85. Kapitel

„Du bist wahnsinnig, Agnes."

„Ich weiß, aber etwas besseres fällt mir nicht ein."

„Du verletzt dich – dir tut das doch weh."

„Wenigstens bedeutet das, dass ich noch lebe, oder?"

„Wenn du an einer Blutvergiftung stirbst, werde ich neben dir stehen und laut lachen, Agnes."

„Du kannst nicht neben mir stehen, wenn ich sterbe... du bist ich."

Agnes hockte am Boden und mit ihren bloßen Fingern versuchte sie einen Tunnel zu graben. Sie waren schon blutig und aufgeschürft. Erde und Dreck waren in die Wunden gelangt, aber Agnes ignorierte es.

Wie lange war es wohl schon her, seit sie das letzte Mal Sonnenlicht gesehen hatte? Vielleicht zwei Monate... könnten auch drei sein. Wie sah die Sonne überhaupt aus? Gab es so etwas wie die Sonne überhaupt noch, oder war das auch nur ein Werk ihrer eigenen Einbildung.

„Was wirst du tun, wenn du draußen bist?", fragte der Mann neben ihr. Er schwebte in der Luft, als würde er in einer imaginären Hängematte liegen und hatte die Arme hinter dem Nacken verschränkt. Er starrte auf die Decke, als wäre dort nicht die schimmlige Steindecke, sondern der klare, blaue Himmel, den Agnes so sehr vermisste. Er wirkte so entspannt, während Agnes jeden Tag mit ihrem Leben kämpfte.

„Keine Ahnung", gestand Agnes, „Vielleicht werde ich dich suchen. Das wäre doch ein Plan, oder?"

„Aber ich bin doch schon hier", bemerkte der Mann verwirrt und stand auf. Er schwebte mehr oder weniger zu Boden und hockte sich neben Agnes auf den Boden, die einfach weiter mit ihren Händen scharrte, bis ihr aufging, dass das keinen Sinn hatte – unter der dünnen Schicht aus Dreck und Erde war eine massive Platte aus Beton. Obwohl das Haus alt war, hatte wohl jemand in modernen Zeiten daran gedacht.

Agnes seufzte geschlagen und ließ sich auf den dreckigen Boden sinken, aber sie war sowieso schon so dreckig und verstaubt, dass es keinen Unterschied mehr machte. Ihre weißblonden Locken konnte man kaum noch Haare nennen, so verdreckt und wild waren sie schon. Ihre Kleidung war schweißnass und hatte unzählige Löcher, sodass sogar Tonkys Lappen noch mehr von ihrem Körper verdecken würde und sie wusste gar nicht mehr, ob diese braune Schicht auf ihrer Haut wirklich ihre Hautfarbe war, oder doch eher das gerötete Weiß, das sich zeigte, wenn Agnes sich eine Schicht von dem Dreck abkratzte.

„Du bist nicht hier, Fred", Agnes blickte traurig zu dem rothaarigen Mann, der neben ihr saß und so echt wirkte, aber sie wusste insgeheim, dass er nur ihrer Einbildung entsprang. Schon viel zu lange war sie allein in diesem Keller eingesperrt. Nur Tonky kam jeden Tag einmal, um Essen zu bringen, aber sie stellte immer nur schnell das Essen hin und verschwand dann gleich wieder.

„Warum sollte ich nicht hier sein?", fragte Fred Agnes und hob eine Augenbraue. Er grinste, wie er es immer tat, wenn er Agnes auf die Nerven ging. Alles an ihm schien so echt zu sein, dass Agnes sich wirklich immer wieder fragte, ob sie wirklich mit ihm dort eingesperrt war, aber das war eigentlich nicht möglich.

Fred war frei und gesund – außerhalb dieser vier Wände, die Agnes wahnsinnig machten.

„Wenn du wirklich hier wärst, Fred, würdest du dich anders benehmen", vermutete Agnes, „Du wärst nicht so entspannt."

„Glaubst du?", hinterfragte Fred, „Wie gut kennst du mich wirklich? Wir sind kaum ein Jahr zusammen gewesen, bevor du entführt geworden bist."

„Lange genug", schnaubte Agnes, „Ich kenne dich, Fred Weasley. Und du bist es nicht."

„Vielleicht bin ich auch nur so entspannt, weil ich weiß, dass es keine Hoffnung mehr gibt", bemerkte Fred, „Du bist schon viel zu lange hier. Wenn sie wirklich nach dir suchen würden, wärst du schon weg von hier."

„Wahrscheinlich sind sie noch nicht auf die Idee gekommen, dass ich eingesperrt in einem Haus sein könnte", vermutete Agnes.

„Auf diese Idee wird vermutlich auch niemand kommen", bemerkte Fred heiter, „Ich meine... du denkst es doch selbst, oder? Ohne Dumbledore wärst wohl du der nächste helle Kopf dieser Organisation gewesen, aber ohne dich sind sie alle kaum zu einem klaren Gedanken in der Lage."

„Das ist Unsinn", schnaubte Agnes, obwohl sie selbst nicht so überzeugt war, „Es gibt noch andere, außer mir. Konstantin... Liza... vielleicht auch Remus."

„Aber sie haben dich noch nicht gefunden", bemerkte Fred.

„Nein", Agnes biss die Zähne zusammen, „Das haben sie noch nicht."

„Und du glaubst auch nicht, dass sie dich jemals finden werden, oder?", vermutete Fred, „Du denkst, dass du hier unten sterben wirst."

„Wenn man jeden Tag mit dem Tod rechnet, Fred, dann verliert er seine Ernsthaftigkeit", bemerkte Agnes trocken, „Deine Worte verletzen mich nicht."

„Ich will dich nicht verletzen, Agnes", versprach Fred sanft, „Ich spreche nur deine Gedanken laut aus. Das kann gesund sein."

„Mit sich selbst sprechen ist gesund?"

„Besser, als stumm hier im Dunkeln sitzen, oder?"

Agnes stand auf. Ihre Schuhe hatte sie vor ein paar Wochen beim letzten Vollmond zerstört. Sie ließen sie nicht einmal aus dem Raum, wenn Vollmond war. Zuerst hatte sie gehofft, es würde jemand kommen, um sie in die Wildnis auszulassen, damit sie wenigstens eine Nacht lang frei sein konnte, aber sie hatte sie geirrt. Der Raum war kleiner, als der Raum in der Heulenden Hütte. Sie war nicht begeistert als Werwolf von diesem Raum gewesen und am nächsten Tag war sie so verwundet gewesen, dass Tonky schon beinahe zu ihr gekommen wäre, um ihr zu helfen, aber im letzten Moment hatte es sich die Hauselfe anders überlegt – bestimmt hatte Agnolia es ihr verboten.

„Wie lange ist es noch bis zum nächsten Vollmond?", fragte Fred sie neugierig und Agnes schaute ihn nachdenklich an, bevor sie in eine der vier Ecken ging. In den erdigen Boden hatte sie einen kleinen Mondkalender gezeichnet, der sie am laufenden hielt.

„Heute oder Morgen", vermutete Agnes, „Ich weiß nicht – ich fühle mich mittlerweile jeden Tag so, als wäre es der Tag vor Vollmond. Wo wirst du sein, wenn ich mich verwandle?"

„Ich werde bei dir sein", versprach Fred sanft und ging zu ihr. Er nahm ihre Hand und Agnes bildete sich ein, dass sie tatsächlich seine Hand spürte – die Wärme und die Sicherheit, die davon auszugehen schien, erwärmten ihr Herz.

Fred konnte ihre Laune sogar verbessern, wenn er nicht einmal real war.

„Ist es nicht gefährlich für dich, bei mir zu sein, wenn ich mich verwandle?", fragte Agnes, obwohl sie wusste, dass Fred nicht echt war.

„Liebe lässt uns über alle Hürden gehen", grinste Fred.

„Das war so schnulzig, ich bezweifle langsam wirklich, ob du nur eine Einbildung von mir bist – ich würde niemals auf solche Ideen kommen."

„Vielleicht kennst du mich auch einfach zu gut", schlug Fred vor, „Meine Gedanken übertragen sich auf die deinen."

„Dann lass mir noch ein paar Gehirnzellen, damit ich weiterhin die Kluge in der Beziehung sein kann", bat Agnes ihn frech.

Fred öffnete den Mund, um etwas zu antworten, aber in diesem Moment schien der Raum zu vibrieren. Lautes Poltern war zu hören und Agnes und Fred sahen sich panisch an.

Sofort flüchtete Agnes in die Mitte des Raumes und kauerte sich dort auf den Boden hin. Es geschah jeden Tag. Die Wände schienen sich zu bewegen und langsam – furchtbar langsam kamen sie immer näher auf Agnes zu. Es polterte und es war so laut, dass Agnes sich mit ihren Händen die Ohren zuhielt und selbst schrie, um gegen den Lärm anzukämpfen.

Sie schloss die Augen, denn sie wusste, wenn sie sie öffnete, würde sie nur sehen, wie die vier Wände und selbst die Decke immer näher zu ihr kamen und sie zu zerquetschen drohten.

Agnes meinte schon beinahe die Wände auf ihrer Haut zu spüren und sie riss die Augen auf. Sie war eingesperrt und es war stockdunkel. Sie konnte nicht einmal mehr ihre Arme ausbreiten und die Wände rückten noch ein Stück näher, bis sie sich gar nicht mehr bewegen konnte. Agnes atmete schwer und weinte. Sie wollte das alles nicht mehr. Sie wollte da raus.

Sie wollte sich bewegen und die Sonne wiedersehen.

Jeden Tag schienen die Wände sie zerquetschen wollen, aber das geschah nie. Es hatte erst vor ein paar Wochen begonnen, aber seitdem geschah es jeden Tag. Wahrscheinlich eine weitere Foltermethode ihrer Mutter, die sie seit ihrer Ankunft nicht mehr gesehen hatte.

Agnes meinte, keine Luft mehr zu bekommen. Wie lange war sie schon so eingequetscht? Eine Minute? Zwei? Wahrscheinlich erst ein paar Sekunden, aber es fühlte sich so unendlich länger an.

Gerade, als Agnes meinte, ersticken zu müssen, verschwanden die Wände von ihrer Haut und kehrten an ihren alten Platz zurück. Sie konnte sich wieder strecken und sich bewegen, aber Agnes blieb kauernd auf dem Boden hocken und zitterte. Sie weinte. Sie weinte so häufig in letzter Zeit, aber es war sowieso niemand hier, vor dem sie hätte Stärke beweisen müssen.

„Ich will nicht mehr", schluchzte Agnes in ihre Hände, „Ich will da raus. Egal, wie."

Fred kam näher und Agnes hörte, wie er sich neben sie setzte. Vorsichtig legte er einen Arm um ihre Schulter und strich ihr sanft über den Rücken.

„Ich weiß", sagte er sanft, „Aber ich warte da draußen doch auf dich. Ich bin für dich da – nur nicht wirklich da."

„Ich werde wahnsinnig, oder?", fragte Agnes ihn und richtete ihre verweinten Augen auf Fred, „Ich habe den Verstand verloren, oder?"

„Wahrscheinlich", vermutete Fred ehrlich, „Aber das ist nicht schlimm. Ich bin ja auch nie sonderlich normal gewesen, oder? Ein bisschen Wahnsinn kann eigentlich ganz gut tun."

„Ich wäre lieber normal und hier raus, als wahnsinnig und hier eingesperrt."

„Das weiß ich, Agnes", seufzte Fred und strich ihr über den Rücken, „Aber wir wissen, dass das nicht funktioniert. Bald. Bald bist du da raus."

„Lüg mich nicht an, Fred", bat Agnes ihn schwach, „Ich hasse es, wenn mir jemand falsche Hoffnungen macht."

„Du braucht jetzt falsche Hoffnungen, sonst würdest du auch noch das letzte bisschen Verstand verlieren", warnte Fred sie, „Also glaub mir – nicht mehr lang und du bist da raus."




Das Bild oben stammt von Mythopoeia! Noch einmal danke, ich verehre dieses Bild und Agnes sieht darauf noch so in Ordnung aus.

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