86. Kapitel

Agnes' Verstand war ein Vergnügungspark geworden. Zeitweise erfand sie sich selbst Leute und brachte Menschen zu sich in den Keller, mit denen sie sich unterhalten konnte und denen sie vertraute. Sie konnte mit ihnen sprechen, so wie mit Fred – meistens war Fred derjenige.

Wenn man so lange allein in der Dunkelheit verbrachte, dann hörte man irgendwann auf, seinen Verstand zu hinterfragen und nahm jede Ablenkung einfach hin, denn sonst konnte Agnes ja nichts tun.

Leider erfand Agnes auch Schrecken und Leiden, die sie sich selbst auferlegte. Es stand immer die Frage im Raum, welche Qualen von ihr selbst stammten und welche tatsächlich von Agnolia.

Agnes wurde von Schreien geweckt. Es waren ausnahmsweise nicht ihre eigenen Schreie, was schon einmal eine angenehme Abwechslung war. Diese Schreie kamen von einem Mann und er schien nicht zufrieden zu sein.

Noch dazu schienen sie von hinter der Wand zu kommen – also würde noch jemand zu ihr hinuntergebracht werden. Aber das war nicht möglich – sie war doch bestimmt vergessen worden. Sollte sie wirklich Gesellschaft bekommen? Wahrscheinlich bildete sie sich das alles wieder nur ein.

„Lasst mich los, ihr verdammten Feiglinge! Gebt mir einen Zauberstab und bringt mich gefälligst so um, wie es sich gehört! Mann gegen Mann!"

Die Schreie wurden lauter und Agnes kannte diese Stimme, aber sie war sich nicht sicher, ob sie denjenigen, der schrie kannte. Normalerweise waren ihre Einbildungen immer Leute, die sie schon kannte, aber das konnten dann alle möglichen Personen sein.

Einmal war ihr ihr alter Lehrer aus der Muggel-Schule die sie besucht hatte, damals, als kleines Kind, erschienen – das war verstörend gewesen.

Der Mann fluchte immer weiter und Agnes hörte Rumpeln, aber auch Schritte – es kamen tatsächlich drei oder vier Personen die Treppe hinunter. Das war ein ungewohntes Geräusch. Dieses Geräusch hatte Agnes sich noch nie eingebildet.

Die Tür, die davor noch nicht da gewesen war, wurde aufgerissen und Agnes zuckte zurück, als ein heller Lichtschein ins Innere drang. Sie fauchte, wie ein wildes Tier, als sie sich scheu wieder in die Dunkelheit verzog, aber lange blieb das Licht nicht zu sehen.

Drei Todesser in Mäntel warfen eine weitere Person in Agnes' Gefängnis und zogen die Tür wieder hinter sich zu. Agnes stürzte zur Tür, als sie ihren Fehler erkannte, aber diese war schon verschwunden. Sie schien wieder wie verzaubert und Agnes konnte nicht einmal mehr erkennen, wo die Tür gewesen war.

„Nein!", schrie sie wütend auf sich selbst und trat gegen die solide Mauer, nur um den Schmerz zu spüren, den sie sich wohl auch verdient hatte.

Fluchend und schreiend sprang sie auf einem Bein herum und trat einfach noch einmal gegen die Mauer – wieder ohne Erfolg. Das war ihre Chance gewesen, hinaus zu kommen, aber stattdessen hatte sie nicht einmal den Moment des Lichts genossen. Sie musste sich zusammenreißen. Ihre animalische Seite übernahm langsam die Überhand. Sie würde nicht wie Greyback enden.

„Agnes?", fragte der Mann, der mit ihr eingesperrt war vorsichtig.

Agnes seufzte. Das war wohl ihre Chance gewesen, zu entkommen, wenn sie nur etwas schneller gewesen wäre.

„Agnes? Bist du das?", fragte der Mann wieder.

„Jepp", machte Agnes und drehte sich zu dem Mann um. Er sah genauso aus, wie damals, als sie ihn das letzte Mal gesehen hatte. Vielleicht ein bisschen mitgenommener und dünner, aber ansonsten eigentlich ganz gleich, als wäre nicht ein Jahr vergangen, seit sie das letzte Mal gesprochen hatten. „Wie geht es dir, Sirius, altes Haus?"

Sirius wirkte im Dunkeln verwirrt. Vermutlich konnte er Agnes noch nicht sehen – seine Augen konnten sich noch nicht auf die Dunkelheit eingestellt haben, aber er hörte sie ganz genau.

„Ganz gut, kann nicht klagen", winkte Sirius ab, „Außer, dass ich gerade von einem Dutzend Todesser aus dem Ministerium hierher gezerrt worden bin, nur um nicht einmal ordentlich umgebracht zu werden. Ist das eine neue Foltermethode von ihnen? Sie stecken mich mit wahnsinnigen in einen Raum? Wie bist du hierhergekommen?"

„Eigentlich ziemlich ähnlich, wie du", erzählte Agnes, als würde sie nicht gerade erzählen, wie sie entführt worden war, sondern bei einem Kaffeekränzchen sich entspannt mit Sirius unterhalten, „Aber das weißt du doch schon."

„Nein?", Sirius wirkte verwirrt, „Warum sollte ich das wissen?"

„Du musst mir nichts vorspielen, Sirius", winkte Agnes ab, „Du bist mir zwar bisher noch nie erschienen, aber es war wohl nur eine Frage der Zeit, bis ich mir auch dich einbilde."

Kurz war es still. „Du denkst, ich wäre eine Einbildung?", fragte Sirius perplex.

„Siehst du? Du weißt es auch schon!", Agnes lachte auf, „Du kannst nämlich gar nicht wirklich hier unten sein – du bist tot."

„Ich bin nicht tot."

„Doch, das bist du", widersprach Agnes ihm, „Sie haben dich sterben sehen. Du bist von Bellatrix mit einem Zauber getroffen worden und durch einen seltsamen Bogen gefallen. Sie haben nicht einmal eine Leiche von dir gefunden."

„Bellatrix hat mich tatsächlich mit einem Zauber getroffen", erinnerte Sirius sich, „Aber das war nur ein Lähmzauber. Ich glaube, ich bin dann wirklich zurückgefallen in diesen seltsamen Bogen, aber... ich bin wieder zurück gekommen– gerade erst gestern."

„So eine amüsante Geschichte habe ich schon lange nicht mehr für mich selbst erfunden", freute sich Agnes, „Diese Geschichte ist fast so gut, wie die, die Fred mir manchmal erzählt."

„Fred ist auch hier?", fragte Sirius verwundert und sah sich um, aber da war niemand, außer Agnes.

„Manchmal", Agnes zuckte mit den Schultern, „Wenn mein Verstand beschließt, dass ich mir einbilde... das solltest du doch als eine weitere Einbildung von mir wissen."

„Du bist wahnsinnig", bestimmte Sirius, als wäre das ein Fakt, den er aus einem Lehrbuch vorlas.

„Natürlich bin ich das – ich bin einfach schon viel zu lange alleine gewesen. Wenn ich zu lange alleine bin, dann bilde ich mir eben Leute ein – dafür bin ich mir selbst ziemlich dankbar", bemerkte Agnes.

„Wir müssen da raus", bestimmte Sirius ernst, „Hast du eine Idee, wie?"

„Ich bin hier schon seit... drei Monaten? Denkst du nicht, ich habe nicht schon alles versucht, Sirius?", schnaubte Agnes.

„Wirklich alles?"

„Warum willst du überhaupt raus?", fragte Agnes verwirrt, „Wenn ich rauskommen würde, würdest du hoffentlich verschwinden. Hast du etwa auch schon Selbstmordgedanken?"

„Nimm das hier doch endlich einmal ernst", befahl Sirius, der langsam die Geduld verlieren zu schien.

„Ich bin doch –", wollte Agnes sich verteidigen, aber in diesem Moment begann das Poltern und Agnes blickte erschrocken zu Sirius, der nicht verstand, was plötzlich los war. Er konnte weder etwas hören, noch etwas sehen. Für ihn war der Raum noch genauso, wie zuvor.

Aber Agnes rannte panisch in die Mitte des Raumes und kauerte sich hin. Sie machte sich ganz klein und schlang die Arme um ihre Knie. Tränen rannen über ihre Wangen und sie schrie, während Sirius nur danebenstand und ihr dabei zusah.

Es dauerte nicht lange. Vielleicht eine Minute – nicht einmal. Agnes weinte und bewegte sich nicht, als wäre sie in einer Kiste gefangen, bevor sie sich wieder etwas entspannte, aber sie hörte nicht auf zu weinen. Agnes weinen zu sehen war ein seltsamer Anblick für Sirius.

„Ist alles okay?", fragte Sirius vorsichtig, als Agnes auf zittrigen Beinen wieder aufstand.

„Klar", schniefte Agnes und wischte sich eine Träne von der Wange, „Keine große Sache – das passiert jeden Tag."

„Es ist nichts passiert?", bemerkte Sirius verwirrt und auch Agnes sah ihn irritiert an.

„Klar", schnaubte sie, „Hast du es nicht bemerkt, oder stammst du aus dem ignoranten Teil meines Gehirns? Die Wände haben versucht, mich zu zerquetschen, aber sie erledigen es nie. Sie schließen mich immer nur kurz ein, bevor sie wieder zurückgeschoben werden – seltsam, oder?"

Sirius sah sich um. Die Wände hatten sich nicht bewegt – da war er sich sicher. Wie lange hatte Agnes gesagt, war sie schon allein hier?

„Agnes", Sirius eilte zu ihr und nahm ihre Hände in die seinen, „Was ist passiert?"

„Deine Hände sind kalt", bemerkte Agnes verwirrt und blickte auf seine Hände, „Du bist meine erste Einbildung, die kalte Hände hat."

„Hier unten ist es auch wirklich kalt", bemerkte Sirius, „Ich bin keine Einbildung von dir – ich bin echt und ich bin auch echt verwirrt."

Agnes starrte ihn für einen Moment an und sie schien das verarbeiten zu müssen.

„Ich habe mir schon einige Leute eingebildet", bemerkte Agnes, „Am Anfang habe ich gedacht, sie wären wirklich hier unten bei mir."

„Aber ich bin echt, das musst du mir –"

„Und jetzt", unterbracht Agnes ihn barsch, „kommst du hier hinunter – ein toter Mann und du solltest der erste sein, dem ich glaube, dass du echt bist? So verrückt bin ich dann auch wieder nicht."

„Genau das will ich von dir, Agnes", bat Sirius sie verzweifelt, „Obwohl... weißt du was? Eigentlich ist mir egal, ob du mich für eine Einbildung hältst oder nicht – bring uns einfach hier raus."

Agnes musterte ihn misstrauisch.

„Ich habe einen Plan", gestand sie, „Aber der funktioniert nur, wenn du wirklich keine Einbildung von mir bist... also können wir das vergessen."

„Nein!", schrie Sirius, bevor er tief durchatmete, um sich zu beruhigen, „Nein...", wiederholte er ruhiger, „Wir... wir sollten es trotzdem versuchen. Einfach nur so. Was hast du zu verlieren?"

„Meine Mutter könnte wütend werden, hier hinunterkommen und mir noch ein Tattoo verpassen... vielleicht dumm oder dämlich. Jämmerlich würde auch passen...", überlegte Agnes und untersuchte die Narbe, die ihre Mutter ihr zugefügt hatte. Die Wunden waren verheilt und zurückgeblieben war nur der Schriftzug Abschaum in der Handschrift ihrer Mutter. Dass Agnolia es auch noch in ihrer Handschrift hinterlassen hatte, war für Agnes das schlimmste.

„Das wird nicht passieren – weil es funktionieren wird", versprach Sirius sicher, „Bitte, Agnes. Hab Vertrauen."

„Ich hab das Vertrauen in mich selbst verloren, als ich begonnen habe, mit meinen Einbildungen zu sprechen", gestand Agnes, „Aber... okay... was habe ich zu verlieren. Eine Runde Folter wäre wenigstens eine Abwechslung."

„Wie sieht dein Plan aus?", fragte Sirius sie interessiert.

„Ich habe keine wirkliche Kleidung mehr", begann Agnes und schaute an sich hinunter.

„Das sehe ich", bemerkte Sirius unbegeistert, weil er nicht wusste, worauf sie hinauswollte. Agnes trug eigentlich nur noch Löcher, die mit wenigen Fetzen verbunden waren.

„Also", Agnes grinste fröhlich, „brauche ich einen Socken von dir."



Agnes wusste nie wirklich genau, wann Tonky mit dem Essen kam.

Die Hauselfe brachte jeden Tag nur einen Teller in den Keller, auf dem das Essen für den ganzen Tag für Agnes war – es war nie sonderlich viel.

Der Teller verschwand irgendwann von selbst – Agnes wusste das, immerhin hatte sie schon versucht, einen dieser Teller zu zerbrechen, um die Scherben als Werkzeuge benutzen zu können, aber der Teller war einfach von der Wand abgeprallt, ohne irgendwelche Schäden davonzutragen. Agnolia hatte an alles gedacht.

Und dennoch hatte sie ihre eigene Tochter unterschätzt. Agnes mochte es lieber, wenn sie unterschätzt wurde – so überraschte sie ihre Feinde. Sie war schon immer unterschätzt worden. Sogar beim Quidditch, als sie das erste Mal gespielt hatte, hatte niemand dem kleinen, blonden Mädchen so eine Wut und Treffsicherheit zugetraut. Jetzt war sie nicht wirklich größer, aber trotzdem behauptete sie von sich, dass sie nur noch wütender und noch Treffsicherer geworden war. Jedenfalls hoffte sie das, denn davon hing jetzt wohl ihr Leben ab. Sie hatte nur einen Versuch – mehr nicht. Wenn Tonky auch nur eine Ahnung davon hatte, was sie vorhatte, würde sie gezwungen es, es an Agnolia weiter zu melden und dann war Agnes erledigt.

Agnes kauerte in einer Ecke und wartete. Sie ließ ihren Gedanken nicht zu, abgelenkt zu sein. Sie fokussierte sich vollkommen auf ihr Ziel, das noch nicht einmal da war.

In ihrer Hand die Socke, die eigentlich ziemlich ekelhaft war und stank, aber das war Agnes egal – sie selbst war ekelhaft und stank.

Sirius war auf der anderen Seite des Raumes und war ebenso angespannt, wie sie.

Er war nicht verschwunden, obwohl Agnes ihre Gedanken woanders hingelenkt hatte – das fand sie seltsam, aber sie konnte sich später noch fragen, ob er echt war oder nicht, wenn sie endlich da draußen waren oder auch nicht.

Es knackte und alles schien für Agnes in Zeitlupe abzulaufen. Sie sah Tonky vor sich, die brav einfach nur die Teller abstellen wollte, aber Agnes holte aus und warf den Socken, bevor diese überhaupt den Boden berührt hatten.

Tonky fing den Socken instinktiv auf und ließ dabei die Teller auf den Boden fallen. Einen winzigen Moment lang war Agnes schon beinahe enttäuscht – das war gutes Essen für sie gewesen, das jetzt bestimmt nicht mehr so gut war, nachdem sie es vom Boden aufgeklaubt hatte. Aber dann erinnerte sie sich daran, dass sie ja bald frei sein könnte und fokussierte sich wieder.

Tonky starrte auf den Socken und sah dann auf – Agnes direkt ins Gesicht. Trauer und Enttäuschung waren Tonky ins Gesicht geschrieben, als sie erkannte, was passiert war, bevor sie einen lauten Schrei ausstieß und weinend zusammenbrach.

Sirius war schon zur Stelle und packte die kleine Hauselfe, sollte sie entkommen wollen, aber das wollte Tonky nicht. Sie weinte nur und schlug immer wieder mit ihrer kleinen Faust auf den harten Boden.

Agnes näherte sich der Hauselfe und als Sirius aufblickte, erschrak er für einen Moment, als er meinte, Agnolia vor sich zu haben.

Agnes zeigte überhaupt keine Gefühle, sondern wirkte absolut kalt und gefühlslos. Sie war ihrer Mutter so ähnlich, ohne die Narben wäre Sirius sich sicher gewesen, dass Agnolia den Raum betreten hätte.

„Tonky", Agnes' Stimme war eisig, „Ich habe dich befreit."

„Nein! Nein! Nein!", heulte die Hauselfe, „Bitte nicht, junge Herrin! Bitte! Ich flehe Euch an!"

„Ich kann es wieder rückgängig machen", bot Agnes kühl an, „Ich kann dich wiedereinstellen – unter meine Dienste stellen."

Tonky blickte auf und warf sich so heftig auf den Boden, dass Sirius sie beinahe losgelassen hätte.

„Ja, junge Herrin!", bettelte Tonky, während sie nicht wagte, aufzusehen und in der tiefen Verbeugung blieb, „Bitte! Tonky würde alles tun!"

„Ich stelle dich wieder ein", versprach Agnes, „und nehme den Socken wieder zurück, wenn du uns hier rausholst."

Tonky sah auf und wirkte verunsichert.

„Die Herrin würde Tonky umbringen", schniefte Tonky, „Aber Tonky hätte das verdient."

„Ich würde eine andere Stelle für dich finden", versprach Agnes und klang etwas sanfter, sodass Sirius wusste, dass die alte Agnes nicht ganz verloren war, „Ich wäre deine einzige Herrin – nicht mehr Agnolia. Du müsstest nur noch mir gehorchen."

„Das würde die junge Herrin für Tonky tun?", fragte Tonky ungläubig, „Die junge Herrin würde Tonky nicht bestrafen?"

„Niemals", versprach Agnes sanft, „Aber du musst uns zuerst hier rausholen. Bitte."

Tonky stand auf und schaute Agnes unsicher an, bevor sie nickte.

„Tonky wird das machen", versprach sie sicher, „Tonky wird der jungen Herrin dienen."

„Abgemacht", Agnes hielt der Hauselfe ihre Hand hin und Tonky schüttelte sie, bevor sie Agnes und Sirius an den Händen nahm und disapparierte und als Agnes spürte, wie sich ihre Innereien verzogen und sie wie durch einen dünnen Schlauch gepresst wurde, hätte sie vor Freude weinen können, denn sie war frei.

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