1. Er ist mein Vater!

°○ Maria ○°

"Jetzt zeig ich dir mal dein Zimmer", sagte die Betreuerin, Anfang zwanzig mit rot gefärbten Haaren, welche sie in einem hohen Pferdeschwanz zusammen gebunden hatte und lief voraus, den Korridor des Hauses entlang und dann links die hintere Treppe hinauf in den ersten Stock. Überall hier war es weihnachtlich geschmückt.
In der Ecke neben der Haustür standen Holzfiguren in Form eines Weihnachtsmannes, eines Rentieres sowie eines Schneemannes. An die Scheiben der Fenster waren kleine Engel und Sterne mit weißer und goldener Farbe gemalt worden. An der hinteren Wand des Esszimmers hing ein Adventskalender: rotweiße Socken an einer langen Leine entlang aufgereiht, alle mit jeweils einer Nummer zwischen eins und vierundzwanzig bestickt.
Das schönste von allem war jedoch der Weihnachtsbaum, welcher im Wohnzimmer neben der Terassentür stand und mit Strohsternen, blauen Kugeln, goldenen Glöckchen und einer Lichterkette geschmückt war.
Insgesamt machte die Wohngruppe einen ganz netten Eindruck, wobei es jedoch auch nicht schwer gewesen war, meine Erwartungen zu enttäuschen. Laut denen sah es in Wohngruppen nämlich grundsätzlich aus wie in einem dieser Gefängnisse, in jenen Psychofilmchen, welche Manuel sich gerne im Fernsehen anschaute.
Mein Zimmer, wie die Betreuerin es nannte, war ziemlich klein, hatte aber alles, was man so brauchte: ein Bett mit einem Nachttisch daneben, ein Schreibtisch mit einem Stuhl davor sowie einem Bücherregal darüber, eine kleine Sitzecke unterm Fenster und einem Kleiderschrank mit Spiegel.
"Dein Badezimmer ist direkt gegenüber. Das teilst du dir mit den anderen Mädchen", erklärte die Betreuerin - sie hatte sich vorhin, als ich mit der Frau vom Jugendamt hergekommen war, vorgestellt, aber ich hatte ihren Namen kurz darauf schon wieder vergessen.
"Okay", meinte ich.
"Wir haben dir erst mal ein paar Klamotten vom Dachboden geholt." Der Rotschopf öffnete die Türen des Kleiderschranks, da lagen ein paar Sachen, ordentlich gefaltet und übereinandergestapelt. "Deine eigenen Klamotten organisieren wir uns dann später her. Und andere wichtige Sachen. Da kannst du ja eine Liste für schreiben, wenn du Lust hast."
"Okay", meinte ich wieder nur und räusperte mich.
"Jetzt möchtest du dich sicher erst mal ein bisschen einleben, oder?" Die Betreuerin sah mich an, ein freundliches Lächeln im Gesicht. "Du kannst dich sonst auch gerne zu den anderen Kindern ins Wohnzimmer setzen und ein bisschen fernsehen."
"Lieber nicht", sagte ich.
"Um sieben Uhr gibt es Abendessen."
"Okay."
"Möchtest du sonst noch etwas wissen?"
"Nein", sagte ich.
"Wenn du noch etwas brauchst, oder... einfach quatschen willst, dann komm einfach zu mir. Hier sind immer zwei Betreuer über Tag. Und Nachtdienst hat immer einer."
Ich schwieg.
Der Rotschopf lächelte wieder, legte mir eine Hand auf dem Arm und rieb kurz darüber. "Alles klar! Alex oder ich schauen dann nachher noch mal nach dir."
"Okay", sagte ich. "Vielen Dank fürs Zeigen und... so."
Als die Betreuerin das Zimmer verlassen hatte, schaute ich mich noch eine Weile im Zimmer um.
Dann setzte ich mich aufs Bett.
Zog Leons Handy, welches er mir vorhin geliehen hatte, aus der Jackentasche, entsperrte es und rief Mehmets Nummer an.
Dieser meldete sich nach dem dritten Klingeln.
"Hey Maria!" Im Hintergrund war laute Musik zu hören.
"Hi", sagte ich.
Ein Mädchen kreischte und ein Junge lachte daraufhin.
"Ali, jetzt lass das doch mal!" Verenas Stimme.
"Und, bist du schon in der Wohngruppe?", fragte Mehmet
"Ja, jetzt gerade angekommen."
"Und wie ist es so?"
"Ganz nett", antwortete ich. "Die Betreuerin hat mir schon alles gezeigt."
"Und jetzt bist du in deinem Zimmer?"
"Ja", sagte ich, dann räusperte ich mich wieder. "Könnte ich vielleicht mal mit Leon sprechen?"
"Klar, der ist gerade in der Küche. Warte mal eben!" Ich hörte, wie die Musik und das Lachen im Hintergrund leiser wurde.
"Ist sie das?" Leons Stimme. Er klang aufgeregt. "Hey Süße! Na, wie geht's dir? Wo bist du gerade?"
"Schon in der Wohngruppe", antwortete ich.
"Und, wie ist es da so?", fragte Leon.
"Ganz nett", antwortete ich wieder.
"Und wie sind die Leute da?"
"Ich...weiß nicht. Bin ja gerade erst hier", sagte ich. "Die Betreuer waren ganz nett und... die anderen Kinder sind irgendwie komisch."
"Was meinst du mit komisch?"
"Ja... keine Ahnung... Das eine Mädchen hat so wilde Haare irgendwie und ganz schwarz. Und der eine Junge ist ganz dünn und... irgendwie unheimlich... ich weiß nicht... so wie der guckt."
"Hast du dich denn schon mit jemanden von denen unterhalten, oder-"
"Wir haben unsere Namen gesagt."
Wie viele Bewohner sind da denn?"
"Ich weiß nicht genau... schon ein paar mehr."
"Und was macht ihr gerade?"
"Ich bin in meinem Zimmer", antwortete ich. "Und die anderen... weiß ich nicht. Ein paar von denen sitzen im Wohnzimmer und gucken Fernsehen. So einen Actionfilm. Mit Autos."
"Fast and Furious", meinte Mehmet.
"Klingt doch cool", sagte Leon.
"Ja... na ja..." Ich nieste. "Tut mir leid... ja... also, sowas ist eher nichts für mich."
"Kannst dich aber ja trotzdem mal dazu setzen."
"Also... ja... ich will im Moment glaub ich lieber alleine sein."
"Ja, okay...", sagte Leon und ich meinte dabei förmlich vor mir sehen zu können, wie er die Augen verdrehte. "Aber später gehst du dann noch ein bisschen unter die Leute."
"Ja... um sieben gibt es Abendessen."
"Gut", sagte Leon.
"Und was macht ihr noch so heute?"
"Wir gehen nachher noch ins Zoney."
"Oh ja... die Weihnachtsfeier." Daran hatte ich gar nicht mehr gedacht.
"Wer ist denn gerade alles da?"
"Ja, Ali und Verena sind vorhin noch gekommen", erzählte Leon.
"Und Melanie?"
"Die ist noch bei ihrer Schwester."
"Oh!", sagte ich.
"Ja... voll schade, dass du heute nicht dabei bist."
"Ja, tut mir auch leid... das alles."
"Das muss es doch nicht!", sagte Leon und stieß dabei ein Geräusch aus, bei dem ich mir nicht sicher war, ob es sich dabei um ein Lachen oder ein Schnauben handelte. "Hast dir das doch nicht ausgesucht, wie das alles gelaufen ist!"
"Ja... hab mich aber auch viel angestellt heute", sagte ich. "Hätte mich besser zusammenreißen müssen."
"Was laberst du?"
"Ist doch so!"
"Süße, das ist-"
"Wäre ich nicht die ganze Zeit so ausgeflippt, dann wäre ich jetzt bestimmt noch zu Hause."
"Und das wäre gut?"
"Natürlich wäre das gut!"
"Du meinst, damit dieses Schwein-"
"Er ist mein Vater!"
"Ich weiß." Leon seufzte.
Eine Weile sagte keiner von uns etwas, dann ergriff Leon wieder das Wort: "Passt es dir, wenn ich dich Morgen mal besuchen komme?"
Ich antwortete nicht.
"Maria?"
"Ja... also... um ehrlich zu sein, passt mir das Morgen eher nicht", sagte ich und biss mir dann gleich auf die Unterlippe. Hätte ich das vielleicht lieber nicht sagen sollen?
"Oh... ja... okay." Die Enttäuschung in Leons Stimme war nicht zu überhören. "Dann vielleicht Übermorgen?"
"Ich weiß nicht...", sagte ich.
"Was weißt du nicht?"
"Geht mir im Moment halt nicht so gut."
"Ja.... ich weiß."
"Tut mir leid."
"Schon gut!", meinte Leon und schien hörbar darum bemüht, unbeschwert zu klingen, auch wenn er in Wahrheit sicher alles andere als begeistert darüber war, dass ich ihn abblitzen ließ. Aber wer konnte ihm das auch verdenken?
Ich war ja selber nicht glücklich darüber, dass ich mich jetzt schon wieder so anstellen musste.
Hätte ich vielleicht besser lügen sollen?
Hätte ich so etwas sagen sollen, wie "Gute Idee, ich kann es kaum erwarten. Warum ziehst du nicht gleich mit zu mir ins Zimmer?"
Ich wollte ihm nicht wehtun, dachte ich.
Aber warum tat ich es dann immer wieder?

°○ Manuel ○°

Sie hatten ihn abgeholt. Einfach so von jetzt auf gleich hatten sie an der Tür geklingelt, Bente Handschellen angelegt und abgeführt.
Die Polizei.
Es gehe um die Tochter, hatten sie gesagt. Um ernste Anschuldigungen. Misshandlung. Und Sexueller Missbrauch.
Für all das gäbe es gewichtige Anhaltspunkte.
Und deswegen dann auch die Strafanzeige.
Sie wollten ihn anhören. Und mich natürlich auch.
Ein Haushalt, keine Geheimnisse.
Das Verhör war kurz gewesen.
"Haben Sie jemals etwas Verdächtiges zwischen Ihrem Vater und Ihrer Schwester beobachtet oder gehört?", hatte der Polizeibeamte mich befragt.
"Nein", hatte ich geantwortet. "Da war nichts, also... ich meine... ich hab nichts mitbekommen."
"Oder hat Maria irgendwann einmal oder bei mehreren Gelegenheiten einen verstörten Eindruck auf Sie gemacht?"
"Nein", hatte ich gesagt. "Das heißt... ja schon, aber... das ist ganz normal bei ihr. Sie ist eben öfter mal etwas überfordert?"
"Wie meinen Sie das?"
"Ja... keine Ahnung... das macht Maria wohl aus."
"In welchen Situationen ist ihre Schwester überfordert?"
"Na... also... immer, eigentlich."
"Und wie hatten Sie ihr Verhalten wahrgenommen, kurz nachdem Sie mit Ihrem Vater alleine gewesen war?"
"Ganz normal. Etwas aufgebracht vielleicht, wenn die beiden sich gestritten hatten."
"Kam das denn öfter vor?"
"Ja, schon."
Jeden Tag, hatte ich in Gedanken hinzugefügt, vor allem innerhalb der letzten Wochen.
Da war es schlimmer geworden.
Da war Maria dann auch öfter mal abgehauen, weil sie es nicht mehr zu Hause ausgehalten hatte.
Mir war das natürlich nicht entgangen, wie sehr ihr Zustand sich mit der Zeit verschlechtert hatte. Wie übermüdet sie gewirkt hatte. Und wie viel öfter sie geweint hatte, als sowieso schon.
Das alles hätte ich dem Polizisten erzählen können.
Und noch mehr.
Aber ich hatte es nicht tun müssen. Das hatten sie mir selbst gesagt, noch ganz am Anfang des Verhörs, wo ich über meine Rechte aufgeklärt worden war.
Ich hatte nichts sagen müssen, womit ich meinen Vater belastet hätte. Und rein offiziell war Bente immerhin noch mein Vater.
Also hatte ich nichts gesagt.
Einen Koffer hatte ich unter meinem Bett, einen zweiten fand ich auf dem Dachboden.
Alles würde nicht reinpassen. Aber das war mir egal. Hier konnte ich nicht bleiben, keinen Tag mehr.
Den Computer könnte ich mir ja sicher später noch nachholen. Auch die Matratze, die hatte ich mir vor ein paar Wochen erst neu gekauft, nachdem ich mir das Geld dafür über Monate zusammengespart hatte. Der Job im Tankshop war dabei auf jeden Fall sehr hilfreich gewesen.
Wahllos griff ich mir einen Stapel Pullover aus dem Kleiderschrank und steckte ihn in den Koffer, zusammen mit ein paar Jeanshosen, Boxershorts und Socken.
Maria hatten sie jetzt in irgendeiner dieser Wohngruppen einquartiert, wo genau, wollten mir die Polizisten nicht sagen. Deswegen sollte ich mich mal besser ans Jugendamt wenden. Sollte mich wundern, wie meine Schwester das überleben sollte, unter einem Dach zusammen mit einem wilden Haufen von Terrorkindern.
Für die reichte so eine erbärmliche Heulsuse wie Maria doch noch nicht mal zum Frühstück.

°○ Maria ○°

Es klopfte an der Tür.
"Maria?" Die Betreuerin von vorhin.
Ich reagierte nicht, blieb einfach im Bett liegen, die Decke bis zum Kinn hochgezogen.
Ein zweites Klopfen, dann wurde die Tür geöffnet. "Bist du fertig mit deinem Telefonat?"
"Ja", sagte ich nur, nahm gleich Leons Handy, entsperrte es und gab es ihr.
Die Betreuerin wischte etwas mit dem Finger darauf herum, wohl um die Liste mit den letzten Anrufen durchzugucken, dann nickte sie zufrieden.
"Schön, du hast dich also an unsere Abmachung gehalten."
"Ja, natürlich", meinte ich.
Was war mir auch für eine andere Wahl geblieben?
Würde ich nur einmal versuchen, meinen Vater anzurufen, und sie bekämen Wind davon, wäre es das erst mal gewesen mit dem Telefonieren, hatte man mich vorhin noch gewarnt. Dann dürfte ich das allenfalls nur noch in Begleitung über den Festnetzanschluss im Büro.
Und davon mal ganz abgesehen würde es die Situation für Vater auch nicht wirklich leichter machen, wenn man ihm nachweisen könnte, dass er sich gegen die Auflage des Familiengerichts auf ein Gespräch mit mir eingelassen hätte. Wegen so einem Verstoß gegen ein Gerichtsurteil könnte er ernsthaft bestraft werden. Und das wollte ich nun wirklich nicht, hatte ich ihn auch so schon genug in Schwierigkeiten gebracht.
"Das Abendessen ist fertig", wurde ich aus meinen Gedanken gerissen. "Kommst du?"
"Ich habe keinen Hunger", antwortete ich.
"Dann kannst du ja wenigstens einen Tee trinken", sagte die Betreuerin und winkte mich zu sich. "Na komm, die anderen Kinder möchten dich doch auch gerne mal kennenlernen."
Ja und wenn sie es tun, dann bereuen sie es, dachte ich, schlug widerwillig die Decke zurück und stand dann langsam auf.
"Heute gibt es Raclette", sagte die Betreuerin.
"Raclette?", fragte ich. "Was ist das?"
"Das ist so ein schönes Essen in der Gruppe. Da kann sich jeder das machen, was er möchte."
"Ach so", sagte ich und folgte der Betreuerin durch den Flur in die hell erleuchtete Küche, in der schon alle Kinder sichtlich erwartungsvoll am langen Esstisch vor ihren leeren Tellern saßen.
"Na, bist du jetzt auch mal aus deinem Loch gekrochen?", begrüßte mich das blasse Mädchen mit den strubbeligen schwarz gefärbten Haaren, welches ich bei meinem Rundgang durch die Wohngruppe heute Nachmittag schon gesehen hatte.
Ich setzte mich wortlos auf den einzigen noch freien Stuhl, direkt links vom Kopfende des Tisches, auf dem die Rothaarige Platz nahm und rechts von dem frechen Mädchen.
"Hey, bist du taub?", fragte der Junge mit dem millimeterkurz geschorenen Haaren und dem stechenden Blick, welcher ebenfalls vorhin im Wohnzimmer gewesen war und mir jetzt direkt gegenüber saß. "Kannst ja wenigstens mal hallo sagen!"
"Wie heißt du überhaupt?", fragte das Mädchen mit den schwarzen Haaren.
"Maria", antwortete ich nur, den Blick fest auf den Tisch gerichtet, auf dem etliche Schüsseln und Teller mit Gemüsestückchen, Reibekäse und zu kleinen Streifen geschnittenes Rind- und Hähnchenfleisch standen und dazu noch zwei große Geräte, die so ein bisschen wie Grille aussahen, in denen jeweils mehrere kleine Pfännchen steckten.
Ein schönes Essen in der Gruppe, dachte ich und wäre spätestens jetzt am liebsten gleich wieder in mein Zimmer verschwunden. Wo sollte ich auch sonst hin? Einfach abhauen, so wie sonst immer, konnte ich hier ja schlecht hinter verschlossenen Türen und Fenstern, an denen die Griffe fehlten. Und selbst wenn, wo sollte ich hingehen? Wieder zu Mehmet? Da saßen die jetzt sicher gerade alle im Wohnzimmer, aßen Pizza und diskutierten darüber, wer von ihnen am meisten Alkohol trinken konnte, ohne davon kotzen zu müssen. Das wäre jetzt nichts für mich. Aber es wäre immer noch besser, als hier zu sitzen und sich von irgendwelchen komischen Leuten anstarren zu lassen, als käme man von einem anderen Stern.
Wie die schon redeten! Als ob ich denen etwas getan hätte! Und dabei hatte ich die alle doch überhaupt noch nie gesehen.
"Okay Leute, jetzt zeigen wir Maria mal, wie nett wir die Neuen hier begrüßen. Vorstellungsrunde!", rief der Rotschopf. "Eileen, fang du mal an!"
"Sowas albernes!", meckerte die Zicke mit den schwarzen Strubbelhaaren.
"Wir sind hier doch nicht im Kindergarten!", sagte der dünne Junge mit dem stechenden Blick.
"Soll die doch erst mal anfangen, sich vorzustellen!", meinte ein blonder Junge mit blauen Augen und einer großen Nase, welche so ein bisschen wie eine Steckdose aussah.
"Wie heißt du? Wie alt bist du? Wo kommst du her? Was sind deine Hobbies?", fragte die Betreuerin, den Blick weiterhin auf das blasse schwarzhaarige Mädchen gerichtet.
Die stöhnte noch einmal laut auf, dann wandte sie sich an mich. "Ich bin Eileen, vierzehn Jahre und komme aus Berlin."
"Was sind deine Hobbies?", fragte Alex, der andere Betreuer an der linken Seite des Tisches, schwarzhaarig mit muskulösen Armen, welche voller Tattoos waren; auch an seinem Hals trug er eins - das Bild einer Schlange.
"Reiten, Fernsehen-"
"Und vögeln", unterbrach sie der blonde Junge mit der großen Nase.
"Hat sie doch schon gesagt, reiten!", rief der Junge mit dem stechenden Blick, da lachten alle.
"Schluss jetzt!", rief Alex in die Runde. "Willst du noch etwas ergänzen, Eileen?"
"Nö", sagte Eileen. "Wurde ja schon alles gesagt." Sie grinste.
"Dann bist du jetzt dran", sagte die Rothaarige an das junge Mädchen links von Eileen, die war dick, hatte lange schwarze Locken und einen lieben fast schon abwesenden Gesichtsausdruck. "Wie heißt du?"
Das Mädchen antwortete nicht.
"Wie heißt du?", fragte der Rotschopf erneut. "Komm, sag mal!"
"Sag mal deinen Namen!", forderte nun auch Alex, als das Mädchen immer noch nicht reagierte, da verzog die das Gesicht zu einem breiten Grinsen, welches gelbe Zähne mit einer Lücke oben an der rechten Seite entblößte.
"Sag mal Ri-car-da!", meinte die Rothaarige.
"Och Stella!", mischte sich da Eileen ein. "Jetzt lasst sie doch mal! Die Behinderte sagt doch eh nichts!"
"Das Wort will ich hier nicht hören, das weißt du ganz genau!"
"Aber es ist doch-"
"Eileen!", rief Stella ihr dazwischen.
"Warum stellst du Ricarda nicht einfach vor?", fragte Alex.
Erneut verdrehte Eileen die Augen, holte dann einmal tief Luft und wandte sich schließlich an mich: "Das ist Ricarda." Sie nickte zu dem immer noch übers ganze Gesicht strahlende Mädchen. "Zwölf Jahre, kommt von ihrer Mutter aus dem Arsch gekro-"
"Eileen! Auszeit! Jetzt!", donnerte Stella über dem Tisch, so laut, dass ich erschrocken zusammenzuckte.
Sie wies zur Tür, den Blick wie festgetackert auf Eileen gerichtet, die reagierte zunächst nicht, saß stattdessen mit vor der Brust verschränkten Armen da und erwiderte Stellas bösen Blick.
Dann stieß sie ein genervtes Stöhnen aus, erhob sich von ihrem Platz, verließ den Raum und knallte die Tür hinter sich zu.
"Also...", fuhr Alex fort, ganz so, als wäre überhaupt nichts gewesen. "Das liebe Mädchen hier ist Ricarda, zwölf Jahre alt und kommt... aus der Nähe von Leipzig, richtig?" Er sah Stella an, die nickte.
"Ihre Hobbies sind Malen, Hörspiele hören und... schaukeln", schloss Alex.
"Und jetzt du!", sagte er zu der kleinen Steckdosennase neben ihm.
"Ich bin Fabian, dreizehn, komme aus der Nähe von... Wolfsburg uuund... spiele gerne Fußball", sagte der Junge.
"Okay...", begann der Junge neben ihm und machte dann eine Pause, scheinbar eher um den Moment mehr Bedeutung zu verleihen, als weil ihm gerade nichts einfiel. "Ich bin Daniel, fünfzehn Jahre" An dieser Stelle holte er erst einmal hörbar Luft, bevor er dann fortfuhr. "komme aus Paderborn und liebe Filme, am liebsten solche, die aus dem Genre Action, Horror und dabei besonders solche aus dem Bereich Splatter, Gore und-"
"Danke Daniel!", unterbrach ihn Alex und wandte sich dann dem dünnen Jungen mit dem stechenden Blick neben Daniel zu, welcher diesem einem derart finsteren Blick zuwarf, als sei er kurz davor, ihm eine ins Gesicht zu schlagen, oder Schlimmeres. "Du bist dran!"
Zunächst reagierte der Junge nicht, sah auf seinem Teller herunter, atmete einmal tief durch, kniff dann die Augen zusammen und richtete die Augen schließlich auf mich.
"Luca, 16, Greven."
"Und deine Hobbies?"
"Das ist meine Sache!", fuhr Luca Stella an, da konnte man schon meinen, sie hätte ihn beleidigt.
"Okay... dann mach ich mal weiter", sagte Stella. "Also... ich heiße Stella, bin zweiundzwanzig Jahre alt, komme aus Telstede und meine Hobbies sind Zumba und Reiten."
Neues Gelächter ertönte.
"Och, kommt schon!" Stella verdrehte die Augen. "Was stimmt denn nicht mit euch?"
"Bist du denn jetzt fertig?", wollte Alex wissen.
"Japp, du bist dran."
"Alles klar... Also, ich bin Alex, siebenundzwanzig Jahre, komme aus Hamburg und meine Hobbies sind Gitarre spielen und Motorrad fahren."
"Torad fahren!", rief Ricarda dazwischen und klatschte immer noch fröhlich grinsend in die Hände.
"Sei ruhig!", schnauzte Luca sie an, da hörte Ricarda gleich damit auf, grinste dabei aber nur noch breiter. "Luca! Luca! Lucacaca!"
"Halt's Maul, du scheiß Spas-"
"Luca, es reicht!", fiel Alex ihm streng ins Wort. "Darüber haben wir vorhin noch gesprochen, weißt du noch?"
"Magst du dich jetzt auch mal vorstellen?", fragte Stella mich.
"Darf ich jetzt wieder reinkommen?", fragte Eileen, die stand vor der Küchentür und lugte um die Ecke.
"Ja, kannst du", antwortete Stella und sah dann wieder mich an.
Ich sagte zunächst nichts, beobachtete Eileen dabei, wie sie neben Ricarda und gegenüber von Luca am Tisch Platz nahm und spürte dann, wie mein Herz spürbar schneller zu schlagen begann, als schon bald alle Augenpaare auf mich gerichtet waren.
"Also, ich... heiße Maria, bin... fünfzehn und... komme aus... also von hier."
"Von wo?", fragte Eileen.
"Ja... aus Berneburg."
"Und was sind deine Hobbies?", fragte Fabian.
"Ich... weiß nicht... ähm..."
"Ähm, äh, ähm, ähm!", äffte Fabian mich nach. "Echt mal! Kannst du nicht vernünftig reden?"
"Ja... tut mir leid, ich... ähm-
"Ähm, ähm, ähm!"
"Fabian, jetzt lass sie mal!", wies Alex ihn zurecht.
"Was tust du gerne in deiner Freizeit?"
"Ich... guck gerne Fernsehen und... treff mich mit meinem Freund."
"Du hast einen Freund?", platzte Eileen heraus? "Das glaub ich dir nicht."
"Es stimmt aber", meinte ich.
"Und wer soll das sein? Quasimodo, oder was?"
"Eileen! Willst du eine neue Auszeit?", fragte Alex.
"Scheiße nein!" Eileen riss empört die Augen auf. "Warum soll ich-"
"Dann sei mal nett!"
"So, dann können wir jetzt ja anfangen, oder?", fragte Stella in die Runde. "Guten Appetit!"
Auf diesen letzten Satz hin schnappten sich alle wie auf Kommando ihre Pfännchen und begannen diese mit Gemüse aus den Schüsseln zu befüllen, während Alex gleichzeitig einige Fleischstreifen auf die obere Grillfläche vom Raclette-Gerät legte.
Ich sah mich auf dem Tisch um. In meiner Nähe standen Schüsseln mit Erbsen, Maiskörnern und grünen Oliven. Nicht gerade mein Lieblingsgemüse, vor allen Oliven mochte ich überhaupt nicht. Aber was sollte ich machen? Etwa Eileen nach der Schüssel mit den Ananasstückchen fragen? Dann könnte ich auch genauso gut versuchen, mit der Wand zu reden! Oder sollte ich einfach aufstehen und sie mir selbst holen? Aber so etwas tat man ja nicht, da bekäme ich sicher gleich wieder einen drauf, überlegte ich, unterdrückte einen Seufzer und befüllte meine Pfanne dann mit den Sachen, die vor mir standen.
"Möchtest du auch von den Kartoffeln?" Stella hielt mir die Schüssel mit den Kartoffeln hin.
"Ja, danke." Ich nahm mir eine raus.
"Magst du die Schüssel mal weitergeben?"
"Was... Ach so, klar!", sagte ich, nahm der Betreuerin die Schüssel ab und reichte sie dann weiter an Eileen links neben mir, welche die Schüssel tatsächlich schweigend und ohne jeden Kommentar entgegen nahm.
Wer weiß, bei den vielen Sprüchen, die sie mir jetzt schon alles an den Kopf geknallt hatte, fiel ihr wahrscheinlich gerade nur nichts mehr ein, überlegte ich, zumindest für den Moment.
Aber bei dieser Eileen müsste ich mich wohl noch auf einiges gefasst machen.

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