139. Kapitel
Ivy und Roger schliefen, während Agnes neben ihrem Bett Wache hielt. Sie war kein Wachhund, aber sie passte doch auf die beiden auf, nachdem sie sowieso nicht schlafen konnte. Roger lag in seinem kleinen Bettchen neben Ivys Bett und Agnes lauschte seinem Herzschlag. Er war regelmäßig und stark.
Jemand klopfte sanft an die Tür und Agnes erwartete eine Krankenschwester, aber stattdessen betrat ein älteres Paar und ein Mann, etwas älter als Agnes den Raum.
Ihre Haut war dunkel, wie die von Ivy – dunkler Kaffee – und sie hatten auch ebenso dunkle Haare. Das musste Ivys Familie sein.
Ihre erste Reaktion auf Agnes war Misstrauen, wie sie an ihren Blicken erkannte, aber das war auch kein Wunder. Vielleicht waren es die Narben, vielleicht auch nur eine natürliche Abneigung, die Menschen gegen Werwölfe hatten, auch wenn diese gar nicht wussten, dass es sie gab – auf jeden Falls vertrauten sie Agnes nicht und waren wohl überrascht, sie in diesem Raum bei Ivy und Roger zu finden.
Agnes stand auf und versuchte so gut sie konnte nicht bedrohlich auszusehen.
„Guten Morgen", begrüßte sie die drei mit ruhiger Stimme, um Ivy und Roger nicht zu wecken und lächelte, „Sie müssen wohl Ivys Familie sein?"
„Das sind wir." Es war der ältere Mann, dessen Haare schon ergrauten und der bestimmt zwei Kopf größer war, als Agnes, aber Agnes ließ sich von purer Größe schon lange nicht mehr einschüchtern – besonders nicht von einem Muggel. „Und Sie sind...?"
„Agnes Tripe", stellte Agnes sich vor und streckte ihre Hand aus. Nur zögerlich schüttelte der Mann sie und er hatte einen kräftigen Händedruck, aber den hatte Agnes auch, „Freut mich, Sie kennenzulernen."
„John", stellte Ivys Vater sich vor, „Meine Frau Sada und unser Sohn, Oren."
„Sie sind die Frau, von der Ivy gesprochen hat", erkannte Oren, der ebenso groß war, wie sein Vater und seine schwarzen Locken in einem Afro trug.
„Ich bin wohl die Patin von Roger", bestätigte Agnes möglichst heiter.
„Roger...", John verzog bei dem Namen kurz das Gesicht, „Nach dem Vater?"
Agnes atmete einmal tief durch. „Ja", sagte sie etwas kühler, „Roger ist mein bester Freund gewesen und ich bin bei ihm gewesen, als er gestorben ist. Wenn Sie etwas gegen ihn haben, bitte ich Sie, das nicht vor mir zu sagen..."
Kurz war es still und es herrschte eine angespannte Stimmung im Raum. John und Agnes starrten sich an, aber Agnes hatte von den letzten Monaten mit Sirius viel Erfahrung und wusste, wie man einen Starr-Wettbewerb gewann.
„John, jetzt hör auf und reiß dich zusammen!", schimpfte Sada plötzlich los, „Ich glaube, dieses Mädchen hat genug durchgemacht, da muss sie sich nicht auch noch mit deiner Paranoia auseinandersetzen!"
John schien noch einen Moment lang stur zu bleiben, aber dann sackte er in sich zusammen und blickte weg, zu seiner Frau, die ihn streng ansah.
Sada wirkte zufrieden und tätschelte ihrem Mann die Schulter, bevor sie sich an Agnes wandte: „Danke, dass Sie hier gewesen sind, aber der Kleine ist etwas zu früh. Wir haben ihn erst in zwei Wochen erwartet."
„Für mich ist es auch eine Überraschung gewesen", gestand Agnes, „aber die Geburt ist gut verlaufen. Beide sind gesund."
In diesem Moment wachte Ivy auf und sah sich zuerst verwirrt um, bevor ihr Blick als erstes auf das Babybett von Roger neben ihr fiel und dann auf ihre Gäste.
„Oh", machte sie müde und rieb sich die Augen, während sie sich aufsetzte und Agnes half ihr dabei, „Hallo, seit wann seid ihr hier?"
„Gerade erst angekommen", Oren, ihr Bruder lächelte und er lächelte auch Roger an, „Jetzt bin ich wohl ein Onkel, hu?"
Ivy lächelte zufrieden. „Ist er nicht wundervoll?"
„Das ist er wirklich", bestätigte Sada ebenfalls liebevoll, „Er ist wirklich wunderbar."
Agnes lächelte beim Anblick der Familie. Roger Junior hatte seinen Vater verloren, bevor er überhaupt geboren worden war, aber Agnes würde nicht zulassen, dass es ihm jemals schlechtging. Roger würde eine bessere Kindheit haben, als sie, aber das war sowieso schon gegeben, nachdem er eine wundervolle, liebevolle Mutter hatte.
Aber zuerst einmal musste ein Krieg gewonnen werden und da wurde Agnes trotz allem noch gebraucht. Die letzten Stunden mit Ivy waren wie ein Traum gewesen und es war sehr surreal für Agnes, ausnahmsweise einmal dabei zu sein, wie jemand geboren wurde, anstatt immer nur Tode und Morde mitzuerleben, aber das bedeutete nicht, dass es schon vorbei war. Es war nur eine kurze Verschnaufpause gewesen und sie sollte zurück an die Front.
Agnes atmete tief ein und wandte sich an John. Sie machte sich groß, wie sie es normalerweise nur tat, wenn sie sich bedroht fühlte und John ahmte instinktiv ihre Gestik nach.
„John", begann Agnes ernst und alle Blicke legten sich auf die beiden, „Ich habe Ivy und Roger diese Nacht beschützt und bin für sie da gewesen –"
„Dafür bin ich Ihnen dankbar", sagte John ernst und meinte es auch so.
„– aber ich werde woanders gebraucht. Meine Familie braucht mich zurück und ich kann nicht auf Ivy und Roger achten, wenn ich dort bin. Kann ich mich auf Sie verlassen, dass Sie diese Aufgabe für mich übernehmen, bis ich wieder zurück bin?"
„Natürlich, Miss." John nickte. „Sie können sich auf mich verlassen, Agnes."
Agnes nickte und hielt John ihre Hand hin und sie schüttelten Hände, während sie diesen Pakt schlossen, bevor Agnes sich wieder etwas entspannen konnte und sich lächelnd an Ivy wandte.
„Ivy", seufzte Agnes, „Ich muss zurück, aber wenn alles vorbei ist –"
„Ich weiß", unterbrach Ivy sie liebevoll lächelnd, „Pass auf dich auf und melde dich, wenn es vorbei ist."
Agnes nickte und küsste Ivy auf die Wange und dann Rogers Kopf, bevor sie zur Tür ging, sich dort noch ein letztes Mal umdrehte und sich leicht verbeugte, bevor sie das Krankenzimmer verließ und noch im Krankenhaus disapparierte.
Als Dorothy das nächste Mal mit einem Brief von Agnes zu Fred kam, trug sie auch ein Foto bei sich.
Fred öffnete den Brief in seinem Zimmer und sah sich zuerst das Foto an und zuerst konnte er nicht anders, als es einfach nur anzustarren.
Es war offenbar ein Muggel-Foto, denn die Personen, die darauf zu sehen waren, bewegten sich nicht, aber das störte Fred nicht wirklich, denn auf dem Foto sah man Agnes mit einem kleinen Baby in den Armen.
Agnes sah müde aus, aber sie lächelte glücklich in die Kamera und das Lächeln erreichte sogar ihre Augen. Es war lange her, seit Fred Agnes so lächeln gesehen hatte und der Anblick ließ seinen Bauch angenehm kribbeln. Ja, Agnes sah ziemlich müde aus und ihr Gesicht war noch immer voller Narben, aber Fred fand sie trotzdem wunderschön.
Das Baby, das sie in den Armen hielt hatte dunkle Haut und schon einen Schopf schwarzer Haare auf dem Kopf. Es schien zu schlafen und es sah noch so jung aus, dass Fred sogar davon ausging, dass es ein Neugeborenes war, aber das letzte Baby, das er gesehen hatte, war Ginny gewesen und da war er selbst noch ziemlich jung gewesen.
Fred drehte das Foto um und lächelte.
Agnes mit Roger Junior
stand dort geschrieben und Fred erkannte, dass es Agnes gewesen war, die das geschrieben hatte – er kannte ihre Schrift.
Fred erinnerte sich noch an Ivy, die Frau, die einmal mit Roger Davies im Laden gewesen war, um Agnes zu sagen, dass sie schwanger waren. Das musste das Kind sein.
Das Kind von Agnes' verstorbenem, besten Freund, aber trotzdem sah sie so glücklich aus.
Und in ihrem Brief beschrieb Agnes schon beinahe mit kindlicher Begeisterung, dass die Geburt gut verlaufen war, dass sie jetzt eine Patin war und dass sie sich kaum getraut hatte, den winzigen Roger zu halten.
Aber sie wirkte so glücklich und sie sah auf dem Foto so glücklich aus und Fred hoffte, dass sie dieses Glück behalten würde, denn wenn es jemand verdient hatte, dann Agnes.
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