71. Das ist alles ganz anders!
°○ Maria ○°
"Magst du dich mal wieder hinsetzen?" Niko nickte rüber zum Sofa, auf dem saß Leon und Mehmet dicht neben ihm.
Leon wirkte sichtlich erschöpft, hing schlaff in Mehmets Armen, die Augen blutunterlaufenen. Hatte er geweint?
Warum? War es wegen mir?
"Alles gut! Geh mal ruhig hin zu ihm!"
Ich zögerte noch einen Moment, dann ging ich langsam aufs Sofa zu, setzte mich neben Leon und nahm seine Hand in meine.
"Tut mir leid... Leon, ich...", begann ich, sprach dann jedoch nicht weiter.
"Schon gut!" Leon lehnte sich rüber zu mir und küsste mich.
"Ich wollte dich nicht aufregen."
"Das hast du nicht."
"Doch, ich-"
"Nein!" Leon legte seine Hände an mein Gesicht und wischte mir mit dem Daumen die Tränen aus dem Gesicht.
"Du kannst da nichts für."
"Ja, aber... ich... hätte mich mehr zusammenreißen müssen!" Ich schniefte. "Ihr habt doch immer nur Theater wegen mir", sagte ich, sah Leon an und spürte gleich wieder, wie mir neue Tränen in die Augen stiegen.
"Scheiße!" Ich wandte den Kopf zur Seite. "Tut mir leid!"
Leon sagte daraufhin nichts, legte stattdessen seinen Arm um meine Schultern, zog mich näher zu sich und gab mir einen Kuss auf die Wange.
"Was möchtest du jetzt?", fragte Niko. "Stell dir mal vor, du könntest dir etwas wünschen."
"Dann... würde ich gerne mit Eddie telefonieren."
"Und wieso möchtest du das?"
"Damit er mir bei den Hausaufgaben hilft", antwortete ich. "Das kann ich nicht alleine."
"Du hast Hausaufgaben auf? In den Ferien?"
"Ja."
"Von ihrem Vater", sagte Leon. "Der zwingt sie immer, irgendwelche Aufgaben zu machen."
"Als Strafe... wenn ich mich nicht gut benommen habe", meinte ich.
"Du meinst, wenn er gerade Bock darauf hat", verbesserte Leon mich.
"Na ja... manchmal hau ich ja auch ab", sagte ich. "Dann bin ich auch selber schuld!"
"Nein, bist du nicht!", erwiderte Leon, mit solch einer Heftigkeit in der Stimme, dass ich erschrocken zusammenzuckte.
"Du bist daran nicht schuld!"
"Woran meinst du, bist du schuld?", fragte Niko mich.
"Ja, das... ich meine... wenn er böse wird mit mir."
"Was passiert denn dann?"
"Ja... dann streiten wir uns immer."
"Und dann schlägt er dich", sagte Leon.
"Nein!", rief ich bestürzt aus. Wieso sagte er das jetzt? "Das stimmt doch nicht!"
"Doch, es stimmt!"
"Nein!", sagte ich wieder. "Das ist alles ganz anders!"
"Wie meinst du das?", wollte Niko wissen.
"Na ja... ich... ähm..." Meine Stimme versagte. Ich räusperte mich. "Vater bestraft mich, wenn... ich mich nicht benehme... dann gibt er mir immer Aufgaben."
"Ja... und dann auch gleich so viele auf einmal, dass sie die gar nicht alle schaffen kann", mischte Leon sich wieder ein.
Ich warf ihm einen bösen Blick zu, da zuckte er nur mit den Achseln.
"Ist doch so!"
"Meinst du mit Aufgaben Sachen für die Schule, oder auch solche Dinge, die im Haus zu tun sind?"
"Ja... beides", antwortete ich.
"Maria muss da immer alles machen", sagte Leon. "Und wenn sie dann alles sauber hat, zwingt das Arschloch sie, alles noch mal zu putzen und aufzuräumen."
"Und wenn du dann nicht tust, was dein Vater sagt, wird er böse mit dir?"
"Ja... manchmal bin ich ihm auch zu langsam... oder nicht ordentlich genug."
"Und dann streitet ihr euch?"
Ich nickte.
"Und manchmal... ist ihm dabei auch schon mal die Hand ausgerutscht."
Ich nickte wieder, schluckte und legte mir eine Hand an den Hals.
"Manchmal... ja", sagte ich und senkte den Blick. Spürte neue Tränen auf meinen Wangen. Leon, der seinen Arm um mich legte.
"Und manchmal... wenn dein Vater so richtig böse war... Ist da dann noch mehr passiert?"
Bei diesen Worten schien mein Herz mit einem Mal still zu stehen.
Gleichzeitig wurde ich von einem Gefühl der Kälte ergriffen.
Eine Kälte, wie ich sie noch nie zuvor gespürt hatte.
Eine Kälte, so tief in mir drin, als wäre sie schon immer da gewesen.
"War da schon mal irgendetwas anderes... zwischen euch, was sich für dich komisch anfühlte... so... als ob das nicht richtig wäre?"
Leons Arm, der mich noch enger an sich zog. Seine Hand, die meine hielt.
Ich schloss die Augen.
Wollte nichts mehr sehen.
Nichts mehr hören.
Ihre Blicke nicht mehr auf mir spüren.
"Möchtest du mir davon erzählen?"
Nein, dachte ich, das möchte ich nicht!
Ich wollte nichts davon erzählen!
"Kein Wort darüber! Zu niemandem!"
Vaters Gesicht dicht über mir. Blaue Augen, kalt wie Eis, die tief in meine blickten.
Ich nickte stumm. Spürte das stete Pochen in meinem Kopf. Das Klopfen meines Herzens, bis in meinen Hals hinauf. Den bitteren Geschmack der Angst wie Galle auf der Zunge.
"Maria?" Wieder Nikos Stimme. "Möchtest du mir davon erzählen?"
Nein, dachte ich wieder.
Ich durfte es nicht! Und konnte es auch nicht!
"Gibt es da etwas, worüber du mit niemandem sprechen darfst? Ein Geheimnis, nur zwischen euch beiden?"
"Süße..." Leons Finger, die behutsam meine Hand streichelten. "Dein Vater ist nicht hier... Dann brauchst du jetzt auch keine Angst vor ihm zu haben... Komm... Ich weiß doch, dass da etwas ist... Das sehe ich dir an."
"Tun wir alle", meinte Mehmet.
"Ihr versteht das nicht." Meine Stimme, fast tonlos, kaum noch ein Flüstern. Ich hustete. "Ihr... wisst nicht... wie er sein kann."
"Er kann dir hier nichts tun, Süße!" Leons Hand an meiner Stirn. Er strich mir die Haare aus dem Gesicht.
"Wir beschützen dich", sagte Mehmet.
"Komm, jetzt mach doch mal die Augen auf!"
Ich tat es. Sah als erstes Leon neben mir, Mehmet hinter ihm und Niko auf dem Sessel, wie vorhin auch schon.
Sie sahen mich alle an.
Ich erwiderte ihre Blicke.
Sah Sorge darin. Mitleid. Wut.
Und in Leons Augen noch etwas anderes.
Schmerz.
Ich schaute hinunter zu meinen Händen, verschränkte die Finger, wie zum Gebet. Machte wieder die Augen zu.
Als nächstes umfassten mich Leons Arme. Hoben mich hoch auf seinen Schoß.
Ich verbarg das Gesicht an seinem Hals. Spürte seine Arme, die mich hielten. Und begann dann leise zu schluchzen.
°○ Leon ○°
Behutsam strich ich Maria über den Rücken, auch noch eine ganze Weile, nachdem sie mit dem Weinen aufgehört hatte und inzwischen nur noch schlaff wie eine Puppe in meinen Armen lag.
Ich hörte ihre Atemzüge, das leise Pfeifen durch ihre Nase, welches regelmäßig durch lautes Schniefen unterbrochen wurde. Spürte ihre Tränen auf meiner Haut, genauso wie ihren Herzschlag, der sich nun allmählich beruhigte.
Ich sah Mehmet an und nickte zu dem Päckchen Taschentücher auf dem Tisch, der griff es sich gleich, zog ein Tuch heraus und gab es mir.
Ich dankte ihm stumm. Entfaltete das Taschentuch und reichte es Maria.
Die nahm es. Wischte sich damit die Tränen vom Gesicht.
Und begann dann zu reden.
"Wenn ich schlafen gehe, kommt Vater immer und sagt mir gute Nacht. Und dann gibt er mir einen Kuss und... ja..." Sie schniefte wieder. "Manchmal... macht er dann auch andere Sachen... wenn er böse ist, oder... irgendwie... ich weiß nicht...", erzählte Maria, machte eine weitere Pause, schnäuzte sich und fuhr dann fort. "Ich muss mich dann immer hinlegen... aufs Bett und er... kommt dann so... halt über mich und... ich... krieg dann kaum noch richtig Luft und dann... geht er mit seinen Händen halt so... über mich... überall und... ja... halt auch so..." Ihre Hände zitterten wieder, legten sich auf ihre Brüste und wanderten dann tiefer.
"Und ich muss dann immer warten... ganz still... und dann muss ich... ihm das so machen, dass er... na ja... Wenn er fertig ist, ist er dann immer ganz anders. Überhaupt nicht mehr wütend... ganz lieb so."
Schweigen.
Für wie lange?
Mehrere Minuten lang oder nur einen kurzen Augenblick?
Ich wusste es nicht.
Mir kam es vor wir eine Ewigkeit.
Scheiße!
Das war doch alles krank!
Abartig!
Pervers!
"Wann hat es angefangen?", fragte Niko.
"Da war meine Oma gerade gestorben", antwortete Maria, verzog das Gesicht und nieste, da gab Mehmet ihr gleich ein neues Taschentuch.
"Und wann war das?", fragte Niko weiter.
"Da bin ich gerade acht geworden", sagte Maria.
"Und... wie oft hat dein Vater dich... zu diesen Sachen gezwungen?"
"Ich weiß nicht... Also... manchmal schon öfter."
"Und hast du schon mal jemandem davon erzählt, was er mit dir macht?"
"Nein."
"Was ist mit deiner Mutter?"
"Die ist tot" , meinte Maria, den Blick fest auf die Hände in ihrem Schoß geheftet, in welcher sie das Taschentuch hielt.
"Oh... das... Tut mir leid."
"Ich war noch ein Baby, als sie gestorben ist. Da hatte sie einen Unfall... mit dem Auto."
"Tut mir leid."
"Ja...", sagte Maria nur, hielt sich dann das Tuch an die Nase und schnaubte noch einmal hinein.
"Muss ich jetzt weg von Zuhause?" Sie sah Niko an.
Der nickte. "Leider ja. Da sehe ich so jetzt keine andere Möglichkeit um da... sicher zu gehen, dass dir so etwas nicht noch mal passiert."
"So eine Scheiße darf er nie wieder mit dir machen!", sagte ich und rieb mir mit dem Handrücken übers vor Tränen nasse Gesicht, da warf Maria mir einen kurzen Blick zu, bevor sie sich dann schnell wieder den Händen in ihrem Schoß zuwandte.
"Ich schwör, wenn dieser kranke-"
"Leon!", unterbrach mich Niko. "Lass es gut sein!"
Er erhob sich und legte mir dann eine Hand auf die Schulter. "Ich versteh gut, dass du gerade aufgebracht bist, aber... damit hilfst du ihr jetzt auch nicht."
Er nickte zu Maria, dann zog er sein Handy aus der Jackentasche.
"Ich werde jetzt mal mit meiner netten Kollegin telefonieren und dann gucken wir... wie wir damit nun umgehen."
"Was bedeutet das?", fragte Maria.
"Was passiert jetzt... mit mir?"
"Mit dir passiert überhaupt nichts, keine Sorge! Wir müssen nur erst mal-"
"Und was ist mit meinem Vater?"
"Der wird sich dafür verantworten müssen, was er getan hat", antwortete Niko. "Du wirst jetzt erst mal keinen Kontakt mehr zu ihm haben dürfen." Er sah Maria an. "Das verstehst du doch, oder?"
Maria senkte den Blick.
"Ich finde das auf jeden Fall sehr mutig von dir, dass du uns von dieser Sache erzählt hast! Das war sicher nicht leicht für dich, und... Jetzt werde ich dir helfen. Darauf kannst du dich verlassen" Niko legte seine Hand auf die von Maria.
"Du musst da jetzt nicht mehr alleine durch", fügte er dann noch hinzu, drückte noch einmal Marias Hand. Und verließ den Raum.
°○ Fortsetzung im zweiten Teil ○°
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