41. Kapitel
Agnes überlebte, bezahlte dafür aber einen hohen Preis.
Als es ihr das erste Mal erlaubt war, ihr Bett zu verlassen, stolperte sie sofort zu einem Spiegel. Sie sah schrecklich aus – nicht nur war sie müde und die dunklen Augenringe und die eingefallenen Wangen zeigten eindeutig, dass es ihr nicht gut ging, sondern man sah noch die Folgen des Werwolfangriffs.
Überall waren Narben. In ihrem Gesicht war das vernarbte, hässliche Fleisch nicht zu übersehen, während es an ihrem Bauch und ihrem Rücken meistens von Kleidung verdeckt sein würde. Auch am Arm zeigten sich neue Narben. Die alten Fluchnarben ihrer Mutter wurden nun auch noch von hässlichen, dicken, bleichen Narben gekreuzt, sodass sie ein groteskes Karo-Muster ergaben.
Sie fühlte sich so hässlich. Ihr Gesicht war verunstaltet, das wusste sie und sie wusste auch, dass Verletzungen, die von Werwölfen verursacht wurden, nie wieder heilten. Aussehen war ihr noch nie wichtig gewesen, aber plötzlich schämte sie sich dafür und wollte ihr Gesicht verdecken, damit es niemand sehen musste.
Plötzlich klopfte es an der Tür und Agnes zuckte zusammen. Sie erwartete natürlich Besuch, aber sie hatte nicht erwartet, dass er schon so früh hier sein würde.
„Herein!", rief sie und ihre Stimme klang brüchig und schwach – sie fühlte sich auch schwach und zerbrechlich, als würde die sanfteste Brise sie endgültig zu Boden reißen – und sie wusste nicht, ob sie das nächste Mal wieder aufstehen würde.
Langsam und vorsichtig wurde die Tür geöffnet und derjenige sah hinein. Agnes stand mit dem Rücken zu ihm, aber sie hörte ganz genau, wie er den Raum endgültig betrat und die Tür sanft hinter sich schloss. Ihr Gehör- und Geruchssinn waren seit jener Nacht besser geworden und in der Nacht, in vollkommener Dunkelheit konnte sie besser sehen, als zuvor, aber das war das alles nicht wert.
„Agnes?", fragte Roger Davies vorsichtig und kam noch einen Schritt näher. Sie hatte ihn hergebeten – sie hatte Dumbledore gebeten, ihn herzubeten. Sie wollte, dass er es wusste. Sie wollte ihm dieses Geheimnis anvertrauen und sie vertraute ihm in diesem Moment mehr, als sonst jemand anderen.
„Weißt du noch, wie du gesagt hast, dass ich dir alles erzählen kann und wir trotzdem Freunde bleiben werden?", fragte sie leise und Roger blieb verwirrt stehen.
„Ja, natürlich", versicherte er ihr, „Warum fragst du? Was ist passiert? Warum bist du im Krankenhaus?"
„Ich werde dir jetzt etwas erzählen und du musst mir versprechen, dass du es niemanden verrätst", verlangte Agnes, „Ich würde verstehen, wenn wir keine Freunde mehr sind, aber du darfst es niemanden erzählen!"
„Ich verspreche es", meinte Roger feierlich, „Und Notfalls kannst du mir mein Gedächtnis löschen."
„Sie haben mir meinen Zauberstab genommen, damit ich mich nicht selbst verletze", gestand Agnes, „Ich kann dir nicht dein Gedächtnis löschen oder verhindern, dass du es allen erzählst. In diesem Moment entscheidest du, wie mein Leben weiterlaufen wird."
Agnes hatte sich diese Unterhaltung schon hunderte Male durch den Kopf gehen lassen. Es würde nur von Roger abhängen, was sie mit ihrem Leben machen würde – entweder er akzeptierte sie, nahm sie so, wie sie eben jetzt war und sie würde weiter nach Hogwarts gehen, denn sie konnte sich kein Hogwarts ohne ihren besten Freund vorstellen. Oder er schrie sie an, nannte sie ein Monster, kündigte ihre Freundschaft und erzählte jedem, der es hören wollte, was für ein grauenvolles Monster sie jetzt war. Dann würde sie nicht mehr nach Hogwarts zurückkehren. Dann würde sie wieder allein durch die Gegend streifen und sie würde nicht einmal mehr Dorothy mit sich nehmen, die im Moment irgendwo bei Dumbledore war, der sie freundlicherweise mitgenommen hatte. Sie wollte ihrer treuen Katze nicht dieses Leben anbieten, vor dem Agnes sie doch vor vielen Jahren gerettet hatte.
„Ich verstehe nicht ganz...", gestand Roger und Agnes drehte sich um. Im ersten Moment war Roger eindeutig erschrocken und überrascht, als er ihr Gesicht sah. Dann war da etwas wie Verwirrung und Sorge.
„Was ist passiert?", wiederholte er seine Frage, „Wer hat das getan?"
„Es war ein Werwolf", gestand Agnes leise, „Sein Name ist Greyback und mein Vater hat ihn geschickt, damit er mich umbringt, aber ich konnte ihm entkommen."
„Er hat dich gebissen", kombinierte Roger und plötzlich stiegen Agnes Tränen in die Augen. Die letzten Tage hatte sie sich zusammengerissen, hatte ihre Gefühle unterdrückt, ihre Tränen hinuntergeschluckt, aber plötzlich mit einem Mal brach der Damm und der Schmerz der letzten Tage und Wochen kam zurück. Ihre Knie knickten ein und Roger fing sie sanft auf und setzte sich auf den Boden, wo er sie fest umarmte und sie an sich drückte, während er beruhigende Geräusche machte.
„Shh... es ist alles in Ordnung", beruhigte er sie sanft.
„Gar- gar nichts ist in Ordnung", schluchzte Agnes, „Ich bin ein Monster! Man sollte mich lieber jetzt umbringen, bevor ich jemanden verletze!"
„Sag so etwas nicht", tadelte Roger sie, „Wir werden schon eine Lösung finden. Lupin hat in der Schule unterrichten können, also wirst du auch dort lernen können! Wir finden schon eine Lösung!"
„Du hasst mich nicht?", fragte Agnes leise und blickte ihn durch einen Vorhang aus Tränen an.
„Warum sollte ich? Kannst du etwas dafür? Nein! Und ich werde ganz bestimmt nicht meine beste Freundin zur Seite stoßen, weil sie jetzt eben ein Werwolf ist! Wenn man vorsichtig genug ist, kann man ganz normal weiterleben!", bemerkte Roger aufgebracht, „Der einzige, der sich vor mir fürchten sollte, ist dieser Greyback! Wenn ich ihn in die Finger bekommen, dann sollte er lieber seinen Schwanz einziehen!"
Agnes kicherte verweint und wischte sich über die Augen.
„Danke Roger", murmelte sie leise.
„Nichts zu danken", winkte dieser ab, „Das machen Freunde eben so – so schnell bekommst du mich nicht los!"
Es war wohl die seltsamste Gruppe, die Agnes seit langem gesehen hatte.
Sie kannte die meisten, aber wenige waren ihr noch unbekannt. In der Runde war natürlich Dumbledore dabei, der ihr alles geduldig erklärte. Neben ihm waren McGonagall und zu ihrer Überraschung Snape, sowie auch Kingsley, der sie immer wieder freundlich ansah und Lupin, der sie neugierig musterte. Eine bisher Unbekannte war eine junge Frau mit rosa Haaren, die sich als Tonks vorgestellt hatte und ein Mann namens Sturgis Podmore.
„Ich glaube, ich verstehe nicht ganz", gab Agnes nervös zu, „Eine Organisation, die schon seit dem ersten Zaubererkrieg gegen den Dunklen Lord vorgeht?"
„Genannt der Orden des Phönix, ja", bestätigte Dumbledore geduldig.
„Und warum genau wollt ihr, dass ich ein Teil davon werde – ein frischgebackener Werwolf auf der Suche nach frischem Kinderfleisch, noch dazu die Tochter von zwei Wahnsinnigen, die hoffentlich noch in Askaban fröhlich und munter Karten spielen!", fragte Agnes sarkastisch, aber McGonagall tadelte sie: „Hier ist im Moment kein Platz für Sarkasmus."
„Entschuldigen Sie, Professor, aber das alles hier wirkt gerade so paranormal, dass es nur ein Teil meiner Fantasie sein kann oder wir werden alle gerade wahnsinnig. Ein Orden, der gegen den Dunklen Lord vorgeht? Wirklich?", konterte Agnes.
„Du wärst kein Teil des Ordens selbst", zeigte Dumbledore auf, „Aber du wärst in einem sicheren Haus, bei Leuten, denen du vertrauen kannst."
„So wie Ihnen?", fragte Agnes patzig und McGonagall warf ihr einen warnenden Blick zu, „Oder wie Professor Snape? Ich erinnere mich noch, wie meine Mutter mir die Geschichte erzählt hat, wie er – natürlich ein treuer Anhänger des Dunklen Lords, mich als Säugling in seinen Armen gehalten hat, während meine Mutter jemanden für den Dunklen Lord gefoltert hat. Klingt doch nach einer Geschichte, die man bei einer fröhlichen Familienfeier erzählt!"
Snape sah so aus, als würde er gerne etwas darauf erwidern, aber Dumbledore kam ihm zuvor: „Tatsächlich vertraue ich Professor Snape vollkommen, aber ich kann dich nicht dazu zwingen, dasselbe zu empfinden. Das einzige, das ich dir anbieten kann, ist ein sicherer Platz zum Schlafen. Wir werden dafür sorgen, dass du in Sicherheit bist vor jedem, der dir etwas anhaben will."
Agnes musterte jeden einzelnen. Kingsley nickte ihr aufmunternd zu und Lupin lächelte freundlich. Tonks wirkte ebenfalls freundlich und aufgeschlossen und sie hatte McGonagall schon immer vertraut.
„Wenn dieser Ort wirklich sicher ist", begann Agnes, „Dann bekomme ich vielleicht wieder ein wenig Schlaf. Langsam hängen meine Augenringe wohl bis zu meinen Knien und ich brauche doch meinen Schönheitsschlaf – oh wartet, dafür ist es wohl zu spät!"
„Ausgezeichnet", bemerkte Dumbledore, „Ich werde mit Elizaveta über deine Entlassung sprechen."
Er stand auf und viele folgten seinem Beispiel, aber einer blieb zurück. Lupin sah sie einen Moment nachdenklich an und Agnes wartete darauf, dass er etwas sagte.
„Wie geht es dir?", fragte er schließlich und Agnes brauchte einen Moment, um sich ihre Antwort zu überlegen. Normalerweise hätte sie „Gut" gesagt, egal, ob es stimmte oder nicht, aber sie wollte Lupin auch nicht direkt anlügen. Irgendwie würde sich das falsch anfühlen.
„Grauenvoll", gab sie schließlich zu, „Schrecklich. Als hätte ich seit Tagen nicht geschlafen, was ich auch nicht wirklich getan habe. Ich bin dauerhaft müde und erschöpft, als hätte ich ein mehrstündiges Quidditchtraining von Roger hinter mir."
„Es wird nicht besser", gestand Lupin und Agnes lachte laut auf, sodass er zusammenzuckte.
„Sollten Sie mir nicht sagen, dass ich mich daran gewöhne? Dass es besser wird? Dass ich wieder in diese friedliche Welt zurückkehren kann, aus der ich gerissen worden bin, in der zwar nicht alles perfekt war, aber ich hatte nicht jeden Tag Schmerzen?"
„Ich will dich nicht anlügen", bemerkte Lupin, „Das wäre nicht richtig."
Agnes nickte und einen Moment war es still zwischen den beiden.
„Ich wünschte mir", begann Agnes schließlich, „Ich würde jemanden finden, dem ich die Schuld dafür geben kann, aber es gelingt mir nicht. Ich würde gerne jemanden finden, an dem ich meine Wut auslassen kann, den ich anschreien kann und vielleicht sogar irgendwie fies verhexen kann, aber ich finde niemanden, außer mich."
„Greyback ist schuld", zeigte Lupin auf, „Er und dein Vater. Dich trifft keine Schuld."
„Schade, dass ich weder an Greyback noch an meinen Vater herankomme", seufzte Agnes.
„Du wirst die Chance dazu bekommen", versprach Lupin, „Und wir werden dir dabei helfen."
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