Realität
„Hallo... Raven....Hallo?"
Ich öffnete meine Augen.
Da war sie wieder,
die Realität.
Mein Vater stand mit besorgtem Gesicht über mir.
Es war warm – ich war wieder in der U-Bahn Station.
„Was ist passiert?" fragte ich.
„Wir haben dich bei den Trümmern von Quartier drei gefunden. Was hast du dir nur dabei gedacht, trotz deiner Verletzung, einfach so wegzulaufen?! Du wärst fast erfroren!"
Es tat gut, die Stimme meines Vaters zu hören.
Auch, wenn sie etwas verärgert klang.
„Ich brauchte einfach etwas Zeit für mich." Antwortete ich leise.
„Du warst über 24 Stunden weg."
„Habe ich etwas verpasst?"
„Noch nicht, gleich wird Frühling das Fernsehen hacken und den Leuten zeigen, was Dagon wirklich will."
Der Stick.
„Ich würde das gerne sehen" antwortete ich und mein Vater nickte.
Er hatte einen Fernseher in mein Zimmer gestellt.
Als hätte er gewusst, dass ich es sehen wollte.
Er schaltete das Gerät an und setzte sich neben mich.
Noch liefen Nachrichten.
Die Sprecher warnten vor den immer stärker werdenden Aktionen der Rebellen.
Anscheinend hatte es gestern auch schon Unruhen durch die Bevölkerung gegeben.
Das war ein gutes Zeichen.
Plötzlich wurde das Bild schwarz und dann war er zu sehen.
Jayden.
Ich versteifte mich.
Grüne Augen, er war es wirklich.
„Guten Abend zusammen" sagte er und guckte leicht spöttisch.
Da fiel es mir wieder ein: das Fernsehstudio. Die Vorbereitungen, von denen Julien und Matt gesprochen hatten. Falls etwas schieflaufen würde.
Falls er es nicht im Original sagen könnte.
Dieser Jayden vor mir, war eine reine Aufnahme.
„Ihr kennt mich sicherlich. Mein Name ist Aiden. Ich bin Dagons Sohn!"
Niemand würde merken, dass es nicht Aiden war. Niemand achtete auf Augenfarben.
„Ich stehe nicht auf der Seite meines Vaters. Mein Vater hat Dinge getan, die ich mir niemals verzeihen könnte. Grausame Dinge.
Ja, dass sage ich als sein Sohn. Wir tragen das gleiche Blut in uns, aber nicht die gleichen Werte. Ich habe Moral und Menschlichkeit. Etwas, was ihm fehlt. Und wende mich an euch, meine Nation, weil ihr mir helfen müsst, meinen Vater zu besiegen.
Warum?
Seht selbst:"
Es wurde das Video der Konferenz gezeigt und jeder konnte sehen, dass Dagon die Menschen aufteilen und Selektieren wollte.
Jeder konnte sehen, was er uns antuen wollte.
Das Video endete und Jayden erschien wieder.
„Haut nicht ab, flüchtet nicht, sondern Kämpft. Geht auf die Straße und lehnt euch auf! Tut es für euch.
Tut es, wenn es das nächste Mal schneit. Je mehr ihr seid, desto höher werdet ihr Siegen.
Ihr werdet merken, dass ihr nicht alleine seid. Die Rebellen werden den Rest erledigen.
Tut das richtige – das ist meine Botschaft!"
Ich blinzelte.
Er, Jayden hatte das falsche getan.
Das Bild verschwand wieder und zwei völlig verwirrte Nachrichtensprecher blieben zurück.
Unser Plan schien aufzugehen, denn morgens hörte Lino die Menschen in den Bussen über nichts anderes mehr reden.
Viele äußerten mittlerweile direkt ihren Unmut über die Regierung.
Und sie begannen, sich zu trauen.
Sie trauen sich, zu reden.
Wir hatten das Gefühl, nur noch die Stunden zählen zu müssen, bis die Revolution begann.
Von vielem bekam ich hier unten aber auch nichts mit.
Hier unter der Erde, in der U-Bahn Station.
Ich hatte viel Zeit, nachzudenken.
Über die Leere in mir.
Über meine Mutter.
Auf einmal war sie wieder präsent.
Seit ich Flo das letzte Mal begegnet war.
Damals, letzte Nacht. Oder waren es schon zwei?
Ich erinnerte mich. Ein lächeln umspielte meine Lippen. Noch gut sah ich Flo vor mir stehen und konnte ihr Lachen noch in meinen Ohren hören. Deutlich spürte ich, dass sie sich gefreut hatte, ihre Familie wieder zu sehen.
Ich brauchte nicht um sie zu trauern.
Nicht um sie zu weinen.
Ihr ging es gut.
Ich hatte in letzter Zeit eh zu viel geweint.
War alles so traurig gewesen?
Ich schlug meine Bettdecke zur Seite und stand auf. Schnell streifte ich mir meine Klamotten über und verließ das Zimmer wieder.
Es war Zeit, hier wieder auszuziehen.
Ich hatte mir genug Zeit genommen, um wieder zu Kräften zu kommen.
Jetzt konnte jemand anderes das Zimmer haben, jemand der es mehr brauchte als ich.
Mary, die Ärztin war für die Zimmer zuständig. Ich schaute in ihrem und Bills Zimmer nach, aber da war sie nicht. Ich würde so nach ihr schauen.
Suchend lief ich durch die mittlerweile sehr volle Station.
Es war laut.
Überall waren Menschen in jedem Alter.
An jeder Stelle wurde gearbeitet.
Aus dem ganzen Land waren sie gekommen, um zu helfen.
Es herrschte die Ruhe vor dem Sturm.
Schließlich fand ich sie.
In dem kleinen Fernsehstudio.
Überrascht hielt ich inne. Was machte sie dort mit Bill?
Sie trat in diesem Moment vor die Kamera und begann zu reden.
„Ich bin Ärztin. Mir und meiner Familie geht es eigentlich gut.
Eigentlich.
Denn mein Sohn hat keinen Vater mehr.
Ich konnte ihn nicht retten.
Warum?
Weil die Regierung unser Land verfallen lässt.
Uns fehlen die Mittel, um Menschen heilen zu können.
Vor 20 Jahren konnte ich auch Menschen helfen.
Heute kann ich meistens nichts mehr für sie tun, weil mir die Mittel fehlen. Ich muss als Ärztin den Menschen beim sterben zusehen.
Heute denkt ihr, das betrifft euch nicht, aber Morgen geht es euch selber schlecht.
Doch dann kann ich nichts mehr für euch tun, weil Dagon es verhindert. Nach und nach."
Mir hatte es die Sprache verschlagen, als sie wieder weggetreten war.
Julien trat vor die Kamera.
„Deswegen müsst ihr kämpfen. Kämpft für euch. Für eure Freiheit und für eurer Leben.
Boykottiert dieses System!
Beendet, was ihr angefangen habt.
Wenn wir alle zusammen etwas tun, können wir so viel erreichen!"
Ich hatte wohl grade das Ende der Rede erwischt.
Ein junger Mann hinter der Kamera nickte zufrieden und May kam aus dem Raum heraus.
„Hey, Raven, wie geht es dir?" begrüßte sie mich.
„Wieder gut, vielen Dank." Ich wuschelte Bill durch die Haare und er lachte vergnügt. „Ich möchte aus dem Zimmer ausziehen, es gehört jetzt wieder Leuten, die es mehr brauchen können als ich" erklärte ich ihr.
Wie gingen gemeinsam durch die Station, vorbei an den vielen Menschen.
„Ich glaube" sagte sie mit einem Blick auf sie „dass ich es in naher Zukunft gut werde gebrauchen können."
Am Abend saßen wir zu zehnt in einer der Sitzecken und spielten Karten.
Am Anfang waren wir nur zu dritt gewesen, Lino Winter und ich, doch es waren immer mehr zu uns gestoßen und hatten mitgespielt.
Joker, Linos Rabe klaute uns unsere Nüsse und alle waren gut drauf.
Ich hatte echt das Gefühl, eine neue Familie gefunden zu haben.
Wir lachten und hatten Spaß.
Doch auf einmal ertönte Frühlings Stimme aus dem Lautsprecher. „Bitte alle auf der großen Treppe sammeln, es gibt eine Besprechung." Er hielt kurz inne. „Es sieht nach Schnee aus."
„Die Revolution wird beginnen, wenn es das zweite Mal schneien wird."
Einmal hatte es schon geschneit. Damals, an dem Morgen, als Jayden starb.
Sofort wurde es unruhig und wir ließen unsere Karten liegen.
Es dauerte keine fünf Minuten, bis sich alle auf der großen Treppe gesammelt hatten.
Es herrschte einen Moment Stille, dann meldete sich einer der anderen Männer zu Wort.
„Wir vertrauen jedem einzelnen von euch, deshalb erklären wir euch, wie wir vorgehen wollen.
Wir werden eine List anwenden.
Sie ablenken.
Wir werden die Bevölkerung auffordern, auf die Straßen zu gehen.
Das tun sie zum Glück jetzt schon. Die Bestürzung über die Pläne Dagons, deren Beweis er selber war, geht tief. Im ganzen Land gibt es schon Unruhen. Es brodelt. Alle warten auf den Auslöser, der das Zeichen zum Angriff gibt."
Hier unten hatte ich von den Unruhen kaum etwas mitbekommen, nur aus Erzählungen. Außerdem war ich die letzte Woche nicht oft bei mir gewesen. Zuerst die Schussverletzung und dann mein Zusammenbruch. Ich hatte es echt verpasst.
Der Mann erdete weiter.
„Die meisten von uns werden bei den Demos sein und die Leute anstacheln.
Damit ihr möglichst viel Aufsehen erregt.
Und während sie dabei sind, die Demonstration niederzuschlagen, sie abgelenkt sind, werden wir die Regierung stürzen.
Die anderen werden uns helfen, den Palast aufzuräumen.
Die Mächtigen und reichen zu stellen.
Eine andere Gruppe wird in ihre Häuser einbrechen und ihre Familien als Geiseln nehmen, damit es klappt, sie zur Aufgabe zu bewegen.
Die ganze Aktion darf nicht länger als 24-48 Stunden dauern, sonst können sie sich gegen uns wehren.
Was wer macht, erfahrt ihr noch später."
Zustimmendes Gemurmel breitete sich im Raum aus.
„Ach und bevor ich es vergesse...zum Schluss werden wir ihnen ein Denkmal setzen.... Wir werden den Palast in die Luft jagen."
Das war der Plan...
Klar, nur im groben.
Aber er war gut.
Erst ablenken, dann ausführen.
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