Schritt für Schritt

Am nächsten Morgen stand ich wieder auf und ging mit Frühling einige wenige Schritte.

Er hatte die ganze Zeit an meinem Bett gesessen und mich keinen Moment aus den Augen gelassen.

Er war für mich da gewesen.

Eigentlich hätte Jayden hier sitzen müssen.

Aber er war nicht mehr da.

War nicht mehr mein Bruder.

Ich hatte ihn geliebt,

ja,

meinen Bruder.

Tausend Fragen schwirrten mir im Kopf umher.

Und ich hatte keine Antwort darauf.

Es machte mich wahnsinnig.

Wieder an meinem Bett zurück, deckte Frühling mich gut zu.

„Danke" murmelte ich.

„Gerne. Es muss schrecklich für dich sein!" sagte er mitleidvoll und strich mir durch die Haare.

Ich blinzelte. „Für dich war es doch damals auch schlimm, als Herbst dich verraten hat."

„Aber Herbst war mein Bruder, nicht mein Freund."

Ich lachte, verstummte aber sofort wieder. Es tat zu sehr weh.

„Jayden war nie mein Freund. Er war mein Bruder. Mein Adoptivbruder."

Überraschung spiegelte sich in seinem Gesicht wieder.

„Achso. Ihr habt so vertraut gewirkt. Erzählst du mir die Geschichte?"

Ich nickte.

„Aber dazu musst du Lino holen, ich habe einmal versprochen, dass ich sie ihm auch erzählen werde."

Frühling nickte und kehrte wenig später mit Lino zurück.

Sie setzten sich auf mein Bett und ich begann zu erzählen.

„Alles begann im Sommer, vor schon so vielen Jahren. Jayden stand damals auf unserer Straße. Klein Mager und verschmutzt"

Ich erzählte alles.

Unsere Kindheit, wie wir älter wurden.

Und sie begannen zu verstehen.

„Und dann war das Militär auf einmal da. Im ganzen Ort. Sie durchsuchten jedes Haus. Unsere Mutter drängte uns, uns für ein paar Tage im Wald zu verstecken. Wir wussten nicht warum. Aber ich glaube, sie wusste, dass wir Vögel waren und das unsere Tattoos uns verraten würden. Wir flohen in den Wald.

Aber dort waren wir nicht sicher. Sie kamen uns immer näher. Jayden wollte sie ablenken, während ich mich in einer alten Bauruine versteckte. Ich hatte schreckliche Angst.

Jayden wurde entdeckt und sie verfolgten ihn.

Ich war feige und blieb dort.

Irgendwann mitten in der Nacht hörte ich die verzweifelten Rufe meiner Mutter durch den Wald rufen.

Ich war feige und blieb dort. Ich habe geschwiegen.

Dann hörte ich den Schuss und den letzten Schrei meiner Mutter.

Ich war feige und blieb dort.

Durch ihr Opfer konnte Jayden entkommen und sagte mir, was vorgefallen war.

Er verschwand, weil er sie rächen wollte.

Und ich ging zurück nach Hause.

Später erfuhr ich, dass sie unter unserem Baum, dem Kirschbaum, gestorben war.

Für Jayden, meinen Bruder."

Die beiden schwiegen betroffen.

„Damals, der Sommer, als Jayden auftauchte, das war nicht der Anfang. Es gibt keinen Anfang, es hängt alles zusammen. Raven, du bist nicht feige, du bist das mutigste Mädchen, das ich kenne."

Erstarrt drehte ich meinen Blick zur Türe.

Eine Träne löste sich und lief meine Wange hinunter.

„Dad?"

Mein Vater kam auf mich zu, schloss mich in seine starken, sanften Arme und drückte mich an sich.

Auf einmal fühlte ich mich wieder ganz klein.

Ich spürte die Sicherheit in seinen Armen.

Die Stärke.

Die Wärme

Und seine Liebe.

Die liebe eines Vaters.

„Ich wollte dich doch nur vor all dem Leid in dieser Welt bewahren, meine kleine Raven."

Ich begann zu weinen. Dicke Tränen liefen meine Wange hinunter, während heftiges Schluchzen meinen Körper zittern ließ.

Er, mein Vater, strich mir lange durch meine Haare und ich beruhigte mich langsam wieder.

„Wie hast du mich gefunden?" fragte ich und wischte mir meine Tränen aus den Augen.

„Julien hat mich informiert, dass du verletzt wurdest."

Er zog sich seinen Ärmel hoch und ein verblasster Adler kam zu Vorschein.

Ich starrte ihn an und mein Vater lachte. „Wie gesagt, es gibt kein Vorne und kein Hinten."

„Dann erzähl mir, was vor dem Sommer passiert ist" bat ich.

Mein Vater nickte und setzte sich neben mich. Schnell kuschelte ich mich in seinen Arm und spürte das Vibrieren des Brustkorbes, als es anfing zu reden.

„Ich war auch ein Rebell. Schon als dieses System errichtet wurde. Du musst wissen, dass es eine kleinere Revolution gab, die allerdings schief lief. Die Rebellen wurden zerschlagen und es dauerte, bis sie sich wieder erholten.

Ich floh mit deiner Mutter ins vergessene Land, weil wir Angst vor Verfolgung hatten und wir wollten, dass unsere Kinder in Frieden aufwachsen. Deine Mutter war bereits mit dir schwanger.

So wuchst ihr beide auf, bis Julien uns fragte, ob wir Jayden aufnehmen könnten?

Wir haben ja gesagt.

Tja und dann kam das Militär.

Deine Mutter hat sich für Jayden geopfert, weil sie meinte, dass Jayden wichtig für die Revolution sein würde. Weil er Dagons Sohn ist.

Sie hat sich für ihn in die Schussbahn geworfen."

„Hast du die ganze Zeit gewusst, dass ich hier bin?" fragte ich leise.

„Nein, aber vermutet und als Julien mir mitteilte, dass du verletzt seist, bin ich direkt gekommen."

„Und Mia?"

„Die ist bei einer Nachbarin"

Ich nickte. Das war sehr viel auf einmal.

Dass mein Vater da war und die ganzen Informationen.

Es schien, als hatte das Puzzle mehr, viel mehr neue Teil bekommen, die sich einsortierten und das Bild vervollständigten.

Müde schloss ich die Augen und entglitt dieser Welt.

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