt Ihre Frage... Hmm... hmm... Dazu muss ich eben in die Unterlagen gucken, einen Moment, bitte..."
Der Schatten verschwand wieder.
Einige Sekunden lang hielt ich noch die Luft an, wozu ich wegen meiner verstopften Nase im Moment lediglich den Mund zumachen musste. Horchte auf Richards Stimme, welche mit jedem seiner sich entfernenden Schritte immer leiser klang. Und atmete schließlich erleichtert aus, nachdem die Tür zum Shop hinter ihm ins Schloss gefallen war.
"Alles gut, Minchen!" Ich küsste meine Schwester wieder auf dem Kopf. "Papa ist jetzt im Büro. Komm!" Ein weiterer Kuss. "Nun schneid mir mal die Hände los!"
Minchen reagierte nicht, weinte nur, weiterhin ohne einen einzigen Laut von sich zu geben, dafür aber mittlerweile so heftig, dass es sie regelrecht schüttelte.
"Ssch... Ganz ruhig.... Minchen... hey... Schau mich mal an!", sagte ich und achtete darauf, ganz ruhig dabei zu klingen, so als hätten wir alle Zeit der Welt. In Wahrheit blieben uns dagegen nicht mehr als ein paar Sekunden, allenfalls wenige Minuten, um aus dieser Muffbude hier zu verschwinden, bevor Richard zurückkehren würde.
Endlich hob meine Schwester den Blick.
"Ist doch alles gut! Komm..." Ich schluckte. "Jetzt hör mal auf zu weinen!"
Dieser Anblick! Zum Durchdrehen! Wie Minchen da vor mir saß und weinte, völlig außer sich, die Augen schon ganz verquollen!
Und ich saß hier und konnte nichts dagegen tun! Konnte sie nicht beschützen, ja, sie noch nicht mal in den Arm nehmen - zumindest nicht, solange ich hier festgebunden war.
"Hol mal tief Luft!", forderte ich meine Schwester auf. "Guck, so!" Ich zeigte es ihr.
Minchen machte es mir nach.
"Super!", meinte ich und zwang mich zu einem Lächeln. "Und weiter! Einatmen... und ausatmen. Schön langsam." Ich küsste ihr die Tränen von der Wangen. "Dann geht's dir gleich besser."
Minchen tat es, zog noch mehrere Male mit einem leisen Pfeifen die Luft durch die Nase ein und hauchte sie wieder aus, solange, bis sie sich wieder halbwegs beruhigt hatte.
"Wieder gut? Magst du mir jetzt helfen?"
"Ja!"
"Dann nehm dir mal das Messer und schneid den Binder durch! Da an meiner Hand."
Minchen griff sich das Messer vom Boden, stand dann auf und begann damit den Kabelbinder um meiner rechten Hand zu bearbeiten. "Muss dich los machen."
"Genau", meinte ich.
Einige Male schnitt und zerrte Minchen noch an der Fessel herum, da hatte sie ihn endlich durchgeschnitten.
"Gut gemacht!"
"Hand ist los", meinte Minchen, schniefte und wischte sich daraufhin mit dem Ärmel die Nase ab.
"Gib mal her! Die andere Seite mach ich selber", sagte ich, nahm meiner Schwester das Messer ab und durchschnitt damit dann auch den zweiten Kabelbinder, mit welchem Richard meine linke Hand an eines der Heizungsrohre festgezurrt hatte, so eng, dass der dünne Kunsttoff bereits brennende rote Striemen in meine Haut gescheuert hatte.
Sanft fuhr Minchen mit ihrem kleinen Zeigefinger die wunden Stellen an meinen Handgelenken entlang. "Da ist alles rot!"
"Ach, das ist nichts", sagte ich. "Mach dir mal keine Sorgen!" Ich zog sie in meine Arme und drückte sie fest an mich. "Meine kleine Heldin!" Ich küsste sie wieder auf dem Kopf. "Ich hab dich ganz doll lieb, weißt du das?"
Minchen schwieg, dann begann sie wieder zu zittern.
"Hey..." Schnell löste ich meine Umarmung, hob ihren Kopf zu mir hoch und sah sie an. "Was ist los?"
"Du gehst gleich wieder weg", schluchzte Minchen. "Und ich bleib alleine hier."
"Nein, das- Hey... ssch... ist doch gut! Ich lass dich hier nicht alleine", beruhigte ich sie und strich ihr mit den Händen über die Arme. "Du kommst mit mir."
"Ich komm mit?", fragte Minchen.
"Ja", sagte ich legte meine Hand an die Heizung und zog mich dann wieder auf die Beine, in welchem nach dem langen Knien nun wieder das Blut zurücklief, was mit einem unangenehmen Kribbeln einherging. "Los, wir müssen uns beeilen!", sagte ich und nahm Minchen an die Hand.
"Wohin gehen wir?", fragte die.
"Zu Mehmet", antwortete ich und legte mir den Zeigefinger an die Lippen.
Minchen machte es mir nach. Dann verließen wir zusammen das Aktenlager.
Ohne mich länger als nötig dabei aufzuhalten, griff ich mir in Minchens Zimmer deren Rucksack und stopfte dort alles an Klamotten hinein, was mir gerade einfiel, während Minchen in der Tür stehend auf mich wartete, dann lief ich weiter ins Badezimmer.
Auch hier überlegte ich nicht lange, schmiss Minchens Zahnbürste und Becher zusammen mit der Flasche Glitzerschampoo in den Rucksack. Was fehlte noch, fragte ich mich dann, sah mich schnell zu allen Seiten um, dann fiel es mir ein.
Mein Handy, natürlich!
"Warte hier!", flüsterte ich meiner Schwester zu, eilte in mein Zimmer und holte es zusammen mit allen anderen Dingen, die ich auf der Fensterbank abgelegt hatte: Eine Flasche Nasenspray, Taschentücher und Zigaretten.
Als ich wieder in den Flur kam, war Minchen verschwunden.
"Scheiße!", fluchte ich leise. Wo war sie? Wollte sie sich noch was mitnehmen?
Schnell lief ich in ihr Zimmer, warf einen Blick hinein.
Nichts.
Dann lief ich ins Bügelzimmer, durchsuchte hier alles. Warf einen Blick in den Schrank, dann noch hinters Sofa. Lief dann zurück in Minchens Zimmer, schaute auch dort in den Schrank und unters Bett.
Keine Spur.
Meinte meine Schwester jetzt ernsthaft Verstecken zu spielen?
Zum Teufel! Wir hatte keine Zeit! Mein Vater könnte jederzeit wieder den Abstellraum aufsuchen! Und dann würde er entdecken, dass ich nicht mehr dort war!
Und dann?
Ich lief abermals in mein Zimmer. Verdammt noch mal! Wo war sie hin?
Was sollte ich jetzt tun? Wo sollte ich noch suchen, überlegte ich, dann hörte ich etwas.
"Jetzt lass mich in Ruhe!"
Sabine.
Ich lief zum Schlafzimmer. Öffnete leise die Tür - nur einen Spalt breit.
Da war Minchen, stand weinend neben dem Bett, auf dem Sabine saß, das Gesicht in den Händen verborgen.
"Mama!" Minchen fasste sie am Arm, da stieß Sabine sie weg.
"Ich hab gesagt, du sollst mich in Ruhe lassen! Geh spielen!"
"Ist Papa noch böse?"
"Ja, was denkst du denn?" Sabine lachte. "Natürlich ist er böse!"
Ich schob die Tür weiter auf. "Minchen, komm!"
"Nein!", schluchzte meine Schwester.
"Komm her!", sagte ich.
"Nein!"
"Wirst du jetzt mal endlich rausgehen?", fuhr meine Mutter sie an und sah auf, da erkannte ich erst, wie viel sie vorhin noch hatte von Richard einstecken müssen.
Ihre Unterlippe war blutverkrustet, das linke Auge schmückte ein deutliches Veilchen und der Ausschnitt ihres inzwischen zerrissenen Pulllovers war voller roter Punkte.
Brandwunden, dachte ich, von einer Zigarette.
"Geh mit deinem Bruder!", wies Sabine Minchen an, die weigerte sich noch einen Moment. Dann nahm sie die Hand ihrer Mutter, drückte einen Kuss darauf und kam zu mir.
Zusammen liefen wir die Treppe hinunter in die Küche und in Richtung Hauswirtschaftsraum, da donnerte Richards Stimme von draußen ins Haus.
"Jasmin! Zum Teufel, wo steckst du? Komm sofort her!"
"Schnell!", flüsterte ich und zog Minchen am Arm mit mir, als ich gleich wieder aus der Küche heraus rennen wollte, doch meine Schwester weigerte sich, kralllte sich mit der Hand an der Türklinke fest.
"Was denn?", fragte ich sie. "Los komm, beweg dich!"
"Schlappi muss mit!", jammerte Minchen und wies zu einem der Küchenstühle, als ich Richard schon durch die Hintertür kommen hörte.
"Dafür haben wir keine Zeit", sagte ich. "Jetzt komm schon mit!"
"Will aber Schlappi!"
"Glaub ja nicht, dass du dich vor mir verstecken kannst, du freches Stück!", rief Richard, als ich gleichzeitig Jasmins Griff um die Türklinke löste, sie dann kurzerhand in meine Arme hob und mit ihr zum Wohnzimmer sprintete. Dort trat ich mit dem Fuß den Staubsauger zur Seite, öffnete die Terrassentür, schlüpfte hindurch und rannte dann weiter, nachdem ich sie hinter uns geschlossen hatte, durch den Garten hindurch zur Tankstelle und dann weiter die Straße entlang.
Erst als wir in die nächste Nebenstraße gebogen waren, blieb ich stehen. Ließ Minchen vom Arm, lief mit ihr an der Hand den restlichen Amselweg herunter, noch einmal um die Kurve und setzte unseren Weg fort bis zum nächsten Kiosk.
"Guten Tag!", begrüßte uns dort der Verkäufer hinterm Tresen - ein Mann in seinen späten Vierzigern. Er war kräftig gebaut, also nicht fett, hatte eine Glatze, trug dazu einen schwarzen Vollbart, welcher mit grauen Strähnen durchzogen war und eine dunkelblau umrahmte Brille mit kleinen runden Gläsern.
"Guten Tag!", erwiderte ich seinen Gruß. "Könnten wir vielleicht mal Ihre Toilette benutzen?"
"Natürlich." Er musterte mich einen Moment, schaute danach zu Minchen rüber, die weinte immer noch, nahm dann endlich einen großen Schlüssel vom Haken, der hing an einem Anhänger in Form eines Ankers und gab ihn mir. "Hier, bitteschön!"
"Danke", antwortete ich. "Na komm!" Ich zog Jasmin mit mir, ging vorbei am Eisschrank und den Kühlschränken mit Getränken darin hin zur Tür rechts in der hinteren Ecke mit der Aufschrift WC darüber.
"Dreh dich mal zur Wand!", forderte ich meine Schwester auf, nachdem ich den Hebel von innen an der Tür umgedreht hatte, stellte mich ans Pisssoir und machte meine Hose auf.
Nachdem ich meine Blase entleert hatte, ging es mir schon deutlich besser.
Schon komisch. Vor wenigen Minuten, als ich mit beiden Händen an der Heizung gefesselt im Abstellraum gefangen gewesen war, hatte ich tatsächlich noch überlegt, ob es nicht in Ordnung wäre, es einfach laufen zu lassen.
Mein Anblick im Spiegel über dem Waschbecken überraschte mich. Ich sah längst nicht so kaputt aus, wie ich angenommen hatte. Der blaue Fleck an meiner Wange fiel noch am meisten auf und das Auge darüber, welches nicht nur angeschwollen sondern auch deutlich blutunterlaufen war.
"Will Schlappi haben!", schluchzte Minchen, die stand immer noch mit dem Gesicht in Richtung Wand.
"Ich weiß, Minchen. Aber dafür hatten wir keine Zeit mehr. Tut mir leid!", meinte ich, ließ, nachdem ich mir die Hände gewaschen hatte, etwas Wasser in eine Handvoll Papiertücher laufen und wischte mir damit dann das angetrocknete Blut vom Gesicht.
"Du kannst dir gleich was im Laden aussuchen, okay? Ich kauf dir, was du möchtest", sagte ich, warf die blutigen Tücher in den Abfallkorb und zog mir dann ein paar neue aus dem Spender.
"Will Schlappi haben!", weinte Minchen.
"Den hast du ja auch", sagte ich und putzte mir die Nase. "Der sitzt Zuhause und wartet auf dich."
"Wir müssen ihn holen!", meinte meine Schwester und rieb sich mit den Händen über die Augen.
"Das geht jetzt nicht, Minchen."
"Wann gehen wir nach Hause?"
"Keine Ahnung."
"Will aber jetzt Schlappi haben!"
"Das geht nicht!"
"Doch, das-", begann Minchen und fing dann laut an zu husten, offenbar hatte sie sich an ihrer eigenen Spucke verschluckt.
"Minchen..." Ich fasste sie an den Armen und drehte sie dann sanft zu mir herum. "Hör mal...", sagte ich, legte meine Finger an ihr Kinn und hob ihren Kopf hoch, so dass sie mich ansehen musste. "Wir können jetzt erst mal nicht zurück nach Hause."
"Und wann können wir gehen?" Minchen schniefte.
"Wenn Papa wieder lieb ist."
"Papa ist böse."
"Genau", meinte ich, nahm noch einige Tücher aus dem Spender und wischte Minchen damit die Tränen vom Gesicht. "Und solange er das ist, müssen wir von ihm wegbleiben."
"Bei Mehmet Zuhause?"
Ich nickte. "Während wir bei ihm sind, darfst du dann auch ganz viel Fernsehen gucken. Und Eis essen", sagte ich und hielt ihr dann die Tücher an die Nase. "Das ist doch cool, oder?"
"Will zu Mama gehen", meinte Minchen daraufhin nur und schnäuzte sich. "Papa soll lieb sein."
"Das ist er auch bald wieder", sagte ich und hasste mich im selben Moment für meine Worte.
Wieso erzählte ich so etwas? Das wusste Minchen doch genauso gut wie ich, dass das gelogen war.
Von wegen Richard und lieb! Der würde bestenfalls mal ein paar Tage hintereinander nicht ausrasten.
Das war schon alles, was man von so jemanden erwarten konnte.
"Wollen wir nun mal gucken, was die hier so Leckeres zu verkaufen haben?", fragte ich.
Minchen antwortete nicht.
"Na komm!", sagte ich, nahm sie an die Hand und wollte sie mit mir aus dem Raum führen, doch meine Schwester sträubte sich, entzog mir ihre Hand und wollte sich dann auf dem Boden setzen.
"Nicht!" Ich hielt sie fest. "Der Boden ist doch ganz dreckig!", meinte ich und musterte Minchen dann, die wich meinem Blick aus.
"Was ist denn?", fragte ich.
Minchen antwortete nicht.
"Musst du noch auf Toilette?"
Schweigen.
"Sonst geh ruhig!"
Minchen schüttelte den Kopf.
"Also musst du nicht?"
"Nein", sagte meine Schwester.
"Okay, dann komm jetzt!"
°○ Eduard ○°
"Und was meint Leon dazu, dass du jetzt in einer Wohngruppe lebst?"
"Dem gefällt das glaub ich ganz gut."
"Ist er dich denn schon besuchen gekommen?"
"Ja... Vorgestern." Wieder beließ es Maria bei dieser einen knappen Antwort, auch wenn ich natürlich merkte, dass sie deutlich mehr über dieses Thema zu erzählen hatte, wenn sie denn dazu bereit wäre.
Wir liefen immer noch nebeneinander her, hatten jetzt den kleinen Wald in der Nähe der Altstadt errreicht. Dieser bestand im Prinzip lediglich aus einer kleinen Ansammlung von Eichen und Kastanienbäumen, um die sich ein schmaler Pfad hindurchschlängelte, war also kein Vergleich zu den großflächigen Waldgebieten in Baden-Württemberg, wo meine Tante wohnte. Dort konnte man sich leicht verlaufen, wohingegen man hier nach einem schätzungsweise halbstündigen Spaziergang schon alles gesehen hatte.
Der Name Wald passte also gar nicht wirklich, weswegen ich ihn früher, wenn ich mit meinen Eltern und Ranja im Kinderwagen hier spazieren gewesen war, immer Zwergenwald genannt hatte.
"Und habt ihr beiden denn jetzt auch zusammen Weihnachten gefeiert?", fragte ich, legte einen Arm um Maria und zog sie näher an meine Seite.
"Wir waren bei Leon Zuhause.", erzählte Maria. "War ganz gut."
"Das freut mich", meinte ich und unterdrückte ein Grinsen.
Von wegen ganz gut! Da hatte ich aber etwas anderes gehört!
"Also hattet ihr eine schöne Zeit miteinander?"
"Ja... schon", meinte Maria, wobei ihr jetzt deutlich anzuhören war, wie bekümmert sie war.
Was genau auch immer zwischen Leon und ihr während der Weihnachtstage vorgefallen war, harmonisch war das garantiert nicht gewesen.
"Hat Leon dir auch etwas geschenkt?", fragte ich, nicht, weil mich die Antwort darauf tatsächlich interessierte, sondern eher um dass Gespräch im Gang zu halten. Und um endlich herauszufinden, was genau jetzt eigentlich hier los war.
Warum sollte Leon Manuel gegenüber behaupten, dass Maria mit ihm Schluss gemacht hatte? Da musste doch irgendetwas dran sein!
"Ich habe eine Halskette von ihm bekommen", sagte Maria. "Aus Silber mit Herzen dran. Guck, so!"
Bei diesen Worten blieb sie stehen, streckte den Fuß aus und malte mit dessen Spitze zwei ineinander verschlungene Herzen in die dünne Schneeschicht am Rande des Weges.
"Hübsch", meinte ich. "Aber wieso zeigst du mir denn nicht einfach die Kette?"
"Das kann ich leider nicht."
"Warum?"
Maria biss sich auf die Unterlippe, schien erneut mit ihrer Antwort zu hadern. "Sie ist kaputt gegangen", sagte sie schließlich.
"Oh!" Ich machte ein betroffenes Gesicht. "Und wie ist das passiert?"
Maria schluckte. "Mein Vater... er hat das rausgefunden mit Leon und mir", offenbarte sie. "Da ist er richtig böse geworden und..." Ein weiteres Schlucken. "Da hat er die Kette dann durchgerissen."
"Oh", sagte ich wieder, überlegte einen Moment, was ich sonst noch sagen sollte und zuckte schließlich mit den Achseln. "Die lässt sich aber doch sicher wieder reparieren, oder?" "Vielleicht... keine Ahnung."
"Oder sonst kauft Leon dir eine neue."
"Das glaub ich eher nicht", sagte Maria, scheinbar mehr zu sich selbst, als zu mir.
Jetzt wurde ich hellhörig.
"Wie kommst du darauf?"
"Ja... ist gerade nicht so einfach zwischen uns."
"Wie meinst du das?"
"Wir haben uns gestritten", antwortete Maria. "Also... Jetzt nicht wirklich gestritten. Ich bin eigentlich nur wütend geworden und... da hab ich Leon halt die Meinung gesagt und... Ja..."
"Du hast ihm die Meinung gesagt?"
"Ja... keine Ahnung", meinte Maria. "War auch irgendwie blöd, das alles."
°○ Maria ○°
"Was hast du denn zu ihm gesagt?", fragte Eddie und wirkte dabei schon merklich erstaunt, als ob das so eine Riesensache wäre, wenn ich Leon die Meinung sagte. Das tat ich doch oft genug!
"Ich hab nur gesagt, dass er sich nicht überall einmischen soll."
"Und was hat Leon dazu gemeint?", fragte Eddie weiter.
"Keine Ahnung", sagte ich wieder. "Hab ich vergessen."
In Wahrheit wusste ich natürlich noch ganz genau, was Leon dazu gemeint hatte. Und wie sehr es ihn verletzt hatte, was ich ihm sonst noch alles entgegen gebrüllt hatte.
Ich hatte ihm vorgeworfen, dass er der Grund dafür war, dass ich aus meinem Zuhause herausgerissen und dann in dieses Wohnheim des Wahnsinns gesetzt worden war.
Hatte behauptet, dass ihm das wohl auch ganz recht wäre, dass ich keinen Kontakt mehr zu meinem Vater haben durfte. Dass es mir sogar verboten war, mit ihm zu telefonieren!
Warum hätte ich das auch nicht behaupten sollen?
Leon hasste meinen Vater! Daraus hatte er noch nie ein Geheimnis gemacht. Wahrscheinlich hasste er ihn sogar noch deutlich mehr als Eddie.
"Das hat ihn doch bestimmt übelst aufgeregt", sagte Eddie. "Wenn du ihm sowas an den Kopf knallst."
Hörte ich da Belustigung in seiner Stimme?
"Aufgeregt hat es ihn eigentlich gar nicht wirklich.", meinte ich. "Eher verletzt, glaube ich."
"Verletzt?" Eddie grunzte, hielt sich dann jedoch gleich eine Hand vor dem Mund, als ich ihm einen bösen Blick zuwarf.
"Findest du das jetzt witzig?"
"Nein!"
"Doch, tust du!"
"Nein... das ist nur, weil... na ja... Leon und verletzt... das klingt ja schon irgendwie... unpassend."
"Unpassend?"
"Du weißt schon, was-"
"Nein, weiß ich nicht!", fiel ich Eddie ins Wort. "Und du warst auch gar nicht dabei! Dann weißt du noch viel weniger!"
"Ja... stimmt schon", lenkte Eddie ein, der schien angesichts meines jähen Wutausbruchs ehrlich bestürzt zu sein. "Tut mir leid."
Du kannst mich mal, dachte ich und beschleunigte meine Schritte, auch wenn ich wusste, dass ich diese Geschwindigkeit auf keinen Fall allzu lange würde durchhalten können - nicht in jenem erbärmlichen Zustand, in welchem sich mein Körper momentan befand, wo es mir dank meines Schnupfens schon Schwierigkeiten bereitete, fürs normale Spazierengehen genügend Luft zu bekommen.
"Hey!", rief Eddie hinter mir. "Maria... jetzt warte doch mal!"
"Lass mich!"
"Du hast ja recht." Auch Eddie begann jetzt schneller zu laufen, hatte mich schon bald wieder eingeholt. "Kann gut sein, dass Leon das verletzt hat."
"Es war so!", sagte ich.
"Ja... okay... aber... Komm, jetzt sei doch nicht sauer... Bitte!", flehte Eddie, dessen Finger schlossen sich nun um mein Handgelenk und zwangen mich somit zum Stehenbleiben. "Ich finde es auf jeden Fall gut, dass du Leon das gesagt hast."
"Wie schön!", sagte ich und hustete.
"Nein, wirklich!", beharrte Eddie. "Ich kann ja verstehen, dass du das jetzt scheiße findest, wenn ihr deswegen Streit miteinander habt, aber-"
"Ich hab ihn rausgeschmissen", unterbrach ich ihn. "Und deswegen denkt er jetzt, dass ich Schluss gemacht habe."
"Aber das hast du nicht."
"Nein!", antwortete ich, noch um einiges lauter, als ich wollte, was mich narürlich direkt zum Husten brachte. "Warum sollte ich das tun?"
"Na ja... Gründe gäbe es dafür genug."
"War ja klar, dass du das sagst!"
"Weil es stimmt", sagte Eddie. "Auch wenn du das nicht wahrhaben willst."
"Ja, genau!" Ich verdrehte die Augen. Jetzt ging das schon wieder los!
"Ist wohl besser ich rede über dieses Thema einfach gar nicht mehr mit dir."
"Wieso, das-"
"Dir wäre das doch sowieso am liebsten, ich würde Leon einfach ganz in die Wüste schicken!", fiel ich Eddie ins Wort.
"Wie kommst du darauf?"
"Du kannst ihn nicht ausstehen."
"Ja, das stimmt." Eddie senkte den Blick. "Aber das hat ja nichts mit dir zu tun... also, mit euch, meine ich."
"Genau!", meinte ich. "Ist ja mal gut, dass du das weißt."
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