115. Kapitel
Agnes schrie auf und kroch am Boden weg von der Erscheinung vor ihr. Sie schnitt sich ihre Hände an den Splittern des Schwertes auf, aber das war ihr im Moment egal, denn direkt vor ihr war Winnie – Winnie, die ihren Kopf in ihren Armen trug und seltsam transparent war, aber Agnes konnte noch Blutspuren auf dem Fetzen sehen, den sie noch immer trug.
Und normalerweise war Agnes ziemlich entspannt und gefasst, wenn es darum ging, die Haltung zu bewahren, aber sie schrie einfach nur – dieser Anblick war zu viel.
„Oh nein! Was ist los, junge Herrin?", fragte Winnie panisch und Agnes schrie nur noch lauter, als sich der Mund des abgetrennten Kopfes bewegte.
Sirius und Bartolomäus sahen Winnie ebenfalls an, aber während Sirius Winnie mit einer Mischung aus Ekel und Faszination betrachtete, schien Bartolomäus einfach nur noch müde. Wahrscheinlich hatte er schon lange mit seinem Leben abgeschlossen.
„Du junge Herrin sollte sich beruhigen", bat Winnie sie mit erschrockenen, weit aufgerissenen Augen – es war ein seltsamer Anblick, nachdem die Hauselfe den Kopf in ihren Händen trug, „Verzeiht Winnie, junge Herrin! Winnie wollte Euch nicht erschrecken, junge Herrin!"
„Du bist tot! Du bist tot!", keuchte Agnes und wich noch weiter zurück, „Bei Rowena, du bist tot!"
„Natürlich, junge Herrin!" Noch nie hatte Agnes etwas so seltsames gesehen, wie Winnie, wie sie ihren Kopf in ihren Händen hielt und dabei ihre Wangen etwas zusammendrückte – und Agnes hatte Georges Lieblingsstein gesehen, der zufällig die Form von einem Niffler hatte.
„Bitte sagt mir, dass ihr das auch seht", bettelte Agnes schon beinahe und sah Sirius und Bartolomäus panisch an.
„Ich weiß nicht mehr, was ich sehe", bemerkte Bartolomäus müde, „Ich hätte wohl die Therapiestunden besuchen sollen, als die Chance dazu hatte..."
„Soll Winnie wieder gehen?", fragte Winnie und klang furchtbar enttäuscht, „Winnie hat das Gefühl, dass die junge Herrin sich nicht freut, sie zu sehen."
„Oh, nein, nein, nein", lehnte Agnes schnell ab und fühlte sich sofort schlecht, „Ich... ich habe nur nicht erwartet, dich jemals wieder zu sehen."
Winnie lächelte – oh, was hätte Agnes dafür gegeben, das lieber nicht zu sehen... warum trug Winnie ihren Kopf in ihren Händen? „Winnie hat auch gedacht, sie würde die junge Herrin nicht mehr sehen, aber Winnie ist froh, die junge Herrin zu sehen!"
„Du bist ein Geist", bemerkte Agnes.
„Das fällt dir ziemlich früh auf", spottete Sirius sarkastisch, „Ich meine... du bist mehr oder weniger umgeben von Geistern aufgewachsen... dein Professor für Geschichte ist ein Geist... es gibt Hausgeister in Hogwarts–"
„Danke, Sirius", unterbrach Agnes ihn, „Bitte zerstör mir diesen kurzen Moment der ignoranten Dummheit nicht!"
„Die junge Herrin ist so erwachsen geworden", sagte Winnie begeistert und trat einen Schritt auf Agnes zu, die einen Moment lang das Bedürfnis hatte, zurück zu weichen, aber das hier war Winnie – eine geisterhafte, tote Winnie, die ihren Kopf trägt, als wäre es ein Haufen mit Wäsche – aber trotzdem noch Winnie, die Hauselfe, die Agnes aufgezogen hatte.
„Warum bist du noch hier, Winnie?", fragte Agnes sanft, „Warum bist du nicht weiter gegangen?"
Nun sah Winnie sehr traurig aus – oder nachdenklich. „Winnie kann nicht gehen, junge Herrin", gestand Winnie traurig, „Winnie wollte, aber es geht nicht... Die Herrin hat Winnie nicht begraben."
„Nicht begraben?", wiederholte Agnes, „Aber... wo ist dann..."
„Es ist schon in Ordnung, junge Herrin", versprach Winnie und versuchte zu lächeln, wie damals, als sie Agnes gesagt hatte, dass es in Ordnung war, sie umzubringen, um selbst nicht verletzt zu werden, „Winnie hat sich um das Haus gekümmert. Winnie kann noch immer putzen und hält alles sauber!"
„Das hast du sehr gut gemacht, Winnie", versprach Agnes lächelnd, „aber willst du nicht lieber weitergehen? Willst du nicht wissen, was danach kommt?"
„Winnie ist froh, dass sie hier geblieben ist", gestand Winnie heiter, „So hat Winnie noch einmal die junge Herrin gesehen! Winnie hat nicht gewusst, was mit der jungen Herrin passiert ist. Ihr seid auf einmal weg gewesen, als Winnie aufgewacht ist. Winnie hat sich Sorgen um sie gemacht, aber jetzt ist die junge Herrin zurückgekommen!"
„Ich... ich bin auch froh, dass du noch hier bist", stammelte Agnes und Tränen sammelten sich in ihren Augen, „Ich... es tut mir so leid, Winnie."
Sirius schien das als ein Zeichen zu sehen, dass es Zeit war, zu gehen. „Komm, Barto, wir lassen die beiden Ladies alleine – bestimmt finden wir in diesem Haus noch irgendetwas gruseliges, das uns in der Zwischenzeit beschäftigt."
„Sollte ich mir Sorgen machen?", fragte Bartolomäus – und wahrscheinlich sollte er sich wirklich Sorgen machen, immerhin zog Sirius ihn am Arm aus dem Raum, aber gleichzeitig wehrte er sich nicht dagegen.
„Was tut Euch leid, junge Herrin?", fragte Winnie und sah Agnes erschrocken an, „Hat Winnie etwas falsches gesagt?"
„Nein, nein", Agnes wischte sich über die Augen, aber es verhinderte nicht, dass eine Träne über ihre Wange rann, „Es tut mir so leid, dass ich dich umgebracht habe, Winnie."
Winnie lächelte. „Es gibt keinen Grund, Euch zu entschuldigen, junge Herrin", versprach die Hauselfe, „Winnie ist gerne für die junge Herrin gestorben!"
„Nein, nein!", lehnte Agnes ab, „Das ist nicht richtig! Niemand sollte für mich sterben müssen! Besonders nicht du! Du bist immer gut zu mir gewesen und ich habe dich umgebracht."
Winnie sah Agnes traurig an, bevor sie zu ihr ging und sich zu ihr auf den Boden setzte, ihren Kopf auf ihren Schoß legte und vorsichtig eine Hand nach Agnes ausstreckte. Es war ein seltsames Gefühl, von einem Geist berührt zu werden – so kalt und seltsam, aber trotzdem wusste Agnes, dass Winnie es nur gut meinte und das reichte Agnes schon.
„Winnie bereut vieles in ihrem Leben", gestand Winnie seltsam ruhig, „Winnie bereut, dass sie die junge Herrin nicht einfach genommen hat und sie weggebracht hat – weg von der Herrin und den Schmerzen. Winnie bereut auch, dass sie nicht lange genug geblieben ist, um der jungen Herrin noch länger beiseite zu stehen. Die junge Herrin hat Schmerzen erlitten...", Winnie strich mit ihrer Hand über die Narben in Agnes' Gesicht und Agnes erschauderte leicht unter ihrer Kälte, „...Winnie bereut, dass sie die junge Herrin nicht länger beschützen konnte. Winnie bereut, dass sie der jungen Herrin nie etwas gegeben hat –"
„Du hast mir sehr viel gegeben", unterbrach Agnes sie und wischte sich eine Träne von der Wange, „Du hast mich aufgezogen. Du hast mir Liebe geschenkt!"
Winnie lächelte. „Winnie bereut vieles", fuhr sie fort, „Aber Winnie bereut nicht, für die junge Herrin gestorben zu sein. Jetzt ist die junge Herrin eine wunderschöne Frau geworden. Sie hat es geschafft, sich selbst von der Herrin zu befreien. Und Winnie ist so stolz auf die junge Herrin."
„Ich wünschte, ich hätte dich niemals in diese Schwierigkeiten gebracht", gestand Agnes schluchzend, „Wenn ich irgendetwas in meinem Leben ändern könnte, dann würde ich dich niemals dazu bringen, mit mir zu spielen! Ich hätte auf dich hören sollen, aber ich war so dumm! Dumm! Dumm!" Agnes schlug ihre Hand gegen ihren Kopf und weinte, aber Winnie legte ihre Hand irgendwie auf ihre Schulter und diese Kälte ließ sie ruhiger werden.
„Nein, junge Herrin", wisperte Winnie und lächelte traurig, „Sagt das nicht. Ihr ward noch ein Kind."
„Ein dummes Kind."
Winnie lächelte und nickte. „Vielleicht, aber Ihr habt aus Euren Fehlern gelernt."
Kurz war es still und Agnes wischte sich über die Augen, um die Tränen weg zu wischen. „Weißt du, Winnie...", begann sie und lächelte bei der Erinnerung, „Ich habe bisher viele Hauselfen kennengelernt und sie sind immer die einzigen gewesen, die mich wirklich niemals enttäuscht haben. Tinky, in Hogwarts – sie hat mir das Backen beigebracht und... Tonky... sie hat mir das Leben gerettet..."
„Es freut Winnie, das zu hören", gestand Winnie, „Die junge Herrin braucht Hilfe im Leben – nicht einmal sie kann alleine alles durchstehen."
„Wie kann ich dir helfen?", fragte Agnes plötzlich, „Du hast alles für mich gegeben – lass mich den Gefallen erwidern!"
„Winnie ist froh, dass die junge Herrin Winnie gefunden hat", versprach Winnie, „Winnie wäre aber überglücklich, wenn die junge Herrin ihr die Ehre erweisen würde, Winnie zu begraben."
„Natürlich." Agnes musste nicht einmal einen Moment darüber nachdenken, „Wo bist du?"
„Folgt mir, junge Herrin", bat Winnie zu und nahm ihren Kopf wieder in die Hände, stand auf und verschwand einfach durch die Tür – immerhin war sie ein Geist.
Agnes beeilte sich, ihr zu folgen – und musste dafür die Tür sogar ganz altmodisch öffnen - und fand die geisterhafte Hauselfe auf dem Gang wieder.
„Folgt mir, junge Herrin!", rief Winnie ihr zu und verschwand im nächsten Raum und Agnes beeilte sich wieder, sie einzuholen, stockte aber, als sie die Tür erkannte.
Das war ihr Zimmer gewesen. Sie atmete tief durch und öffnete die Tür. Der Raum dahinter war noch immer genauso, wie sie ihn in Erinnerung hatte und das machte ihr Angst.
Das Bett, auf dem Winnie und sie herumgesprungen waren, als Agnolia sie erwischt hatte und die Tragödie ihren Lauf genommen hatte; die Kästen, die kaum Spielsachen beinhaltete, da Agnolia es nie für nötig empfunden hatte, sich um Agnes zu kümmern und ihr Spaß und Spiele zu gönnen; der Kleiderschrank, in dem ihre Kinderkleidung lag.
Und dort – am Boden – lag Winnie.
Ein kleines Skelett, lieblos auf dem Boden geworfen und die Knochen lagen in einem kleinen Haufen übereinander; der Kopf lag am anderen Ende des Zimmers.
Agnes stockte und sah auf das Skelett, aber irgendwie kümmerte es Agnes kaum, das Skelett zu sehen. Es war einfach nur eine weitere Leiche...
Agnes zückte ihren Zauberstab und ließ wortlos die Knochen in die Luft schweben. Winnie beobachtete sie dabei und schwebte dabei neben ihr in der Luft, während Agnes mit den Knochen in der Luft den Raum wieder verließ.
Im unteren Stockwerk saßen Sirius und Bartolomäus auf dem Boden im Gang und wartete wohl auf sie, aber als Agnes mit einem Skelett nach unten kam, war das wohl etwas ungewöhnlich.
Sirius öffnete den Mund, um etwas zu fragen, als Agnes einfach an ihnen vorbei nach draußen ging, aber er wusste nicht einmal, was er fragen sollte. Hilfesuchend sah er zu Bartolomäus, der aber so aussah, als würde er schon lange nichts mehr hinterfragen. Er war keine große Hilfe.
Sirius rappelte sich also auf und folgte Agnes nach draußen und sah noch, wie sie magisch einfach ein Loch aushob. Die Erde flog in die Luft und die Knochen legten sich in das entstandene Loch – ins Grab. Die Erde legte sich wieder an ihre Stelle und Agnes ließ ihren Arm sinken.
Erst da bemerkte Sirius, dass der Geist der Hauselfe neben Agnes war – kaum sichtbar im Sonnenlicht, aber wenn man sich konzentrierte, war es offensichtlich, dass sie da war und lächelte.
„Danke, junge Herrin", hauchte Winnie und Agnes lächelte.
„Nein, Winnie", Agnes schüttelte den Kopf, „Ich danke dir Winnie. Und du kannst mich gerne Agnes nennen."
Winnie lächelte und Tränen sammelten sich in ihren Augen. „Danke, ju– ich meine... A-Agnes."
Langsam schien Winnie zu verschwinden, aber Agnes lächelte nur und war glücklich darüber – sie hoffte, dass bedeutete, dass Winnie weitergehen konnte ins nächste Leben.
„Auf Wiedersehen, Winnie", hauchte Agnes, „Ich bin froh, dass du meine Freundin gewesen bist."
„Und Winnie ist froh, dass Agnes ihre Freundin ist", waren Winnies letzte Worte, bevor sie vollkommen verschwunden war und man nichts mehr von ihr sah.
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