69. Frohe Weihnachten!
°○ Maria ○°
"Wir können uns später ja noch Pizza bestellen", schlug Leon vor, als er mich fest an der Hand haltend aus der Arztpraxis raus und auf den Bürgersteig führte, so als befürchte er, dass ich ihm von einem auf dem nächsten Moment davon rennen und mit dem Kopf voran gegen das nächste Auto springen könnte.
Aber was wunderte mich das? Spätestens seit meinem Auftritt gerade eben musste er mich jetzt ja für komplett bescheuert halten.
"Hast du schon mal daran gedacht, dich umzubringen?"
Hätte wohl nicht mehr viel gefehlt und sie hätten mich in die Klapse gesteckt.
Da hätte Leon mich dann ja besuchen können. Wenn er dann überhaupt noch etwas mit mir hätte zu tun haben wollen. Das glaubte ich ja eher nicht.
"Du kannst auch einen Döner bekommen, oder wir holen uns etwas von King's Fries", riss Leons Stimme mich aus meinen Gedanken.
"Nein, danke."
"Ich kann dir auch was kochen, wenn du willst. Spaghetti oder-"
"Danke, aber das musst du nicht."
"Jetzt bedank dich doch nicht dauernd!", sagte Leon, daraufhin liefen wir eine Zeit lang schweigend nebeneinander her.
"Und was ist, wenn wir zu mir nach Hause gehen zum Essen?"
"Ich hab keinen Hunger."
Eher könnte ich noch kotzen, dachte ich.
"Aber du hattest heute ja noch gar nichts zu essen."
"Ich hatte einen Joghurt."
"Das zählt nicht."
"Für mich schon", erwiderte ich.
Leon sah mich an, schien einen Moment zu überlegen.
"Ist dir immer noch schlecht?", fragte er dann.
"Mir geht's gut." Was glaubte er denn?
"Du musst mich nicht anlügen, Süße."
"Tu ich ja auch nicht."
"Ich weiß, dass es dir nicht gut geht."
"Ja, toll!" gab ich zurück. "Dann brauchst du ja auch nicht zu fragen!"
Leons Handy klingelte, da zog er es gleich aus der Tasche und nahm ab.
"Hey... Ja, hab ich. Wir sind gerade raus beim Arzt... Erzähl ich dir später. Ist Niko noch da?... Dann sag ihm mal, er soll noch warten... Ich muss mit ihm reden... Ja, das weiß ich wohl, trotzdem. Es ist wichtig... Kann ich dir jetzt nicht sagen... Ja... Das erzähl ich dir später!" Leon seufzte. "Halt Niko einfach noch ein bisschen hin, ja?... Ist klar... So in einer halben Stunde... Okay, gut. Bis dann!"
"War das Mehmet?", fragte ich.
"Ja", sagte Leon.
"Und was musst du so Wichtiges mit Niko besprechen?"
Leon zögerte. "Wegen meinem Praktikum", antwortete er dann. "Da muss ich noch Bewerbungen für schreiben."
"An Weihnachten?"
'Ja", meinte er. "Das hätte ich schon längst fertig haben müssen."
Von wegen, dachte ich, das hast du dir jetzt ausgedacht. Weshalb auch immer, ich wusste es nicht.
Vielleicht stimmte das ja sogar mit dem Praktikum. Und auch das mit den Bewerbungen, dass er die schon längst hätte fertig haben müssen. Aber glaubte Leon denn wirklich, ich kaufte ihm das ab, dass er sich ausgerechnet am ersten Weihnachtsfeiertag um so etwas kümmern musste? Für wie dumm hielt er mich denn?
"Wo willst du denn dein Praktikum machen?"
"Am liebsten im Krankenhaus", sagte Leon.
Ach ja, stimmt, dachte ich. Das hatte er mir ja schon mal erzählt, dass er später mal Krankenpfleger werden wollte.
Das konnte ich mir auch gut bei ihm vorstellen.
Mit Ärzten schien er ja zumindest schon mal keine Probleme zu haben. Sonst hätte er diesem Doktor Wie-auch-immer-er-geheißen-hatte vorhin ja auch nicht meine gesamte Krankengeschichte erzählt.
Ob mir das gepasst hatte, oder nicht, war ihm dabei ja egal gewesen. Aber das kannte ich ja schon von ihm.
Leon ging es stets vor allem darum, im Mittelpunkt zu stehen. Sich wichtig zu machen. Und den Ton anzugeben - worum auch immer es ging. So war er und das wusste ich.
Da brauchte er mir hier jetzt auch nicht plötzlich einen auf Wunschkonzert machen, von wegen, was ich denn gerne essen wollte. Oder welchen Film ich mir später gerne ansehen wollte.
Letztendlich würde es sowieso wieder nur alleine danach gehen, was er wollte.
Oder würde er sich ernsthaft das Vorglühen in Mehmets Wohnung und anschließend die Party im Zoney entgehen lassen, nur weil ich darauf gerade keinen Nerv hatte? Wann hatte ich denn überhaupt jemals Lust auf sowas gehabt? Kein einziges Mal! Leon hatte mich trotzdem immer mitgeschleppt! Und heute würde das wieder genauso sein!
Dann würde er vor seinen Freunden wieder den tollen Hecht raushängen lassen. Und ich käme mir daneben vor wie die letzte Idiotin! So wie immer.
"Du kannst sie doch nicht immer so mit dir reden lassen! Und dann läufst du ihr auch noch hinterher, wie so ein dummes Schaf!"
Das hatte er selbst zu mir gesagt. Und genau das war ich für ihn auch. Ein dummes Schaf.
Jemand, den er von oben herab behandeln konnte. Über den er bestimmen konnte.
Das sah Eddie genauso.
"Leon liebt es, andere Menschen zu kontrollieren. Und in dir hat er jemanden gefunden, wo er es da besonders einfach mit hat."
Er hatte recht.
Wann hatte ich Leon denn jemals mal etwas entgegen gesetzt?
Gesagt, dass ich etwas nicht wollte? Und war dann dabei geblieben?
War doch kein Wunder, dass Leon mich nicht für voll nahm! Warum sollte er das auch tun?
War doch so auch ganz bequem für ihn, mit einer Freundin wie mir, die immer genau das tat, was sie sollte.
Das war bestimmt auch der Grund, weshalb er überhaupt noch mit mir zusammen war. An meinem guten Aussehen oder daran, dass man mit mir Spaß haben konnte, lag es sicher nicht.
Ich war hässlich und für so etwas wie Spaß viel zu anstrengend. Kompliziert. Und verbohrt.
Und dabei wollte ich das doch gar nicht. Ich wollte gerne anders sein.
"Du musst echt mal selbstbewusster werden! Und nicht immer alles mit dir machen lassen!"
Wenn das alles mal so einfach wäre.
°○ Leon ○°
"Hey!", begrüßte uns Mehmet mit einem breiten Lächeln an seiner Haustür. "Frohe Weihnachten!"
Wenigstens er scheint heute gute Laune zu haben, dachte ich und warf einen Blick auf Maria, die machte im Moment viel eher den Eindruck, als wäre sie lieber woanders. Zum Beispiel bei Eddie, um diese verschissenen Hausaufgaben zu machen, von denen sie die ganze Zeit redete.
"Frohe Weihnachten! Was bist du denn so glücklich?", fragte ich ihn und bereute gleich den vorwurfsvollen Klang in meiner Stimme.
"Ich hab die Zusage für mein Praktikum."
"Na dann, herzlichen Glückwunsch!", meinte ich und bemühte mich dabei ehrlich begeistert rüberzukommen, auch wenn Mehmets Worte für mich in Wahrheit weniger eine gute Neuigkeit darstellten, als eine Erinnerung daran, dass ich noch keine einzige Bewerbung geschrieben hatte. Und dabei würde das Praktikum schon in zwei Wochen beginnen. "Und wo hast du was bekommen?"
"Im Krankenhaus", antwortete Mehmet. "Niko hat da gute Kontakte."
"Cool!", sagte ich.
Das war eben der Vorteil daran, wenn man einen Sozialarbeiter hatte.
Da sollte sich Mehmet ruhig noch mal beschweren, dass ihm das auf die Nerven ging, immer unter Nikos Fuchtel zu stehen.
Ich hätte gerne jemanden, den ich mal was fragen könnte, anstatt mich immer nur alleine um alles kümmern zu müssen.
"Und was ist jetzt-", begann Mehmet und verstummte gleich wieder, als ich ihm einem vielsagenden Blick zuwarf und dabei in Richtung Maria schielte.
Mehmet räusperte sich. "Hast du jetzt schon eine Stelle?"
"Noch nicht", antwortete ich, während ich Maria aus der Jacke half und diese an einen der Haken hängte, welche an der Innenseite von Mehmets Wohnungstür befestigt waren. "Darüber wollte ich ja mit Niko sprechen."
"Da seid ihr ja!", rief Niko, der kam gerade in diesem Augenblick aus der Küche gelaufen.
"Frohe Weihnachten!" Er trug seine Lederjacke und auch seine schwarze Wollmütze hatte er sich wieder auf den Kopf gesetzt.
"Frohe Weihnachten!" Ich gab ihm die Hand. "Danke, dass du auf uns gewartet hast."
Ich sah zu Maria, die schaute immer noch zu Boden, schniefte und wollte sich dann mit dem Ärmel über ihre Nase wischen, woraufhin ich sie schnell am Arm fasste, um sie davon abzuhalten. "Nicht mit dem Pullover, Süße! Das ist doch ekelig!"
Niko warf ihr einen kurzen Blick zu, dann schaute er zurück zu mir. "Wollen wir mal eine rauchen gehen?"
"Ja... klar. Gleich." Ich führte Maria ins Wohnzimmer, ließ sie sich dort aufs Sofa setzen, nahm die Wolldecke und hüllte sie darin ein.
Dann wandte ich mich an Niko.
"Hast du vielleicht ein Taschentuch?"
Er gab mir eins.
"Danke", sagte ich, schlug das Tuch auseinander und hielt es Maria vors Gesicht. "Komm, Süße! Eben Naseputzen!"
Maria zögerte etwas, dann kam sie meiner Aufforderung nach.
"Und weiter!" Ich rieb ihr über den Rücken. "Komm, jetzt tüchtig!", forderte ich, daraufhin schnaubte Maria noch mal lauter. Und dann noch ein drittes Mal.
"Wieder gut?" Ich sah sie an.
Maria wich meinem Blick aus. Dann nickte sie.
Ich strich ihr über die Schulter. "Willst du einen Tee?"
"Nein, danke."
"Oder irgendetwas anderes?", fragte ich weiter.
Maria schüttelte den Kopf.
"Hast du noch Cola da?" Ich sah Mehmet an.
"Im Kühlschrank", sagte der.
"Das klingt doch gut, oder?" Ich sah Maria an. "Also dann Cola?"
"Ja, bitte", sagte Maria.
"Kommt sofort." Ich lächelte ihr zu. Dann ging ich an Mehmets Kommode. Nahm dort das Glas mit der sexy Marge Simpson mit glatten langen Haaren und hellgrünem Bikini heraus, überlegte kurz und stellte es dann wieder zurück. Das wäre jetzt wohl eher unangemessen, dachte ich, bevor ich stattdessen ein dunkelblaues Cola-Glas herausholte und damit in die Küche lief.
"Ich mach dir noch Popcorn dazu", sagte Mehmet und kam mir hinterher.
"Warum machst du ihr jetzt Popcorn?", fragte ich. "Maria hat noch nicht mal richtig was gefrühstückt."
"Und seit wann trinkt man Cola zum Frühstück?"
"Halt's Maul!"
"Ich wollt ihr ja auch eigentlich gar kein Popcorn machen", sagte Mehmet, holte sich die Tüte salziges Mikrowellenpopcorn aus dem Schrank und riss die Folie runter. "Mir ist gerade nur nichts Besseres eingefallen." Er öffnete die Mikrowelle, warf die Tüte hinein und stellte das Gerät dann an, welche daraufhin mit einem lauten Summen zum Leben erwachte.
"So, was läuft hier jetzt für ein Theater?"
"Was meinst du?"
"Ja... dieser ganze Süße-hier-Süße-da-Firlefanz!" Mehmet verdrehte die Augen. "Da fallen einem ja die Ohren bei ab!"
"Dann kümmer dich doch um deinen Scheiß!"
"Weshalb willst du jetzt wirklich mit Niko reden?" Mit einem Mal klang Mehmet sehr ernst. "Ist irgendwas passiert?"
"Das kann man wohl sagen", antwortete ich.
"Ja, dann erzähl!"
"Ich zeig's dir besser", meinte ich, zückte mein Handy, entsperrte das Display und rief dann die Fotogalerie auf.
"Hier, guck!" Ich hielt Mehmet das Handy hin. "Und bleib ruhig!"
Mehmet sah mich verständnislos an. Dann nahm er das Handy.
Betrachtete das Foto, welches ich geöffnet hatte. Las die Worte, welche darin geschrieben standen. Und riss vor Entsetzen die Augen auf.
"What the fuck!"
"Darüber will ich mit Niko reden."
"Verdammter Wichser, Mann!", rief Mehmet aus. "Boah, nee! Krass! Was für'n verficktes Arschloch!"
"Das ist noch viel zu nett für ihn", sagte ich und spürte gleich wieder, wie die Wut in mir hochstieg, mein Herz anfing schneller zu schlagen, während meine Hände zu zittern begannen.
"Alter, sowas.... Scheiße! Das ist doch krank! Pervers!", sagte Mehmet. "Den müssen wir drankriegen! Dieses kranke Schwein!" Er sah mich an. "Du glaubst doch auch, dass das stimmt."
"Er hat sie vergewaltigt", sagte ich, nahm mir einen Teller aus dem Schrank und holte mir dann noch ein Buttermesser aus der Schublade.
"Was ist denn los mit dir?"
"Nichts."
"Irgendwas ist doch."
"Es ist nichts."
"Und warum weinst du dann?"
Es hatte in ihren Augen gestanden, die ganze Zeit.
Und ich hatte es gesehen!
Aber ich hatte nichts getan.
"Du musst nicht darüber reden, wenn du nicht willst."
Ich hatte es nicht wissen wollen! Hatte zugelassen, dass es weiter gegangen war. Immer weiter.
Sexueller Missbrauch. Vergewaltigung.
"Ich hätte ihr helfen müssen!"
Tränen begannen an meinen Wangen hinabzulaufen.
"Du kannst ihr jetzt helfen", sagte Mehmet.
"So eine Scheiße!"
"Red mit Niko!"
"Ich bin so dumm!" Meine Fäuste knallten auf die Arbeitsplatte. "Warum hab ich das denn alles nicht schon viel eher kapiert?"
"Leon-"
"Ich hätte sie doch beschützen müssen!"
"Jetzt hör gefälligst auf zu weinen, verdammt noch mal!... Hör auf, sag ich! Immer dieses Geheule! Das ist doch erbärmlich!... Guck, wie du schon wieder aussiehst!... Deine Mutter würde sich für dich schämen!"
Ich hatte es geschehen lassen! Hatte nur einen Raum weiter gesessen, zusammen mit Manuel in diesen verschissenen Bildschirm geglotzt. Und gewartet, bis es vorbei gewesen war. Bis er mit ihr fertig gewesen war. Dieses Monster!
Ich hätte in Marias Zimmer rennen können. Dieses perverse Schwein von seiner Tochter runter zerren und ihm die Scheiße aus dem Leib prügeln können. Solange, bis er nicht mehr aufgestanden wäre.
Stattdessen hatte ich einfach nur dagesessen. Ich hatte ihn gewähren lassen.
Warum hatte ich das getan?
"Jetzt gib dir nicht die Schuld daran!", sagte Mehmet, riss ein Stück Küchenpapier von der Rolle und gab es mir. "Was dieses Schwein-"
"Das hätte alles gar nicht passieren dürfen!", unterbrach ich ihn und wischte mir mit dem Papier das Gesicht ab. "Das ist doch immer schlimmer geworden, diese ganze Scheiße! Das hat man Maria auch angesehen! Und ich habe sie trotzdem jedes Mal zu ihm zurück gehen lassen!" Ich putzte mir die Nase.
"Ich hätte ihr helfen müssen!", sagte ich dann wieder.
"Du kannst ihr immer noch helfen", meinte Mehmet. "Geh zu Niko! Zeig ihm, was du mir gezeigt hast! Und dann erzählst du ihm alles!"
Ich nickte. "Das werde ich machen."
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