108. Kapitel
Es hatte etwas seltsam beruhigendes, das ehemalige Anwesen der Tripes zu sehen.
Es war ein großes Haus mit dunklen Wänden im viktorianischen Stil und großen Fenstern, an die Agnes sich nicht mehr erinnern konnte.
Die Erinnerungen an das Haus waren kaum vorhanden, obwohl Agnes wusste, dass sie in genau diesem Haus geboren worden ist.
Eigentlich hatte sie erwartet, dass schreckliche Erinnerungen zurückkommen würden, aber das taten sie nicht. Stattdessen stand Agnes vor dem Haus und fühlte eine seltsame Schadenfreude. Die Farbe an den Wänden war an vielen Stellen abgeblättert und Witterung, Wetter und das Alter des Hauses zusammen mit dem Fehlen an Bewohnern hatte dazu geführt, dass es ziemlich hässlich war. Dazu war auch noch Graffiti an vielen Stellen angebracht worden und Agnes erkannte nicht nur seltsame Sprüche und hässliche Kunstwerke von Muggel, sondern auch Zauberer schienen sich an den Wänden verewigt zu haben und hatten ihren Hass gegen die Todesser durch eingebrannte Flüche und Sprüche kundgetan. Viele Fenster waren mit Holzbrettern zugenagelt worden und jene, die es nicht waren, waren zerbrochen – vermutlich durch Steine, die Nachbarskinder durchgeworfen hatten. Es war ein dunkles, verlassenes Haus, das Agnes niemals als das ehemals stolze Anwesen der Familie Tripe erkannt hätte, wenn sie nicht genau gewusst hätte, dass es dort stand. Als Agnes nach London gekommen war und nur ungefähr eine Stunde entfernt von diesem Gebäude ins Waisenhaus gesteckt worden war, hatte sie in den Jahren dort oft darüber nachgedacht, sich das Haus anzusehen, aber sie hatte es nie getan. Etwas außerhalb von London, einst fern von Muggeln, aber in den letzten Jahren waren viele neue Häuser in der Gegend gebaut worden und die schönen, hellen, freundlichen, modernen Häuser in der Straße standen in einem starken Kontrast zu dem alten, verwitterten Haus, das so fehl am Platz wirkte, wie Agnes es sich gewünscht hatte. Die Tripes waren in dieser Straße nicht mehr willkommen. Sie waren Ausgeschlossene in ihrem eigenen zu Hause.
„Es ist niemand hier", sagte Agnes mehr zu sich selbst, als zu Sirius, der stumm neben ihr stand und ebenfalls am Haus hochblickte.
„Bist du sicher?", fragte Sirius misstrauisch und sah sich um, „Es könnte sein, dass diese verdammten Todesser es als ein Versteck benutzen."
„Nein, keine Gerüche", bemerkte Agnes, „Jeder Geruch hier ist alt. Niemand ist hier gewesen – jedenfalls niemand, den ich erkenne."
„Ich sollte mir auch so einen Geruchssinn zulegen", bemerkte Sirius, „Willst du es von innen sehen?"
Agnes wusste nicht, ob sie es von innen sehen wollte, aber dann nickte sie sicher. Sie hoffte, dass es innen noch schlimmer aussehen würde, als außen.
Agnes ging vor zu der Haustür. Sie war mit Brettern zugenagelt, aber nachdem sie sich umgesehen hatten, ob sie jemand beobachtete, waren die Bretter mit einem Zauber schnell entfernt. Die Tür klemmte, aber Agnes trat sie einfach ein und die alte, morsche Tür splitterte dabei. Das Schloss wurde herausgerissen und hinterließ ein großes Loch in der Tür selbst, aber das interessierte Agnes nicht.
Es war dunkel, aber Agnes konnte trotzdem noch genug sehen, um ins Haus zu gehen, während Sirius ihr eher zögerlich folgte. Es war Nacht draußen und nicht einmal Sonnenlicht konnte ihm den Weg leuchten, aber Agnes packte ihn am Arm und zog ihn sicher mit sich mit ins Innere des Hauses, in dem sie geboren worden war.
Es war dreckig und der Staub, den sie mit ihren Schritten aufwirbelte, stach in ihrer Nase, aber trotzdem lächelte Agnes leicht, als sie sah, dass auch innen die Tapeten an den Wänden abblätterten, die Möbel zusammengebrochen oder verstaubt waren und es absolut verlassen und hässlich war.
Ein Bild war von seinem Platz an der Wand auf den Boden gefallen und Scherben lagen darum herum, aber trotzdem bückte Agnes sich, um es aufzuheben und sie sah einen Moment lang auf das Gemälde, das geschützt hinter Glas gewesen war, bis die Jahre es doch noch zerstört hatten.
Es war ein Familiengemälde und es zeigte einen Mann, eine Frau und einen Säugling in ihrer Mitte. Die Erwachsenen sahen ernst und schon beinahe unglücklich den Betrachter an, aber das Baby in den Armen des Vaters schlief ruhig.
Das Gemälde zeigte Tristus und Agnolia Tripe und das Baby in der Mitte... das war sie.
Eine Glasscherbe hatte die Leinwand dahinter zerschnitten und Agnes grinste, als sie sah, dass sie genau Agnolias Gesicht zerstört hatte.
Achtlos ließ Agnes das Bild wieder fallen und die Scherben knirschten unter ihren Schuhen, als sie darüber ging und weiter ins Haus hinein.
Sie blickte in verschiedene Räume, aber diese waren ebenso wie der Gang alt, verstaubt und zerstört. Es gab kaum noch Anzeichen dafür, dass dort die Familie Tripe gelebt hatte, bis der Dunkle Lord besiegt worden war und sie fliehen mussten.
Zusammen stiegen sie die Treppen am Ende des Ganges nach oben und untersuchten davor immer, ob diese auch nicht unter ihrem Gewicht einbrechen würden und jene, die besonders gefährlich knarzten, übersprangen sie einfach. Das Geländer war zusammengebrochen und lag in Splittern und Holzstücken auf der Treppe und darunter herum.
Oben war noch mehr Zerstörung zu sehen, als es im unteren Stock der Fall gewesen war und Agnes wusste auch, warum.
„Die Auroren sind hierher gekommen, nachdem sie angefangen haben, die Todesser aufzuspüren", erklärte Agnes ruhig und sah sich um, „Mein Vater hat versucht, gegen sie zu kämpfen, aber meine Mutter hat gewusst, dass sie in der Unterzahl sein werden, als sie ins Haus eingedrungen sind und ist mit mir geflohen. Sie hat Tristus zurück gelassen und ihn allein mit den Auroren fertig werden lassen... ich denke nicht, dass sie das jemals bereut hat."
„Deine Eltern schienen eine wirklich gesunde Beziehung zu führen", bemerkte Sirius trocken und sah sich noch einmal genauer um, „Du bist da gerade einmal drei Jahre alt gewesen, oder?"
„Ich wundere mich, warum Agnolia mich mitgenommen hat", überlegte Agnes, „Eigentlich hat sie mich gehasst – schon immer. Ich glaube, dass nicht sie mich mitgenommen hat, sondern Winnie, unsere Hauselfe. Agnolia hat sie mitgenommen, damit sie noch immer eine Bedienstete hat, wenn sie auf der Flucht ist."
„Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn sie das nicht getan hätte", bemerkte Sirius leise, „Du hättest dir viel Schmerz ersparen können."
„Winnie hat mich mehr oder weniger aufgezogen", seufzte Agnes, „Sie hat sich um mich gekümmert von dem Moment an, an dem ich geboren worden bin und Agnolia erfahren hat, dass ich kein Junge bin... ich denke nicht, dass sie in der Lage gewesen wäre, mich einfach der Zerstörung auszusetzen, wenn sie eine solche Bindung mit mir gehabt hat."
„Nein, vermutlich nicht", stimmte Sirius ihr leise zu, „aber es wäre trotzdem besser gewesen..."
Agnes zuckte nur wortlos mit den Schultern und betrat den Raum, der ihnen am nächsten lag.
Es war ein Schlafzimmer, aber Schimmel hatte die Matratze und die Kissen verrotten lassen und durch ein großes Loch in der Decke konnte man den dunklen Himmel sehen.
„Das Schlafzimmer meiner Eltern", bemerkte Agnes, obwohl sie den Raum nicht wiedererkannte, „Ich glaube aber nicht, dass Tristus und Agnolia sich ein Bett geteilt haben... vermutlich hat Tristus auf der Couch schlafen dürfen."
„Ich kann mir nicht vorstellen, dass Agnolia es irgendwie anders gewollt hätte", sagte Sirius dazu nur.
Was Agnes aber nicht wusste, war, dass das der Raum war, in dem sie geboren worden war.
Es war schon viele Jahre her – beinahe zwei Jahrzehnte, als Agnolia Tripe unter Schmerzen auf dem Bett gelegen hatte, nur mit Winnie der Hauselfe an ihrer Seite.
Tristus hatte sie hinausgeschickt, obwohl Tristus nur allzu gerne dabei gewesen wäre, wenn sein Kind das Licht der Welt erblickte.
Aber Agnolia hatte nicht gewollt, dass ihr verhasster Ehemann sie unter solchen Schmerzen sah. Es war eine schwierige Geburt gewesen – Agnes war ein paar Wochen zu früh dran und Agnolia biss ihre Zähne so fest zusammen, dass ihr Kiefer schon schmerzte, aber sie wollte ihrem Ehemann nicht hören lassen, wie sehr ihr ganzer Körper schmerzte.
Die Geburt dauerte Stunden – Stunden unter Schmerzen, die Agnolia aber unterdrücke und niemals auch nur einen Laut von sich gab, außer ihrem keuchenden Atem, den sie nicht kontrollieren konnte, von dem sie aber hoffte, dass Tristus es nicht hören konnte, der vor der Tür nervös und besorgt wartete.
Winnie war ausgebildet darin, bei der Geburt von Kindern zu helfen und bewahrte Ruhe, selbst als Agnolia mehrmals nach ihr ausholte und sie schlug, um ihre Frustration freien Lauf zu lassen. Winnie blieb ruhig und konzentrierte sich darauf, das Kind zu retten und obwohl Winnie das niemals laut hätte sagen können und sich später auch selbst für diese Gedanken bestraft hatte, so musste die Hauselfe doch zugeben, dass es ihr egal war, ob ihre Herrin überlebte, solange das Kind alles überstand.
Es war beinahe Mitternacht, als die Stille des Hauses von dem Geschrei eines Neugeborenen unterbrochen wurde und Tristus sah von seinem Platz am Boden auf. Er saß direkt neben der Tür die zu dem Raum führte, in dem sein Kind geboren wurde und als er das Schreien hörte, atmete er erleichtert auf und stand auf, wischte sich schnell seine Kleider sauber und wartete darauf, dass man ihn ebenfalls ins Innere ließ, aber er musste noch ein paar Minuten länger warten, bis schließlich Winnie die Hauselfe die Tür öffnete, ein winziges Baby in den Armen, das die Augen geschlossen hatte. Es war eingewickelt in Tüchern und noch nass nach der Geburt, das Gesicht etwas rot aber schon jetzt fand Tristus das Kind bildschön. Auf dem Kopf konnte man schon erste weißblonde Haaransätze sehen und Tristus hoffte, dass das Kind die wundervollen Haare seiner Frau geerbt hatte.
„Es ist ein Mädchen, Herr", quiekte Winnie und schien sich nur schwer ein Lächeln im Gesicht verkneifen zu können.
Für einen Moment – einen winzigen Moment lang – verschwand das Lächeln aus Tristus Gesicht. Es war ein Mädchen. Kein Junge, der den Namen der Familie weitertragen konnte. Kein Junge, der der Familie Stolz und Macht bringen würde.
Aber dann gähnte dieses winzige Wesen in den Armen der Hauselfe und Tristus lächelte wieder breit. Das war seine Tochter – seine winzige, wunderschöne Tochter. Unsicher hielt er die Arme auf und wartete geduldig darauf, dass die Hauselfe den Säugling in seine Arme platzieren würde und Winnie tat das, wenn auch leicht zögerlich.
Das Kind war so leicht, wie eine Feder und Tristus konnte ihr Gewicht kaum spüren, aber als er mit seinem Daumen die Decke zurechtrückte, spürte er einen Herzschlag, wie der von einem kleinen, verletzlichen Vogel.
Tristus wusste nicht, wie man mit einem Baby umging, aber er hielt den Kopf des Kindes so, wie Winnie es getan hatte und wagte kaum zu atmen aus Angst, er könnte diesem winzigen, kleinen Ding wehtun.
Tristus lächelte auf seine Tochter hinab. Seine Tochter.
Dann blickte er auf und lächelte seine Frau an, aber diese lächelte nicht zurück, sondern sah nur unzufrieden auf das Kind in Tristus Armen... vielleicht sah sie auch nur Tristus unzufrieden an.
„Agnolia", sagte Tristus leise, um das Baby nicht zu wecken, „Unser Kind."
„Ein Mädchen", schnaubte Agnolia abfällig, „Wertlos für die Gesellschaft – wertlos für mich."
Tristus zuckte leicht zusammen und weckte damit das Mädchen in seinen Armen, die sofort die Augen aufschlug – sie waren blau. Blinzelnd sah das Kind in seinen Armen ihn an, gähnte wieder und schloss erschöpft wieder die Augen. Agnolia schien das Kind nicht zu mögen, aber Tristus hatte mit so etwas schon gerechnet, immerhin hasste seine Frau ihn auch. Aber wenn Agnolia das Mädchen nicht lieben würde, dass würde er das eben tun.
„Wollt Ihr sie füttern, Herr?", fragte Winnie vorsichtig und hielt ihm eine schon vorbereitete Flasche hin, als hätte sie schon damit gerechnet, dass Agnolia das Baby nicht säugen würde.
Tristus nahm wortlos die Flasche entgegen, aber als er etwas ratlos aussah, zeigte Winnie ihm geduldig, wie man ein Baby fütterte und obwohl Agnes die Augen geschlossen hielt, trank sie gierig die Milch.
Tristus hielt sie nahe an sich und lächelte, als dieses winzige Ding wenigstens ein bisschen trank, bevor sie wohl zu erschöpft dafür war und wieder einschlief. Winnie sah das Baby besorgt an – das war nicht genug gewesen, aber nach dieser Geburt war der Säugling bestimmt auch müde und erschöpft.
„Weißt du schon, wie wir sie nennen werden?", fragte Tristus seine Frau und hoffte auf einen Hauch von Zuneigung.
„Nein", sagte Agnolia nur kühl.
Kurz zögerte Tristus. „Wie wäre es mit Agnolia?", schlug er vor, aber der hasserfüllte Blick seiner Frau sagte ihm sofort, dass sie nicht wirklich damit einverstanden war.
„Wir nennen sie bestimmt nicht nach mir", schnaubte Agnolia bestimmt.
„Wie wäre es mit Agnes?", schlug Tristus vor und strich mit seinem Finger über die winzige Wange seiner Tochter. Agnes war dem Namen „Agnolia" ähnlich genug und wenn seine Frau sie schon nicht nach sich selbst benennen wollte, dann wenigstens mit einem ähnlichen Namen.
Agnolia sah nicht zu hundert Prozent zufrieden aus, nickte dann aber steif. „Na gut... also Agnes Bellatrix Tripe."
„Bellatrix?", wiederholte Tristus, „Du willst sie nach deiner Schwester benennen?"
„Natürlich", bestimmte Agnolia, „Dieses Ding ist jetzt schon schwach – ein starker Name und eine starke Patin wird sie vielleicht stark machen."
Tristus mochte Bellatrix nicht wirklich, aber Agnolia hatte sich auch mit „Agnes" abgefunden, also konnte er kaum etwas dagegen sagen.
„Na gut", nickte Tristus besiegt, „Agnes Bellatrix Tripe... meine kleine Agnes."
„Ich denke, ich habe genug gesehen", bestimmte Agnes und ohne auf Sirius zu warten, verließ sie den Raum und stieg die Treppen wieder hinunter.
Die Luft draußen war kühl und frisch im Gegensatz zu der im Haus, die voller Staub und dem Geruch von Schimmel gewesen war.
Agnes hegte absolut keine Sentimentalitäten zu dem Haus und als sie mit Sirius an ihrer Seite ging, drehte sie sich kein einziges Mal um, um es noch ein letztes Mal zu sehen.
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