92. Kapitel

Agnes hasste es, sich zu verkleiden.

In ihrem letzten Schuljahr in Hogwarts hatte sie sich immer verkleidet – sie hatte ihre Narben im Gesicht mit einem Zauber bedeckt, damit niemand sie sehen konnte.

Aber das hatte sich geändert, als sie Hogwarts verlassen hatte. Sie hatte akzeptiert, dass sie ein Werwolf war und mit Freds Hilfe hatte sie eingesehen, dass der Fluch nicht das Ende ihres Lebens bedeutete. Fred hatte sie so akzeptiert, wie sie war – mit hässlichen Narben, monatlichen Verwandlungen und schlimmen Stimmungsschwankungen.

Aber jetzt legte sie wieder den Zauber über ihr Gesicht und sah dabei zu, wie die Narben verschwanden und sie ihrer Mutter ähnlicher wurde.

Natürlich war das nicht das einzige, das sie verändern musste, wie Konstantin ihr befohlen hatte. Sie zähmte ihre Locken ein bisschen, sodass sie etwas ordentlicher aussahen, wie die ihrer Mutter.

Sie zog die Kleidung an, die Tonky ihr besorgt hatte und dazu noch schwarze Handschuhe, die auch noch die Narben an ihren Händen verdeckten.

Ihre Haare steckte sie elegant hoch, wobei ihr Konstantin half und sie hatten mit Zauber Blumen schwarz eingefärbt, die sie sich ebenfalls ins Haar steckte.

Tia hatte das dunkle Mal auf ihrem Unterarm gemalt und es sah so realistisch aus, dass man auf dem ersten Blick gar nicht erkennen konnte, dass es nicht wirklich in die Haut eingebrannt war.

Natürlich sollte Agnes lieber vermeiden, dass jemand ihre Arme sah, aber im Notfall war das Dunkle Mal ihre Lebensversicherung, also hatte sie zugestimmt, das Mal zu tragen, obwohl sie sich vor sich selbst ekelte, als sie es auf ihrer Haut sah.

Sie sah ihrer Mutter so ähnlich, dass sie sich vor sich selbst ekelte.

Ihre hohen Schuhe klackten, als sie das Gästezimmer verließ, in dem sie schlief, seit sie bei Ivy angekommen waren.

Konstantin, Liza, Sirius, Tia und Ivy waren alle schon fertig und warteten im Wohnzimmer auf sie.

Agnes beobachtete, wie Tia zusammenzuckte, als sie sie sah und Agnes erinnerte sich, dass Tia mehrere schlimme Erfahrungen mit ihrer Mutter gemacht hatte – ein Grund mehr, sich bei ihr zu rächen und sie umzubringen.

Konstantin hingegen begann zu strahlen, als er sie erblickte.

„Perfekt", grinste er.

„Ich will mich von einer Brücke stürzen", bemerkte Agnes trocken.

„Nein, das willst du nicht", Tia lächelte sie aufmunternd an, „Das wäre schlimm."

„Endlich kannst du einmal deine Ähnlichkeit mit deiner Mutter ausnutzen", bemerkte Sirius lachend, „Das ist wirklich gruselig."

„Du musst etwas gerader gehen", riet Konstantin ihr, „Stell dir vor, du wärst die perfekteste, begabteste und intelligenteste Person im Raum – und dann lass andere spüren, was du von ihnen denkst."

„Ich muss mir das nicht einbilden – ich bin das alles schon", schnaubte Agnes und hob stolz ihren Kopf.

„Sehr gut – das machst du perfekt", grinste Konstantin, ohne zu wissen, dass Agnes es wirklich ernst meinte. Vielleicht wusste er es auch und ignorierte es einfach.

„Bringen wir es einfach hinter uns", schnaubte Agnes unzufrieden, „Wahrscheinlich wird mir sowieso niemand die Verkleidung abkaufen."

„Ich glaube, da irrst du dich", widersprach Sirius ihr, „Du siehst Agnolia wirklich sehr ähnlich."

„Hier ist die Liste mit den Zutaten, die ich brauche", Tia reichte ein Blatt Papier weiter und Agnes überflog schnell die Zutatenliste, „Das sollte alles sein, was mir noch fehlt, um Vielsafttrank zu brauen."

Agnes war noch nie gut in Zaubertränke gewesen. Sie hätte nicht einmal gewusst, dass man all das für Vielsafttrank brauchte, aber zum Glück hatten sie Tia bei sich, die sich Tränke scheinbar so einfach merken konnte, wie das Ein-Mal-Eins.

„Dann sehen wir uns später wieder", beschloss Agnes und blickte die anderen besorgt an, „Passt auf euch auf. Sterbt nicht."

„Das können wir nur zurückgeben", warnte Sirius sie.

Agnes salutierte vor ihnen, bevor sie sich auf der Stelle drehte und disapparierte.

Ihr Weg führte sie direkt in die Winkelgasse und es war seltsam, wieder dort zu sein.

Natürlich hatte sich viel verändert, seit sie damals mit elf Jahren das erste Mal dort gewesen war.

Damals hatte sie ihre Sachen zusammen mit Professor McGonagall besorgt, obwohl Agnes mehrmals darauf bestanden hatte, dass sie das auch allein erledigen konnte.

Aus purer Sturheit hatte Agnes McGonagall die meiste Zeit links liegen lassen und hatte die Erledigungen selbst gemacht, ohne auch nur ein Wort mit der Professorin zu sprechen, aber McGonagall hatte immer ein wachsames Auge auf sie gehabt.

Agnes war nicht überrascht gewesen, als sie die verschiedenen Läden gesehen hatte.

Sie hatte nicht mit Kinderaugen all die bunten Farben und den Trubel geachtet – sie hatte ihre Ziele gehabt und hatte alles andere ignoriert – es war kaum ihre Zeit wert gewesen.

Agnes hatte sich seitdem verändert, das wusste sie. Agnes fragte sich, wie es wohl wäre, noch einmal als elfjährige das erste Mal die Winkelgasse zu besuchen. Würde sie begeistert von Laden zu Laden gehen? Würde sie die bunten Plakate, die damals überall gewesen waren mit anderen Augen sehen? Würde sie ein Kind sein können?

Aber Agnes wollte sich nicht wie eine neue Elfjährige fühlen. Stattdessen erweckte sie in sich die alten Gefühle wieder und sie hob stolz ihren Kopf.

Sie war nicht Agnes – für andere sah sie wie Agnolia Tripe aus.

Ihre Schritte waren zielsicher und ihr Kopf hoch erhoben.

Leute, die sie sahen und erkannten, wichen schnell zurück und senkten den Blick, als würde ein Blick allein genügen, um Agnolia zu provozieren. Vermutlich war das auch wirklich so.

Es waren nicht viele Leute in der Winkelgasse unterwegs und die, die es waren, beeilten sich, um nicht lange auf der Straße zu bleiben.

Keiner blieb stehen, um in die Fensterläden zu blicken, aber das war auch gar nicht nötig, denn die Fenster und Türen waren mit Plakaten zugeklebt.

Das letzte Mal, als Agnes in der Winkelgasse gewesen war, hatten diese Plakate noch gesuchte Todesser gezeigt. Agnolia Tripe, Bellatrix Lestrange und viele andere bekannte Gesichter hatten auf Agnes herabgesehen.

Nun waren es keine Plakate von Todessern mehr, sondern von anderen gesuchten Leuten.

Agnes erkannte Harry und Hermine, aber auch Konstantin und Liza waren unter den gesuchten, die auf großen Plakaten eindeutig gefährlicher und angsteinflößender wirkten, als sie es in Wirklichkeit taten.

Selbst von Tia gab es ein Bild, auf dem sie sonderbar ernst aussah und im Gegensatz zu den anderen Plakaten war bei ihrem sogar Farbe verwendet worden, aber nur für ihre Augenfarbe.

Das eine Auge war in einem so dunklen Braun, dass es sich kaum von dem Schwarz der Druckertinte abhob und ließ es so noch finsterer aussehen, wie ein schwarzer See. Das andere Auge hingegen war hellgrün und es war ein extremer Kontrast im Gegensatz zu den Schwarz-Weiß-Bildern, sodass es wie ein wachsames Auge aussah, das alles und jeden im Auge behielt.

Es war erschreckend, Tia in einem so bedrohlichen Licht zu sehen, aber Agnes war sich sicher, dass Tia sich geehrt sein und vielleicht sogar dankbar zeigen würde, wenn sie erfuhr, dass ihre Plakate sogar ein bisschen bunter waren, als die anderen.

Aber Agnes nahm sich nicht die Zeit, länger auf die Plakate zu sehen.

Mit schnellen, aber eleganten Schritten bahnte sie sich problemlos ihren Weg zu ihrem Ziel.

Sie ließ sich keine Unsicherheit anmerken; keine Angst und kein Zweifeln.

Ein einziger Fehler, ein einziger falscher Gesichtsausdruck oder ein falsches Wort konnten ihr Ende bedeuten.

Dann würde sie auffliegen und vermutlich würde man sie umbringen.

So wollte Agnes nicht sterben – wenn sie schon sterben musste, dann als sie selbst und nicht als Agnolia Tripe verkleidet.

Eine kleine Klingel läutete, als Agnes den Laden betrat.

Als Elfjährige war sie auch dort gewesen und hatte dort das erste Mal Zutaten für den Zaubertrank-Unterricht besorgt – damals hatte sie noch nicht gewusst, dass sie dieses Fach verabscheuen würde.

Die Apotheke in der Winkelgasse war eine der größten Läden, in denen man Zutaten für verschiedene Tränke kaufen konnte, aber auch für spezielle Zauber und Beschwörungen.

Agnes erinnerte sich daran, dass dort auch Fred und George häufig ihre Zutaten besorgt hatten, aber die meiste Zeit waren sie entweder selbst gegangen oder hatten Tia geschickt, um die Sachen zu besorgen, da sie Agnes nicht zugetraut hatten, Zutaten für Zaubertränke zu kaufen und Agnes hatte das verstanden – sie wusste nicht einmal jetzt, was sie wirklich kaufte, musste dabei aber so wirken, als wäre sie keineswegs ahnungslos, sondern wusste, was sie tat.

Mit sicheren Schritten führte ihr Weg sie direkt zur Theke und sie wartete darauf, dass sie bedient wurde, aber der Apotheker kümmerte sich im Moment um andere Dinge und sortierte einige Zutaten in den Regalen hinter der Theke ein.

Agnes hätte höflich gewartet, bis er seine Arbeit erledigt hatte und Zeit für sie gehabt hätte, aber Agnolia wartete nicht gerne.

Agnes räusperte sich auffällig und der Apotheker blickte über seine Schulter.

Als er sie erkannte, zuckte er zusammen und wirbelte sofort herum, wobei die Zutaten, die er soeben einsortiert hatte auf den Boden fielen.

„Madam Tripe!", rief der Apotheker bestürzt, „Ich bitte um Entschuldigung!"

„Betteln Sie nicht um Vergebung, sondern bessern Sie sich!", zischte Agnes.

„Natürlich, Madam Tripe!", der Apotheker verbeugte sich schnell, „Was kann ich Euch bringen?"

„Alles von dieser Liste", Agnes hielt ihm mit spitzen Fingern das Blatt hin und sah so aus, als würde sie auf gar keinen Fall seine Hand berühren wollen, „Und das sofort!"

Mit zittrigen Händen las der Apotheker die Liste und schien immer bleicher und bleicher zu werden.

„Aber...", stammelte der Apotheker und sah flehend zu Agnes auf, „Aber... Madam Tripe... das sind alles verbotene Zutaten."

„Wie können Sie es wagen, so mit mir zu sprechen?", zischte Agnes hasserfüllt, um ihre aufkommende Angst zu unterdrücken, „Wissen Sie nicht, mit wem Sie sprechen? Überhaupt nichts ist für mich verboten!"

„Ihr wisst doch selbst, Madam Tripe, dass ich diese Zutaten nicht ohne das Einverständnis des Ministeriums ausgeben darf, so verlangt es die neue Rechtslage –"

„Ich habe keine Zeit für so einen Unsinn", schnaubte Agnes und zückte entspannt ihren Zauberstab und ließ ihn locker in ihrer Hand wippen.

Sie bedrohte den Apotheker nicht direkt damit, aber das musste sie gar nicht, denn es reichte schon, ihn nur in der Hand zu halten, um den Apotheker noch bleicher werden zu lassen und er starrte gebannt auf den Zauberstab, als würde er nur darauf warten, dass sie ihn gegen ihn richtete.

„Madam Tripe, ich muss darauf bestehen, dass auch Ihr Euch an die Regeln haltet – das Ministerium will das so – keine Ausnahmen."

Agnes sah, dass es keinen Zweck hatte. Damit hatte sie nicht gerechnet – niemand von ihnen hatte damit gerechnet. Offenbar hatte das Ministerium bestimmte Zutaten für gewisse Tränke verboten, sodass man diese nicht mehr legal brauen konnte.

Sie hätten damit rechnen sollen, aber auf der anderen Seite war diese neue Regel so unwahrscheinlich und lächerlich, dass sie niemals alleine auf diese Idee gekommen wären und es war auch nichts gewesen, das einer von ihnen bisher in der Zeitung gelesen hatten.

Das bedeutete aber auch, dass Tia nun doch keinen Vielsafttrank brauen konnte.

Sie hatte gesagt, dass sie noch ein paar Fläschchen hatte, aber für Konstantins ursprünglichen Plan hätten sie mehr gebraucht.

Konstantin würde sich etwas anderes überlegen müssen, aber vielleicht hatte Agnes auch eine Idee.

Agnes hob ihren Zauberstab gegen den Apotheker und dieser hatte nicht einmal Zeit, aufzuschreien, sondern riss nur erschrocken die Augen auf und hob die Hände.

Obliviate", sagte Agnes kühl, als sie das Gedächtnis des Arbeiters löschte. Er durfte sich nicht mehr daran erinnern, dass Agnes – oder auch Agnolia – da gewesen war.

Sein Blick wurde abwesend und Agnes drehte sich um und schritt aus der Apotheke hinaus.

Planänderung – sie würden anders ins Ministerium kommen müssen.

Es waren genug intelligente Hirne zusammen gekommen, bestimmt würde ihnen auch ein besserer Plan einfallen, als es mit dem guten, alten Vielsafttrank zu probieren.

Immerhin war dieser Plan schon so offensichtlich, dass er sowieso vermutlich nicht funktioniert hätte und ein oder zwei Fläschchen besaß Tia ja noch.

Agnes stockte, als ihr zwei rothaarige Männer auffielen.

Sie sahen beinahe identisch aus – beide trugen zusammenpassende, magentafarbene Jacken und dazu schwarze Hosen. Sie sahen trotz allem so gleich aus, dass man sie kaum auseinanderhalten konnte, aber Agnes konnte es.

Sie erkannte Fred sofort – nicht erst dann, als George seinen Kopf ein bisschen drehte und Agnes erkannte, dass ihm ein Ohr fehlte – Tia hatte davon erzählt. Sie wusste instinktiv, dass das Fred war, der nur ein paar Meter von ihr entfernt stand und sich mit seinem Bruder George unterhielt.

Agnes konnte nicht anders, als stehen zu bleiben, obwohl sie wusste, dass es ein fataler Fehler sein könnte, aber sie war Fred so nahe und das zeigte ihr, dass sie ihn vermisst hatte.

Dieser Fred war nicht nur Teil ihrer Einbildung. Dieser Fred hier war aus Fleisch und Blut und echt. Sie wollte zu ihm gehen und mit ihm sprechen – einfach nur „Hallo" sagen. Aber sie durfte nicht. Der Plan stand über ihrem Verlangen, einfach nur mit Fred zu sprechen – Liebe war schön und gut, aber Agnes fand, dass ihre selbstsüchtigen Wünsche im Moment nicht wichtig waren. Sie konnte nicht mit Fred sprechen.

Sie wollte sich gerade umdrehen und gehen, als Fred sich ebenfalls zu ihr umdrehte und sie ansah.

Einen Moment lang war Agnes wie paralysiert und schaute ihn an, wie ein Reh im Scheinwerferlicht, aber dann erinnerte sie sich, dass sie Agnolia Tripe sein sollte.

Sie lächelte kühl, hob stolz ihren Kopf und stellte sich gerader hin.

Aber Fred schien direkt durch ihre Fassade zu sehen und starrte sie mit offenem Mund an, schüttelte verwirrt den Kopf und schien mit sich selbst zu ringen.

George folgte dem Blick seines Bruders und erblickte Agnes, aber im Gegensatz zu seinem Zwilling schien er keinen Zweifel daran zu haben, dass sie Agnolia war und sein Blick wurde hasserfüllt. Agnes hatte nie gedacht, dass George so finster blicken konnte – und dann hatte sie erst Recht nicht erwartet, dass dieser Blick ihr gelten würde.

George griff sofort nach seinem Zauberstab und wollte zu Agnes gehen, aber Fred hielt ihn zurück.

Agnes erkannte, dass es Zeit war, zu gehen, bevor sie noch einen Fehler beging und doch noch mit Fred sprach und das Geheimnis verriet, dass sie lebte. Im Moment war Fred sicherer, wenn er dachte, dass sie tot war. Sie hätte sich niemals aufhalten lassen sollen.

Sie apparierte und als Fred das nächste Mal zu der Stelle sah, an der sie gestanden hatte, war sie weg.

So ziemlich alles an dieser kleinen Mission war schief gegangen. Agnes hatte gehofft, dass sie wenigstens ein paar Zutaten bekommen würde, aber stattdessen hatte sie gar nichts bekommen. Wenigstens war sie nicht erkannt worden, aber Fred und George hatten sie gesehen und Fred hatte nicht so ausgesehen, als hätte er ihr die Verkleidung abgekauft.

Hoffentlich hatten die anderen mehr Glück gehabt.

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