19. Wovon redest du?
°○ Leon ○°
Was für ein Dreckstag!
Erst hatte ich verschlafen, wobei ich dank Minchen und ihrem Alptraum gestern Nacht ohnehin kaum noch ein Auge zubekommen hatte, und dann hatte Rehberg in der ersten Stunde auch noch einen Test schreiben lassen, natürlich unangekündigt und ich hatte die Aufgaben alle an der Tafel lösen müssen. Bestanden hatte ich nicht, von zehn Aufgaben waren gerade mal zwei richtig gewesen und das auch nur, weil Hilke, die nach Eddie Klassenbeste war und so schlecht sehen konnte, dass sie trotz der Glasbausteine vor ihren Augen in der ersten Reihe sitzen musste, mich hatte abschreiben lassen.
Aber immerhin war Politik danach ausgefallen. Frau Alberts war krank, jedoch ging es ihr wohl gerade noch gut genug, uns so viele Hausaufgaben aufzuschreiben, dass die gut eine ganze Woche abdecken konnten.
Zum Glück hatte ich ja noch Eddie, der würde das schon machen. Hatte ja ohnehin nichts Besseres zu tun, außer vielleicht Maria anzuhimmeln. Aber da könnte er wohl schön weiterträumen.
Maria wollte nichts von ihm, das erkannte doch ein Blinder!
"Was haben wir gleich?", fragte Mehmet, nachdem er fast die ganze Pause über damit beschäftigt gewesen war, in sein Smartphone zu glotzen und mit Melanie zu schreiben, wobei die beiden die meiste Zeit über nur versuchten, sich in Sachen lustige Spruchbilder zu übertreffen.
"Deutsch", sagte ich und wollte einen schnellen Blick in sein Handy werden, da stieß Mehmet mich grob zur Seite. "Glotz nicht!"
Ich grinste. "Was schreibt ihr denn da?", fragte ich und machte noch einen Versuch in Mehmets Handy zu gucken, doch auch diesmal war er schneller, stieß mich wieder zurück und hielt gleichzeitig sein Handy hoch.
"Geht dich nichts an!"
"Ist es was versautes?", fragte ich weiter und sprang mehrmals hoch, um an sein Handy zu kommen und lachte, als Mehmet auf das Spiel einging und mich in den Schwitzkasten nahm.
"Wenn du was versautes willst, dann schreib doch mit deiner eigenen Freundin. Wie wäre das?"
Ich verzog das Gesicht. "Nee, lass mal. Die textet mich auch so schon genug zu", sagte ich, kniff Mehmet fest in den Oberschenkel und wirbelte gleichzeitig so schnell herum, dass es ihn fast von den Füßen riss.
"Scheiße!", ächzte Mehmet und rieb sich sein Bein. "Hast genau den Nerv getroffen."
"Jetzt heul nicht rum!" Ich lachte, da verpasste er mir einen heftigen Stoß in die Rippen. Ich kam ins Stolpern, taumelte keuchend zurück und-
"Was fällt dir eigentlich ein?", fing Maria schon an, auszurasten, da hatte ich mich noch gar nicht zu ihr umgedreht. "Du verdammtes ARSCHLOCH!"
"Was zum - Jetzt komm mal runter!", sagte ich und packte Maria an den Händen, als sie begann, wie wild auf mich einzuschlagen. Da fing sie an zu schreien: "FASS MICH NICHT AN!"
"Was ist denn in dich gefahren?" Ich hielt sie noch eine Weile fest und musterte sie.
Ihr Gesicht war feuerrot, die Augen schienen vor Wut zu sprühen. So hatte ich sie noch nie gesehen.
"LASS MICH LOS!"
"Aber was-"
"DU SOLLST MICH LOSLASSEN!"
"Okay... ist gut. Aber dann hör auch auf mich zu schlagen!" Ich ließ Maria los und wappnete mich gleich für den nächsten Angriff, doch Maria blieb ruhig. "Ich hab das Video gesehen."
"Welches Video?", fragte ich.
Maria antwortete nicht. Tränen traten in ihre Augen und liefen ihr im nächsten Moment an den Wangen hinunter.
"Wovon redest du?", fragte ich und wollte meinen Arm um ihre Schulter legen, doch sie schlug ihn fort.
"Fass mich nicht an!", sagte sie wieder, diesmal leise, fast schon tonlos, wandte sich zur Seite und versuchte sich wieder zu fangen.
"Maria, was hast du denn?", fragte Eddie, der kam natürlich gleich angelaufen, gerade so, als hätte er nur auf die Gelegenheit gewartet, hier den Helden zu spielen.
"Warum weinst du?" Eddie legte Maria einen Arm um die Schulter, ihn stieß sie nicht fort. "Kann ich irgendetwas-"
"Nein!", fiel Maria ihm ins Wort. "Nein", wiederholte sie nochmal, diesmal weniger heftig. "Halt du dich da besser raus, Eddie. Ich muss das hier klären." Sie schniefte laut, dann sah sie mich wieder an. "Also, was war das jetzt mit dem Video?"
"Welches Video?"
"Jetzt tu doch nicht so! Warum hast du das reingestellt?"
"Wovon redest du?", fragte ich weiter, doch Maria fuhr einfach fort mit ihren Anschuldigungen, gerade so, als hätte ich gar nichts gesagt.
"Warum filmt man sowas? Das ist doch abartig, das... Und den Rest hast du dann wahrscheinlich auch alles eingefädelt. Die Sache mit dem Alkohol, das war alles deine Idee, oder? Das war doch von Anfang an dein Plan."
"Ich weiß wirklich nicht, was du meinst."
"Und als du dann auf nett gemacht hast, das war doch auch alles nur Verarsche. Stimmt doch!" Sie lachte, was verrückt war, da sie gleichzeitig immer noch weinte. "Wie konnte ich denn nur so blöd sein?"
"Du bist doch nicht blöd, sag sowas nicht!" Eddie warf mir einen vernichtenden Blick zu. Dann nahm er Maria an die Hand. "Komm mit, wir-"
"Lass mich!" Maria stieß ihn weg.
"Aber wir können doch besser-", begann Eddie, doch erneut schnitt Maria ihm mitten im Satz das Wort ab: "Nein!"
Sie zeigte mit dem Finger auf mich. "Er soll es jetzt zugeben!"
Sie sah mich an, fing wieder heftig an zu schluchzen und brauchte mehrere Versuche, bis sie die nächsten Worte raus bringen konnte: "Gib es zu!"
"Was soll ich zugeben?", fragte ich.
"Das weißt du ganz genau", meinte Eddie.
"Gar nichts weiß ich!"
"GIB ES ZU!", sagte Maria wieder, schrie es so laut hinaus, dass sich ihre Stimme überschlug. Sie musste husten.
Eddie klopfte ihr auf den Rücken, da schlug Maria seine Hand wieder weg. "Nein bitte, lass mich einfach", krächzte sie.
"Vielleicht sollten wir doch besser erst mal zu deinem Vater gehen."
"Nein!", widersprach Maria, ihre Augäpfel schienen dabei auf die doppelte Größe anzuwachsen. "Hör zu Eddie! Mein Vater darf davon nichts wissen!"
"Aber-"
"Versprich mir, dass du ihm nichts sagst!"
"Maria, das-"
"Versprich es mir!", sagte Maria.
Sie sah ihn eindringlich an, da schlug Eddie die Augen nieder, holte tief Luft. "Dann kommt er damit durch, wieder mal."
Erneut funkelten Eddies Augen mich an, richteten sich dann wieder auf Maria. Er überlegte, schien hin- und hergerissen. Dann seufzte er.
"Tut mir leid, aber so geht das nicht. Er hat etwas schlimmes getan und muss dafür bestraft werden. Komm, wir müssen das jetzt melden", sagte Eddie, packte Maria am Arm und versuchte sie mitzuziehen, doch die hielt dagegen.
"Nein, lass mich los! Eddie, du verstehst das nicht... LASS MICH LOS!", brüllte Maria und als Eddie sie daraufhin immer noch nicht losließ, schlug ich ihm ins Gesicht.
"Jetzt lass sie schon los, verdammt noch mal!" Ich stieß ihn von Maria weg.
Er fiel zu Boden. "Und misch dich nicht in Sachen ein, die dich nichts angehen!", schnauzte ich ihn an, verpasste ihm einen Tritt gegen den Bauch und wollte gerade noch mal nachlegen, als Maria sich zwischen uns stellte: "Nein, hör auf! Tu ihm nicht weh!"
"Ach was! Der ist doch selber schuld! Wenn der sich hier so aufspielt." Ich sah zu Eddie herunter, der lag immer noch zu einer Kugel zusammengerollt auf dem kotzgelben Linoleum und hielt sich den Bauch, das Gesicht schmerzverzerrt. Blut lief aus seiner Nase.
"Hast du ihr diese Scheiße erzählt?"
"Was willst du von mir?", fragte Eddie mit erstickter Stimme. Er stand langsam wieder auf, wirkte dabei wie ein Betrunkener. "Ich hab ihr nur dein Video gezeigt."
"Mein Video?"
"Das von der Party, auf der Maria abgefüllt worden ist... und wer weiß, was sonst noch. Aber darüber weißt du wahrscheinlich noch am meisten."
Ich schnaubte. "Gar nichts weiß ich!" Ich wandte mich an Maria, die hatte mittlerweile mit dem Weinen aufgehört und wischte sich mit dem Ärmel über die Augen.
"Ich hab mit der Sache nichts zu tun, Süße."
"Hältst du mich für so naiv? Das Video wurde auf deinem Konto hochgeladen!"
"Davon weiß ich nichts", meinte ich. "Ehrlich, sowas würde ich mit dir nicht abziehen."
"Glaub ihm kein Wort! Er will dich bloß-"
"HALT'S MAUL!", unterbrach ich Eddie, verpasste ihm einen so heftigen Fausthieb zwischen die Rippen, dass er in die Knie ging und wollte gerade nochmal zuschlagen, als eine Hand sich um meinen Arm schloss und ihn wie einen Schraubstock festhielt.
"Jetzt bin ich mal gespannt auf deine Erklärung, Waldner. In mein Büro!"
°○°
Ich saß ihm gegenüber, zwischen uns der Schreibtisch. Ein großflächiges Ungetüm aus hellem Ahornimitat, welches viel zu groß für den kleinen Raum wirkte.
An der Wand war ein Regal voller Bücher. Die meisten hatten was mit Mathe zu tun, einige auch mit auch mit Geschichte. Hitlers Plan, Ausschwitz und seine Folgen, Das Ermächtigungsgesetz. Der zweite Weltkrieg war wohl sein Lieblingsthema.
Maria saß neben mir.
Auf dem Computer war die Seite von UConnect und mein Konto aufgerufen.
Rehberg hatte den Bildschirm so gedreht, dass wir alle eine gute Sicht darauf hatten.
Das Video, welches wir uns gerade angesehen hatten, hatte keine zwei Minuten gedauert.
Maria weinte, ohne dabei einen Laut von sich zu geben. Stattdessen zuckte sie unter jedem Schluchzer, wie unter Krämpfen zusammen, während sie das Gesicht in den Händen verbarg.
Sie tat mir leid.
Das, was auf dem Video zu sehen gewesen war, hatte sie sehr mitgenommen.
Maria mit zwei Jungen in einem Bett - offensichtlich betrunken. Wer die Jungen waren, war unmöglich auszumachen. Man konnte sie nicht im Ganzen sehen: sie sprachen nicht und ihre Gesichter waren der Kamera abgewandt. Einer von ihnen hielt die Flasche Rum in der Hand, der andere drückte Maria auf die Matratze herunter, während ihr der Alkohol eingeflößt wurde.
Eddie war vor wenigen Minuten von seinem Vater abgeholt worden.
Nur gut, dass es nicht seine Mutter gewesen war, dachte ich.
Regina wäre außer sich gewesen, keine Ahnung, ob ich in dem Fall noch unbeschadet aus der Schule rausgekommen wäre! Da hätte sie mir noch eher die Augen ausgekratzt!
"Was war das für eine Party, wo du dieses abscheuliche Filmchen produziert hast?"
"Gar nichts hab ich gemacht!", entgegnete ich, auch wenn ich mir sicher war, dass mir dieses ewige Abgestreite rein gar nichts bringen würde, erst recht nicht bei Rehberg. Der schien sich ja geradezu zu freuen, dass er mich nun in der Zange hatte.
"Welche Party?", fragte Rehberg erneut.
Ich schwieg.
"Antworte!" Leise Wut loderte in seiner Stimme.
"Ich habe mit der Sache gar nichts zu tun!"
"Warst du auf der Party?"
Ich nickte, hob meinen Blick und sah ihm in die Augen. "Aber ich bin nicht auf dem Video."
"Weil du das ganze gefilmt hast."
"Das ist doch-"
"RUHE!", brüllte Rehberg mir entgegen.
Maria schluchzte erschrocken auf. Unmittelbar zuckte Rehbergs Blick zu ihr.
"Auf was für einer Party wart ihr?"
"Auf Julias Geburtstag", kam die Antwort mit belegter Stimme. Maria räusperte sich. "Im September."
"Und da gab es Alkohol?"
"Ja, aber-"
"Nichts aber!" Rehberg blickte mich wieder an. "Ich weiß nicht, ob dir bewusst ist, was du dir da geleistet hast, Waldner. Das war Nötigung!"
"Aber ich war das nicht! Ehrlich, ich-"
"Und Körperverletzung!", fuhr Rehberg fort, ganz so, als hätte ich nichts gesagt. "Dir ist hoffentlich klar, dass ich deine Eltern über diese Vorfälle informieren werde!"
Rehberg wies zur Tür. "Und jetzt geh! Nehm dir einen Bus und fahr nach Hause! Du hast hier bis auf weiteres Hausverbot!"
°○°
Hausverbot, ja und?
Wenn es nach mir ging, würde diese verkackte Schule mich sowieso nie wiedersehen! Dann nahm ich lieber einen Drecksjob an als irgendwas – scheißegal – , dafür würde ich dann wenigstens Geld bekommen.
Das Handy vibrierte in meiner Hosentasche.
Eine SMS von Mehmet.
MEHMET
wo bist du? alles in ordnung?
Ich tippte eine kurze Antwort:
LEON
bin gerade auf dem weg zu deiner wohnung.
Draußen war es kalt, da hätte ich mir besser mal ein Paar Handschuhe angezogen.
Ein Hund - einer von der kleinen tapsigen Sorte - mit hellbraunem Fell und einem weißen Fleck über der Nase kam mir auf der Straße entgegen, der schien allein unterwegs zu sein. Er beachtete mich nicht weiter, wahrscheinlich war er im Moment eher daran interessiert, sich einen warmen Unterschlupf zu suchen. Ich konnte es ihm nicht verdenken, mir selbst ging es ja gerade genauso.
Nach Hause würde ich auf jeden Fall erst mal nicht gehen, da wäre Mehmets Wohnung erst mal die bessere Wahl.
Mit Richard könnte ich mich dann später auseinandersetzen, daran würde ohnehin kein Weg vorbeiführen.
Ich hob die Hände an meinen Mund und versuchte sie mit meinem Atem aufzuwärmen.
Wenn das mit dem frostigen Wetter so weiter ging, würde es bestimmt bald den ersten Schnee geben. Nachdem die Taubheit in den Fingern etwas nachgelassen hatte, schob ich die Hand in meine Jackentasche, fischte meinen Geldbeutel heraus.
Am Eingang zum Kiosk lehnte ich mich an die Wand und zählte die Münzen zusammen, die ich nach nach dem letzten Abend im Joe Pepper noch noch übrighatte.
Drei Euro Vierundachtzig.
Damit konnte ich keine großen Sprünge mehr machen. Reichte höchstens für ein belegtes Brötchen und einen Schokoriegel. Aber mit dem Essen könnte ich sicher auch warten, bis ich in der Wohnung war. Mehmet hatte bestimmt noch etwas im Kühlschrank, überlegte ich. Doch noch bevor ich den Weg zur Bushaltestelle fortsetzen konnte, meldete sich mein Magen, der wollte nicht warten.
Mir war ganz schlecht vor Hunger. Zum Kotzen schlecht.
Einen kurzen Moment hielt ich inne, legte mir meine Hand an den Bauch und holte ein paar Mal tief Luft.
Ich genoss das Gefühl, wie sich meine Lungen mit angenehm kalter Luft füllten. Das linderte die Übelkeit etwas.
Beim Betreten des Ladens begrüßte ich die Verkäuferin, eine kleine pummelige Brünette um die fünfzig in einer senfgelben Bluse mit einem knappen "Hallo." und lief gemächlich auf die Ladentheke zu, wo bereits fünf Männer in blauen Latzhosen und den Händen in den Taschen in der Schlange standen.
Als ich das Ende der Reihe erreichte, hatte ich schon eine Tüte schokolierte Nüsse im meinen Taschen verschwinden lassen. Mein Handy meldete sich wieder.
JULIA
hey
hab gehört, es gab ärger?😕 was ist passiert? meld dich mal.
glg😘
Ich steckte das Handy wieder ein. War ja klar, dass Julia jetzt einen auf ahnungslos machte.
Wahrscheinlich hatte sie sich schon längst bei Maria danach erkundigt, was passiert war und dabei die liebe Freundin gespielt.
Doch in Wahrheit war sie diejenige, die hinter dieser ganzen Geschichte stecke, so viel stand für mich fest.
Und ich konnte für sie den Kopf hinhalten!
Wie praktisch!
So jemanden wie mich wollte Rehberg sowieso loswerden und nach den zwei Abmahnungen, die ich bereits bekommen hatte, war das jetzt doch die beste Gelegenheit für ihn, mich endgültig über die Schippe springen zu lassen. Und das wusste Julia ganz genau.
Diese verlogene Schlampe!
Hatte sie wirklich alles geplant? Marias Einladung zu ihrem Geburtstag? Das Abfüllen? Das Video?
Als ich an der Reihe war, kaufte ich mir eine Schachtel Lucky Pins von einem Zehn Euro Schein, den ich dem Deppen vor mir aus dem Geldbeutel genommen hatte, kurz nachdem dieser bezahlt und dann noch ein Schwätzchen mit der Kassiererin gehalten hatte.
Er hatte es mir leicht gemacht und den Geldbeutel hinten in seine Hosentasche gesteckt. Die restlichen etwa sechzig Euro hatte ich ihm drin gelassen, so würde ihm der Verlust erst später auffallen, wenn überhaupt.
Als ich den Laden verließ, verschwand im Vorbeigehen noch eine Dose Bier in meinem Jackenfutter und damit hatte ich erst mal alles, was ich brauchte.
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