Leere Augen

Am nächsten Morgen musste ich so früh zurück zum Palast, dass ich mich nicht einmal von Jayden hatte verabschieden können.

Mein „Chef" wollte mit mir irgendwo hin, weil seine eigentlich Arbeitskraft ausgefallen war und er nun jemanden brauchte. Keine Ahnung warum. Da ich seine Sekretärin war, sollte ich ausnahmsweise mitkommen.

Ich war nervös, als ich mit der U-Bahn dorthin fuhr.

Zum Prisma.

Das Prisma war ein Krankenhaus.

Aus Beton.

Mit hohen Mauern.

Ohne eine lebendige Pflanze.

Hier wurden die Menschen nicht Gesund, sondern starben.

Ihre Seelen starben.

Linos Schwester lebte hier.

Sein schwarzer Wagen parkte schon vor dem Eingang und er stieg grade aus.

Schnell eilte ich zu ihm.

Seine Bodyguards flankierten ihn und einer hielt einen Regenschirm über ihm auf.

Es nieselte ganz leicht.

„Du bist zu spät" bellte er und ich nickte, ohne zu wiederreden.

Ich war nur seine Sekretärin.

Schweigend ging er zum Eingang und ich folgte ihm wie ein Hund.

Wie sein Hund.

Niemand verlangte unsere Ausweise oder kontrollierte uns.

Niemand hielt uns auf.

Für uns war es kein Gefängnis.

Für uns nicht.

Nirgendwo war grün zu sehen, alles war grau.

Das Gebäude ohne Fenster ragte wie ein Mahnmal in den Himmel.

Mir wurde schlecht.

Hier konnte man nicht leben.

Wir erreichten endlich den Eingang und ließen die wenigen Tropfen Regen hinter uns.

Unser Weg führte uns durch viele endlos weiße Gänge und endete in einem Raum mit zwei Stühlen und einem Tisch.

Und da saß sie.

Klein und zusammengesunken.

Mit traurigen und leeren Augen.

Höchstens acht Jahre alt.

Er ließ sich schwerfällig auf den zweiten Stuhl fallen.

„So 302, dann erzähl unserem Gast doch mal, warum du hier bist."

An ihrem dünnen Handgelenk war eine Plastikmanschette mit der Nummer 302 und einem Strichcode angebracht.

Tonlos antwortete sie. „Mein Vater war gegen das System. Er war Böse. Er musste deswegen sterben und ihr rettetet mich. Jetzt bin ich glücklich und zufrieden."

Mir schossen fast Tränen in die Augen.

„Und was machen wir heute?" fragte er weiter.

Das Mädchen blickte nicht einmal auf, als sie weitersprach.

„Jetzt werde ich Fragen beantworten."

Er nickte zufrieden.

„Bist du immer brav und hörst auf die Erzieher?"

Sie nickte.

„Weißt du noch etwas von deiner Vergangenheit?"

Sie schüttelte den Kopf.

„Warum?"

„Weil ich nicht durfte" murmelte sie emotionslos.

Ich schaute sie entsetzt an. Das war Grausam.

Diese Regierung ist grausam Raven

„Okay, kommen wir jetzt zu den eigentlichen Fragen. Unser Gast wird mitschreiben."

Ich nickte und kramte schnell Papier und Stift aus meiner Tasche hervor.

„Du hast dich besonders durch dein gutes Verhalten ausgezeichnet. Wir erwägen, dich in den Dienst der Regierung aufzunehmen. Was hältst du davon?"

„Ich möchte dem Land sehr gerne dienen."

„Hast du schon mal einen Menschen getötet?" wechselte er abrupt das Thema.

Sie schüttelte den Kopf. Keine Emotionale Reaktion.

„Würdest du es tun?"

„Wenn die Regierung das verlangt" sagte sie, aber es schien, als gehörte die Stimme nicht ihr.

„Weißt du, was es heißt, jemanden zu erschießen?" in seiner Frage lag Interesse. Reines Interesse. Und kein bisschen Empathie.

Sie schaute zum ersten Mal richtig auf.

„Du nimmst ihnen ihr Leben. Ihr Herz wird aufhören zu schlagen. Ihr Blick wird leer und dann fallen sie in sich zusammen und sind tot." Ihre Augen blickten leer auf die Graue Wand neben mir.

„Hast du schon mal getötet?"

Mein Herz pochte laut. Nicht auch noch das!

„Nein"

Erleichtert nahm ich etwas von der gefangenen Luft in diesem Raum in mich auf und atmete langsam wieder aus.

Vielleicht war es für sie noch nicht zu spät.

„Aber mein Vater wurde erschossen und ich habe zugeschaut. Es lief im Fernsehen" fügte sie ohne emotionale Regung hinzu.

*

Am Abend lag ich weinend im Bett.

So war das alles nicht!

So nicht! Das war nicht real!

Ich war gekommen, um eine Regierung zu stürzen.

Nicht um einem Monster entgegenzutreten.

Einem unbesiegbaren Monster.

Ich schluchzte.

Und weinte.

Ich dachte an den Brief meiner Schwester unter dem Kopfkissen.

Und zog ihn hervor.

Er war viermal geknickt.

Wusste ich wirklich nicht mehr weiter? Jetzt schon?

Nach grade einmal fast einem Monat?

Ich schluchzte.

„Oh Raven, was hast du gesehen?" flüsterte Jayden neben mir. Er lag im Hochbett vor mir. Unsere Köpfe lagen sich immer gegenüber.

NEIN! Jetzt noch nicht.

Ich steckte den Zettel wieder unter mein Kopfkissen.

„Ich habe ein Mädchen gesehen, das gefragt wurde, ob es töten würde. Sie war erst acht und ihr Blick war traurig und leer."

„Ich wünschte, ich hätte dich davon verschonen können." Seine Stimme klang verzweifelt und besorgt. Besorgt um mich.

Ich schniefte „Ich werde für sie kämpfen und wenn diese Regierung weg ist, werde ich mich um sie kümmern und ihr das Leben zeigen."

„Du bist so wundervoll Raven."

„Kannst du mich in deinen Arm nehmen?" fragte ich leise.

Sofort kletterte er rüber in mein Bett und nahm mich in seine starken Arme.

Mit ihm würde ich diese Revolution durchstehen.

Bald würde es so weit sein.

Jetzt würde mich niemand mehr aufhalten können.

Jetzt nicht mehr.

Jayden ruhiger Atem ließ mich bald müde werden und ich schloss erschöpft meine Augen.

Doch das Bild der achtjährigen blieb mir noch lange im Kopf hängen.


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